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Vignette

Während Bess auf der Piccadilly nach Osten ging, in Richtung Soho, schossen ihr die Gedanken wie Sternschnuppen durch den Kopf, hell aufleuchtend, aber ohne erkennbares Ziel und nach kurzer Zeit verloschen, als hätte es sie nie gegeben. Doch je näher sie Covent Garden kam und je vertrauter ihr die Gegend wurde, in der sie in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in London gewohnt hatte, desto weniger achtete sie auf ihre Umgebung, und desto deutlicher und fassbarer wurden ihre Gedanken.

Als sie schließlich die Maiden Lane betrat, in der sich das vornehmere der beiden Hurenhäuser von Mutter Needham befand, kam ihr ein seltsamer Vergleich in den Sinn. Bess hatte nie ganz verstanden, mit welchem Recht sich die Künstler für etwas Besseres hielten und worauf sie ihren Dünkel und ihre Selbstgefälligkeit gründeten. In Bess’ Augen waren sie nichts weiter als männliche Huren, die sich für Geld oder Gefälligkeiten verkauften. Burlington House war in gewisser Weise ein Hurenhaus der Künste, mit dem Grafen von Burlington als Kuppler und Hehler, und auch in Cannons House war es nicht anders gewesen. Der dortige Herzog von Chandos, ein unvorstellbar reicher und ebenso freigiebiger Mann, hatte sich seine Dichter, Maler und Musiker genauso gehalten, wie er die Mätressen und Geliebten um sich geschart hatte. Doch während die Mistresses (egal ob wohlhabende Madams oder besitzlose Mägde) sich ihrer niederen Position zumeist bewusst waren und nur heimlich oder bei Nacht in Erscheinung traten, ließen sich die Künstler hofieren, als wären nicht sie es, die wie Bettler von der Hand in den Mund lebten, sondern als täten sie dem Herzog einen unschätzbaren Gefallen, wenn sie sich von ihm aushalten ließen. Manche von ihnen hatten überhaupt kein eigenes Zuhause, sondern wanderten von einem Förderer und Gönner zum nächsten, stets darauf bedacht, kein Geld für Unterkunft oder Kost aufbringen zu müssen. Parasiten mit Schreibfeder oder Musikinstrument.

Bess war damals Dienstmagd in Cannons gewesen und hatte einige dieser eingebildeten Pinsel erlebt, die sich wie selbstherrliche Könige aufführten und meist nur untereinander verkehrten, in sogenannten Zirkeln oder Clubs, die sie wie Geheimbünde pflegten. Den Umgang mit dem gewöhnlichen Volk mieden sie wie die französische Krankheit. Dabei waren sie längst von einer Seuche befallen, die nach Bess’ Meinung viel schlimmer war als die Syphilis: Erbärmlichkeit!

Einer dieser Künstlerzirkel nannte sich »Scriblerus Club« und bestand unter anderem aus den drei befreundeten Schriftstellern Alexander Pope, John Arbuthnot und John Gay. Hin und wieder trafen sie sich im zehn Meilen nördlich von London gelegenen Cannons House, dem angeblich schönsten und teuersten Herrenhaus in ganz England, und weil sie darauf bestanden, dass Bess, die damals noch Elizabeth genannt wurde, sie während ihrer Treffen mit Speisen und Alkohol versorgte, erhielt sie eine besondere und eigenartige Lektion darin, was man gemeinhin unter den schönen Künsten verstand. Es war vor allem der jüngste von ihnen, Mr. Pope, der keine andere Dienstmagd akzeptierte und geradezu darauf versessen war, von Elizabeth bedient zu werden, allerdings nur, um sie dabei mit seinen Blicken zu verschlingen und mit seinen knochigen Fingern zu betatschen.

Mr. Alexander Pope war der wohl hässlichste und jämmerlichste junge Mann, den Elizabeth je zu Gesicht bekommen hatte. Er war kleinwüchsig, keine fünf Fuß groß, und hatte stets entzündete Augen, die in seinem milchweißen Gesicht wie leuchtende Furunkel aussahen. Das Schlimmste aber war sein verkrüppelter Rücken. Sein Rückgrat war verbogen wie eine Uhrfeder und endete unterhalb des Kopfes in einem riesigen Buckel, mit dem er auf jedem Jahrmarkt hätte auftreten können. Doch trotz seines abstoßenden Äußeren war dieser Mr. Pope zugleich der selbstgefälligste und eitelste Mensch, den Elizabeth in ihren damals sechzehn Lebensjahren getroffen hatte. Er plusterte sich vor ihr auf, zierte sich wie eine Opernsängerin und hielt lange und verschnörkelte Lobreden auf ihre Schönheit, ihre Weiblichkeit und ihre Jungfräulichkeit, während er ihr gleichzeitig unter die Röcke griff und sich nichts sehnlicher zu wünschen schien, als ihr ebendiese Jungfräulichkeit zu nehmen. Wäre Mr. Gay seinem widerlichen Freund, der zudem den Alkohol nicht vertrug, nicht manches Mal in die Hand gefallen, so hätte Mr. Pope sich vermutlich an ihr vergangen, wenn er sich gegen Elizabeth hätte behaupten können.

