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Vignette

Henry hatte vermutet, sie würden ihn die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss und von dort in das Eingangsgebäude tragen, durch das Bess und er zwei Tage zuvor mit verbundenen Augen geführt worden waren. Doch bereits nach wenigen Stufen hielt Seamus plötzlich inne, schaute sich fragend zu Mr. Bramble um und fragte: »Zum Doktor?«

»Ay«, antwortete der Wundarzt und nickte. »Mr. Wild ist schließlich ein guter Freund von Dr. Featherstone.«

Auf halber Strecke zwischen dem zweiten und dritten Stock befand sich eine gemauerte Nische in der Wand, die Henry vor zwei Tagen auf dem Weg nach oben nicht weiter beachtet hatte. Vermutlich war sie ihm in der Dunkelheit und nach der langen Zeit mit verbundenen Augen gar nicht aufgefallen. Jetzt aber erkannte er, dass sich in der Nische eine eiserne Tür befand. Der Wärter schloss die Tür mit einem seiner zahlreichen massiven Bartschlüssel auf, die ihm am Gürtel hingen, und dahinter befand sich ein schmaler Gang, der zu einer weiteren Tür führte. Auch diese wurde aufgeschlossen, und sie traten auf eine Galerie hinaus, die sich direkt oberhalb einer riesigen Halle befand. Sie befanden sich im Eingangsgebäude von Bedlam.

Mehr noch als die enormen Ausmaße des Hauses überraschte Henry der Lärm, der ihnen plötzlich entgegenschlug. Das ganze Gebäude war erfüllt von einem Kreischen, Lachen, Wimmern und Klappern, das beinahe unmenschlich wirkte und dennoch von Menschen herrührte. Linker wie rechter Hand ging jeweils ein mehrstöckiger Seitenflügel von der großen Halle ab, und überall wimmelte es von Gestalten, die auf unterschiedlichste Weise zu dem akustischen Tohuwabohu beitrugen. Einige dieser Gestalten waren in einfarbiges Sackleinen gekleidet und zählten offensichtlich zu den Insassen der Anstalt, andere trugen Straßenkleidung oder sogar feinsten Sonntagsstaat und waren offensichtlich nur zu Besuch, aber Krach machten beide Gruppen in gleichem Maße. Eine Traube von Besuchern fiel Henry besonders auf. Sie standen vor einer Zellentür und warfen kleine Gegenstände durch das Gitterfenster, und jedes Mal, wenn aus dem Inneren ein Schrei ertönte, antworteten die Besucher mit Johlen und Gelächter.

»Nach oben«, schrie Seamus gegen den Lärm an und führte die Gruppe zu einer Holztreppe, die von der Galerie aus direkt unter das Dach des Hauses führte. Dort befand sich eine weitere Eisentür, die nun von Mr. Bramble geöffnet wurde.

Kaum hatten sie diese Tür durchschritten, änderten sich das Wesen und die Wirkung des Gebäudes auffallend. Sie betraten einen hellen und weiß verputzten Vorraum, in dem ein Tisch und mehrere Stühle standen und von dem auf der rechten Seite zwei Holztüren abgingen. Am hinteren Ende des Raums war ein großes vergittertes Fenster in der Wand, durch das man einen Blick auf die tiefer gelegene Stadt London hatte. Henry glaubte, in der Ferne die helle Kuppel von St. Paul’s und das breite, glitzernde Band der Themse zu erkennen. Direkt vor dem Fenster ragte ein vorsintflutlich anmutender Baukran oder eine Art Seilwinde in den Himmel.

Zwei uniformierte Wärter und ein sehr junger Bursche im blauen Kittel saßen gelangweilt am Tisch, rauchten Pfeife und betrachteten die Eintretenden mit großen Augen. Vermutlich hatten sie die Abwesenheit der Doktoren genutzt, um unbemerkt ein kleines Päuschen zu machen.

»Da rein!«, befahl Mr. Bramble und deutete auf die hintere der beiden Holztüren.

Der Blaukittel sprang auf und wandte sich an den Wundarzt: »Was ist passiert, Master?«

»Vermutlich Fleckenfieber, Duncan«, antwortete Mr. Bramble. »Wir müssen ihn zur Ader lassen. Du gehst mir zur Hand!«

»Ay, Sir«, sagte der junge Mann, vermutlich ein Lehrling des Wundarztes, und schloss die Tür auf.

Henry wurde in einen Raum getragen, der ihn im ersten Augenblick an einen Schlachthof erinnerte, vermutlich wegen der glasierten Tonziegel und hellen Keramikfliesen, mit denen der Fußboden und die untere Hälfte der Wände verkleidet waren. Auch der weiß getünchte Steintisch in der Mitte des Raumes hatte etwas von einer Schlachtbank. Henry dachte an den Aderlass, der ihm gleich bevorstand, und begriff, weshalb der Raum so reinigungsfreundlich gestaltet war.

Es befand sich nur wenig Mobiliar in dem Laboratorium. Ein Stehpult, ein Drehhocker, ein großes Wandregal, gefüllt mit diversen Tiegeln, Pfannen, Bottichen und Flaschen, außerdem ein niedriger Tisch, auf dem verschiedene Werkzeuge und Instrumente auf einem weißen Tuch ausgebreitet waren. Wie in dem Vorraum gab es ein vergittertes Fenster, das nach Süden ging. Außerdem führte eine doppelflügelige, mit Intarsien versehene Holztür auf der gegenüberliegenden Seite in den Nachbarraum. Womöglich das Büro oder der Privatraum des abwesenden Dr. Featherstone.

Henry wurde mit Schwung auf dem Steintisch abgelegt, wobei er sich heftig den Hinterkopf stieß, und ehe er sich versah, hatte man seine Arme von den Handschellen befreit und in ausklappbare Vorrichtungen gepresst, die er zuvor gar nicht bemerkt hatte. Dort wurden sie mit Lederriemen festgezurrt. Vor Aufregung und Angst vergaß er sogar das Stöhnen und Ächzen.

»Weg mit den Fußfesseln«, sagte Mr. Bramble bestimmt.

»Kommt nicht infrage«, empörte sich Mr. Wild.

»In seinem Zustand kann er ohnehin nicht laufen«, beharrte der Wundarzt und gab Seamus ein Zeichen.

Der Wärter nickte und nahm Henry die Fußschellen ab.

»So, und jetzt alle Gaffer raus!«, sagte Mr. Bramble ruhig, aber bestimmt.

»Wie bitte?«, rief Mr. Wild. »Was unterstehst du dich, Bürschchen?«

Der Wundarzt hielt Mr. Wild eine Art Skalpell vor die Nase, das jedoch keine Klinge hatte, jedenfalls keine sichtbare. »Wollt Ihr den Schnepper selbst bedienen, Sir?«, fragte Mr. Bramble und drückte auf einen Knopf oder Hebel. Eine spitze Klinge sprang heraus und im nächsten Augenblick wieder zurück in ihre Versenkung.

Mr. Wild zuckte erschrocken zurück.

»Oder möchtet Ihr doch lieber zu Eurem Dolch greifen?«, fragte der Wundarzt. »Damit der Mann auf jeden Fall das Zeitliche segnet?«

»Ich will nur sichergehen, dass der Kerl nicht verschwindet«, antwortete Mr. Wild grimmig. »Und gleich anschließend muss ich mit ihm sprechen.«

»Wohin sollte er wohl verschwinden? In Bedlam sind alle Fenster vergittert und sämtliche Türen verschlossen. Schaut Euch den Mann an, er ist mehr tot als lebendig.« Dann ergänzte Mr. Bramble mit seltsamer Betonung: »Und anschließend wird der Mann überhaupt nichts mehr können. Reden schon gar nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Mr. Wild das, was auch Henry auf der Zunge lag.

»Weil er bewusstlos sein wird.«

Henrys Angst steigerte sich zur Panik. Sein Herz raste nun auch ohne Hyperventilieren, und der Schweiß stand ihm in dicken Perlen auf der Stirn.

»Was heißt das?«, fauchte Mr. Wild.

»Die Behandlung des Fleckenfiebers verspricht nur Erfolg, wenn so viel schlechtes Blut abgeflossen ist, dass dem Patienten die Sinne schwinden«, erklärte Mr. Bramble mit geringschätzigem Grinsen im Gesicht. »Erst dann ist die Reinigung erfolgt und das Gleichgewicht der Säfte hergestellt.«

»Wie lange wird er ohnmächtig sein?«, fragte der Diebesfänger.

»Ein paar Stunden, das kommt ganz darauf an.« Und nach einem Räuspern fügte er hinzu: »Falls er überhaupt wieder aufwacht. Das liegt allein in Gottes allmächtiger Hand.«

Henry glaubte eigentlich nicht an einen allmächtigen Gott, dennoch sandte er ein unhörbares Stoßgebet zum Himmel.

Mr. Wild stand eine Weile unschlüssig da, rang die Hände und schaute unruhig zwischen Henry und Mr. Bramble hin und her.