Das dritte Mitglied des Clubs war eigentlich Arzt und Mathematiker und wurde von den anderen stets nur »Doktor« genannt. Dr. Arbuthnot war der Älteste von ihnen und unterschied sich von seinen Mitstreitern darin, dass er keine Gedichte über die Anmut der Frauen oder Hymnen auf die Schönheit der Natur schrieb, sondern über alles lästerte und jeden herzog, der ihm unter die Augen kam. Ihm schien die ganze Welt zuwider zu sein, und diesen Widerwillen verbarg er hinter abfälligem Lachen und süffisantem Grinsen. Wenn er den Mund auftat, so konnte man sicher sein, dass eine humorvoll gestaltete Gemeinheit herauskam. Aber wenigstens ließ er Elizabeth in Ruhe, ja er schien sie nicht einmal zu bemerken, wenn sie ihm Wein nachgoss oder die angetrocknete Bratensoße vom Kinn tupfte.

Immer wieder nahmen weitere Freunde und Kollegen an den Treffen der Scribler teil. Zu diesen Freunden zählte auch Johann Christoph Pepusch, und obwohl er Musiker und kein Dichter war, schien er ein gern gesehener Gast bei den Treffen in Cannons House zu sein. Mr. Pepusch war Deutscher und arbeitete als Kapellmeister in Whitchurch, der Kirche von St. Lawrence. Diese Kirche, nur einen Steinwurf vom Herrenhaus entfernt, hatte der Herzog von Chandos vor einigen Jahren für viel Geld und mit ebenso viel Liebe herrichten lassen. Die Wände und Decken waren von italienischen Malern bepinselt, die Umbauten von namhaften Architekten durchgeführt und der aufwendig gestaltete Altarraum mit einer herrlichen Orgel ausgestattet worden. Und damit der Herzog in der sonntäglichen Messe nicht immer das Gleiche zu hören bekam, hatte er einen deutschen Kapellmeister und Komponisten engagiert, der ihm in regelmäßigen Abständen ein neues Musikstück zu arrangieren und zu präsentieren hatte.

Wie fast alle Deutschen, die Elizabeth in Cannons oder auch später in den Diensten von Mutter Needham erlebt hatte, war Mr. Pepusch mürrisch, maulfaul und vollends humorlos. Und vielleicht war es gerade das, was ihn bei den lärmenden und lästernden Dichtern so beliebt machte. Mr. Pope konnte sich hinsichtlich seines scharfen Geistes überlegen fühlen, Mr. Gay schien den spröden Deutschen wie ein interessantes und seltenes Insekt zu studieren, und Dr. Arbuthnot hatte anschließend ausreichend Material für seinen beißenden Spott. Mr. Pepusch schien sich daran nicht zu stören, ja er lachte sogar über die Witze, die auf seine Kosten gemacht wurden. Vielleicht weil er sie schlichtweg nicht verstand.

Der Herzog von Chandos hatte jedoch nicht nur einen Kapellmeister in seinen Diensten, sondern auch die dazugehörige Kapelle samt Chor, welche die sonntäglichen Messen in der Hauskirche von Whitchurch begleiteten und gestalteten. Elizabeth verstand nicht viel von Musik und von Kirchenmusik noch weniger, aber wenn sie in der schmalen Gesindeloge saß, gleich neben der herrschaftlichen Loge auf der Empore über dem Eingang, und den Klängen der Instrumente und Stimmen lauschte, dann ging ihr das Herz über, und sie fühlte sich Gott so nah, wie es der Komponist gewesen sein musste, als er diese Musik erschaffen hatte. Der Lobgesang »Te Deum Laudamus«, der immer ein Höhepunkt der Messe war, verursachte ihr in regelmäßigen Abständen eine Gänsehaut und ließ sie nicht selten die erhabenen Worte mitflüstern: »Dich, Gott, loben wir. Dich, Herr, preisen wir.«

Ihr Mann Matthew, obwohl Küster von St. Lawrence und entfernt verwandt mit Reverend Gunn, dem Vikar der Gemeinde, konnte mit ihrer Begeisterung für das herzogliche Orchester wenig anfangen und verfolgte ihre Hinwendung zur Kirchenmusik mit Skepsis und Argwohn. Matthew Lyon war ein herzensguter, aber schlicht gestrickter Kerl, den Elizabeth im jungen Alter von sechzehn Jahren geheiratet hatte, schlicht weil er der Erste gewesen war, der um ihre Hand angehalten hatte. Sie hätte vermutlich jeden Freier akzeptiert, der sie aus dem beengten Elternhaus befreite. Und aus der Sicht der Eltern war er eine gute Partie. Matthew war zehn Jahre älter als Elizabeth, kannte die Familie des Tagelöhners Woodlawn seit seiner Kindheit und hatte Elizabeth im Sommer 1720 die Stelle als Dienstmagd in Cannons verschafft – vermutlich um sie in seiner unmittelbaren Nähe zu haben. Dass sie wenig später heirateten, war in gewisser Weise naheliegend und letztlich der gebührende Dank für ihre Befreiung.

Elizabeth konnte zwar nicht behaupten, je in Matthew verliebt gewesen zu sein, aber davon abgesehen, konnte sie nichts Nachteiliges über ihn sagen. Er schlug sie nicht, trank nicht, fluchte nie und ließ ihr in den meisten Dingen ihren Willen. Nur dass sie so häufig in der Kirche herumschlich, um heimlich von der Empore aus die Proben des Orchesters zu belauschen, wollte ihm nicht gefallen und führte oftmals zu Streitereien. Er behauptete, als Kirchendiener müsse er darauf achten, dass die Proben in Whitchurch störungsfrei verliefen. So laute der ausdrückliche Befehl des Herzogs. Vielleicht ahnte Matthew aber auch, dass Elizabeths plötzliche Liebe zur Musik einer Vorliebe für ein bestimmtes Instrument entsprang. Oder besser gesagt, ihrer Vorliebe für den Virtuosen, der dieses Instrument so meisterlich beherrschte.

Albrecht Niemeyer war Oboist in Mr. Pepuschs Kapelle und galt als einer der begnadetsten Holzbläser, den es in jener Zeit in London zu bewundern gab. Angeblich hatte sich der Herzog höchstselbst derart bewundernd über den deutschen Oboisten geäußert.

Mr. Niemeyer war ein groß gewachsener Mann mit feinen Gesichtszügen und stets ernstem Blick. Er hatte langes, dunkles und lockiges Haar, das er nicht unter einer gepuderten Perücke verstecken musste. Das Auffälligste aber waren seine schmalen und zierlichen Hände, die Elizabeth an die Hände einer Frau erinnerten. Und wenn seine Finger die Oboe bedienten, dann sah es beinahe aus, als liebkoste er eine Frau. Womöglich kam es Elizabeth auch nur so vor, weil sie sich insgeheim wünschte, diese Hände auf ihrem Körper zu spüren. Das Oboespiel des Albrecht Niemeyer erzeugte in ihr eine Wollust, die sie noch nie zuvor gespürt hatte, die ihr Angst machte und die umso verwerflicher war, weil ihr diese unkeuschen Gedanken in einem Gotteshaus kamen. Und um diese frevelhaften Gedanken zu vertreiben, sang sie umso inbrünstiger das Te Deum Laudamus.

»Laudanum?« Eine krächzende Männerstimme riss Bess aus ihren Gedanken. »Habt Ihr Schmerzen, Ma’am?«

»Hm?«, antwortete sie verwirrt und starrte einem ihr völlig unbekannten Mann ins ungewaschene und mit Pickeln übersäte Gesicht.

»Ihr habt was von Laudanum gesungen, Ma’am«, antwortete der Mann und grinste. »Ich kann Euch was besorgen, wenn Ihr wollt. Kostet Sixpence. Meine Schwester stellt’s her, nach ’nem Geheimrezept.«

Bess fuhr erschrocken zusammen. Hatte sie eben etwa auf offener Straße das Te Deum Laudamus gesungen? Sie schaute sich um und stellte erstaunt fest, dass sie direkt vor dem Haupteingang des Black Lion Inn stand. Sie wusste selbst nicht, wie sie hierhergekommen war und wie lange sie schon hier stand, doch dann fiel ihr wieder ein, wohin sie wollte und dass sie auf dem Weg nach Lincoln’s Inn zwangsläufig das Gasthaus passieren musste.

»Scher dich zum Teufel!«, knurrte sie den Mann an und schaute, als der Kerl sich grimmig knurrend verdrückt hatte, an der Fassade des Black Lion nach oben. Am Giebelfenster sah sie einen Mann, der mit dem Rücken zum Fenster stand und ausholende Bewegungen mit den Armen machte, als ruderte er in einem Boot. Im gleichen Augenblick ließ er die Arme sinken, wandte sich um und schaute auf die Straße.

»Ingram«, murmelte Bess und wusste selbst nicht, wieso sie so überrascht war. Vielleicht, weil dies der Ort war, an dem er gestern beinahe ermordet worden wäre.

Henry Ingram seinerseits lächelte und nickte ihr zu. Er deutete mit dem Zeigefinger nach unten und wiederholte, weil sie verständnislos mit den Schultern zuckte, das Zeichen mit beiden Zeigefingern. Im nächsten Moment jedoch trat ein zweiter Mann neben ihn und stieß ihn grob zur Seite. Der Anblick von Blueskins hässlicher dunkler Visage ließ Bess zusammenfahren und erschrocken den Blick abwenden. Eilig lief sie in Richtung Drury Lane davon.