»Meinetwegen«, sagte er schließlich und fuhr auf dem Absatz zu Hell and Fury herum. »Du hältst vor der Tür Wache! Hier kommt niemand rein oder raus, den du nicht in Augenschein genommen hast.«

Sykes nickte, Mr. Wild wies die Richtung zur Tür, und der Tross verließ das Laboratorium.

»Wisst Ihr eigentlich, wen Ihr gerade zurechtgewiesen habt?«, fragte der junge Mann im Blaukittel verblüfft, als sie allein im Raum waren. »Das war Mr. Jonathan Wild.«

»Ich weiß, Duncan«, antwortete Mr. Bramble und schnaufte abfällig.

»Der Jonathan Wild«, sagte Duncan.

Mr. Bramble nickte wissend und sagte: »Dieser ehrenwerte Mr. Wild hat meinen Vater hinter Gitter gebracht.«

»Tatsächlich?«, wunderte sich der Lehrling. »Was hat er verbrochen?«

»Nichts. Wegen ein paar Pfund Mietschulden hat mein Vater monatelang im Schuldgefängnis gesessen. Mr. Wild ist unser Vermieter.« Mr. Bramble deutete auf den Schnepper in seiner Hand und ließ die Klinge springen. »Können wir?«

Der Lehrling nickte, während er gleichzeitig eine glasierte Tonschüssel unter Henrys linken Arm hielt. »Ihr wärt vermutlich nicht traurig, wenn der da nicht mehr aufwacht und Mr. Wild nichts mehr erzählen kann, was?«

Jetzt lachte Mr. Bramble, presste den Schnepper in Henrys Armbeuge und drückte auf den Knopf. »Könnte sein, dass Mr. Wild etwas länger warten muss«, sagte er und wiederholte die Prozedur am Handgelenk.

Henry wurde schlecht. Natürlich wusste er, dass der Aderlass eine zwar unsinnige, aber an sich nicht lebensbedrohliche Behandlung darstellte, doch als das Blut an seinem Arm nach unten lief und von den Fingerspitzen in die Schüssel tropfte, wurde ihm schwindelig. Die letzte Bemerkung des Wundarztes beruhigte ihn nicht gerade, denn sie wollten ihm anscheinend mehr Blut abzapfen als zwingend nötig, und in seinem ohnehin geschwächten Zustand war solch ein Blutverlust nicht ohne Risiko. Dem siechen George Washington war angeblich ein Aderlass zum Verhängnis geworden, wie Henry mal gelesen hatte.

Der Wundarzt und sein Lehrling widmeten sich inzwischen dem rechten Arm und ritzten auch ihn an mehreren Stellen. Es zwickte ein wenig, tat aber nicht besonders weh. Allerdings hoffte Henry, dass der Schnepper einigermaßen sauber gewesen war. Der Wert von Keimfreiheit und Desinfektion war schließlich noch nicht bekannt. Um kein Risiko einzugehen, inszenierte Henry vorzeitig die erwartete und erwünschte Ohnmacht. Er seufzte leicht, sein Brustkorb bebte, dann atmete er tief aus, schloss die Augen und ließ seinen Kopf zur Seite fallen.

»Na, das ging aber schnell«, hörte er den Lehrling sagen.

»Zu schnell«, antwortete Mr. Bramble. »Das Blut ist noch dunkel.«

Weil es aus der Vene kommt, du Dummkopf!, hätte Henry am liebsten gerufen. Doch da er gerade in Ohnmacht gefallen war, konnte er jetzt nicht plötzlich wieder aufwachen und den beiden Stümpern den Blutkreislauf erklären. Der hätte im Jahr 1724 ohnehin seit Langem bekannt sein sollen. Eigentlich.

Ein Gutes hatte seine falsche Ohnmacht immerhin: Die beiden Lederfesseln an seinen Oberarmen wurden entfernt. Was jedoch dazu führte, dass das Blut nun schneller floss und die Wunden zu brennen begannen. Nach einer Weile spürte Henry seine Hände nicht mehr, als wären sie taub oder eingeschlafen, nur kribbelten sie nicht. Dann merkte er, wie sich Müdigkeit in ihm breitmachte, sein Kopf war wie leer gefegt. Er musste an Ostern denken, wegen der ausgeblasenen Eier. Er lachte, ohne die Lippen zu bewegen oder einen Ton von sich zu geben. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, die Gedanken schweiften ab. Das gleichmäßige Plätschern des Blutes machte ihn schläfrig. Er wehrte sich dagegen und war doch nicht in der Lage dazu.

Es war keine gute Idee gewesen, die Augen zu schließen und eine Ohnmacht zu simulieren, dachte er noch, bevor ihm die Sinne schwanden.