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Henry war gut in Krankheiten. Sarah hatte immer gescherzt, Molière habe beim Schreiben von Der eingebildete Kranke vermutlich einen Hypochonder wie Henry vor Augen gehabt, niemand sonst sei so gern und so inbrünstig krank wie er. Jedes Wehwehchen werde gleich zu einem Notfall, jeder Pickel zu einem Geschwür, jeder Schnupfen zur Spanischen Grippe. Henry hatte darauf stets geantwortet, er sei kein Hypochonder, sondern ein Simulant. Das sei ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied.
Schon während seiner Schulzeit hatte er ein erstaunliches Talent entwickelt, seiner Mutter weiszumachen, er sei krank und könne nicht zum Unterricht gehen. Frühmorgendliche und entsprechend unangenehm riechende Spucke wurde mit Fleiß in den Händen und auf der Stirn verrieben, Hyperventilieren mit gleichzeitigem Muskelkrampfen führte zu einem hochroten Kopf und äußerlicher Erhitzung, und sein Reizhusten klang wie der eines Kettenrauchers. Dabei hatte er nie in seinem Leben eine Zigarette geraucht.
Ja, Henry war gut in Krankheiten. Und das kam ihm jetzt zugute. Ebenso wie der Umstand, dass er tatsächlich Fieber hatte und sein Kranksein nur zum Teil vorgaukeln musste. Zwar fühlte er sich schlecht, weil er Bess ein derartiges Schauspiel bot und sie sich offenkundig Sorgen um ihn machte, doch wenn es ihm tatsächlich gelänge, aus dieser Zelle herauszukommen und auf die Krankenstation verlegt zu werden, dann heiligte der Zweck jedes Mittel. Wenn es denn überhaupt eine Krankenstation in Bedlam gab.
Die halbe Nacht wälzte sich Henry auf seinem Lager, während Bess ihn wie ein Kind wiegte, ihm Schlaflieder oder Kinderreime vortrug und dabei mit der eigenen Müdigkeit kämpfte. Mehrmals forderte Henry sie im vermeintlichen Halbdelirium auf, sich endlich schlafen zu legen, doch Bess wollte davon nichts hören und ließ stets ein weiteres »Cock a doodle do!« folgen. Henry liebte es, Bess’ hauchende Reibeisenstimme zu hören und dabei ihre Hand auf seinem Gesicht zu spüren, auch wenn er sich dabei wie ein Schuft vorkam. Weil ihm immer mehr bewusst wurde, wie sehr er diese derbe und grobschlächtige und gleichzeitig so herzliche und feinfühlige Frau liebte. Gegen jede Vernunft.
Schließlich war es der Nachtwärter Bernie, der dem Singen und Trösten ein Ende bereitete. »Noch ein verdammtes London Bridge is broken down«, rief er aufgeregt von draußen, »und ich verpass dir ’nen Knebel! Und wenn der Kerl nicht bald mit seinem Stöhnen und Ächzen aufhört, kriegt er auch sein Maul gestopft! Ist ja nicht zum Aushalten!«
»Wie im Irrenhaus, was, Bernie?«, lachte seine Kollege Seamus.
»Leck mich!«
Wie durch ein Wunder wurde Henry schlagartig ruhig und verfiel in eine Totenstarre. Das Seufzen und Wimmern hatte seinen Zweck erfüllt, die Wärter würden Mr. Wild am nächsten Morgen Bericht erstatten, eine weitere Probe seines schauspielerischen Könnens war nicht nötig. Zeit für den Vorhang.
Nur wenig später war Bess eingeschlafen, und die Wärter sollten es bald bereuen, ihr wohltuendes Säuseln unterbrochen zu haben. Das unweigerlich einsetzende und ohrenbetäubende Schnarchen hätte die London Bridge tatsächlich zum Einsturz bringen können.
Zu großes Gaumensegel, vermutete Henry, bevor auch er einschlief.
Am nächsten Morgen, es war inzwischen der siebte Tag seiner Zeitreise, nahm Henry die Inszenierung des Eingebildeten Kranken wieder auf und intensivierte sie sogar. Er schlug wie rasend um sich, wobei er allerdings darauf achtete, Bess nicht versehentlich mit den Ketten zu treffen. Er strampelte mit den Beinen und röchelte, als bekäme er keine Luft. Dabei hatten die Symptome des realen Fiebers merklich nachgelassen, keine Schauer mehr, kein Frösteln, kein Zittern. Nur hämmernde Kopfschmerzen und ein leichtes Unwohlsein, kombiniert mit Hunger und Durst. Doch das machte Henry durch sein Schauspiel mehr als wett, wie er an Bess’ verstörtem und zunehmend panischem Gesichtsausdruck erkannte. Und als schließlich der Diebesfänger erschien und den Kranken in Augenschein nahm, schien allen Anwesenden klar zu sein, dass es mit Henry zu Ende ging.
Mr. Wild kam diesmal allein, ließ sich von Bernie und Seamus auf den Stand der Dinge bringen und betrat grußlos die Zelle, wo er sich breitbeinig vor der Schlafstatt in der Ecke aufstellte.
»Also?«, fragte er. »Wie lautet die Antwort?«
»Henry ist krank«, sagte Bess. »Das seht Ihr doch.«
»Pech für ihn.«
»Er wird sterben, wenn Ihr nichts unternehmt.«
»Zu schade«, höhnte Mr. Wild. »Soll ich jetzt weinen?«
»Ich werd ihn Euch nicht geben«, murmelte Henry wie abwesend.
»Was war das?«, fragte Mr. Wild.
»Ihr kriegt … den Brief … nicht von mir«, wisperte Henry und hatte das Gefühl, das Stottern etwas übertrieben zu haben. Darum setzte er leise, aber deutlich nach: »Lieber sterbe ich.«
Mr. Wild sah zunächst erstaunt Henry und dann fragend Bess an.
»Er redet wirres Zeug«, sagte Bess entschuldigend.
»Nein, ich geb ihn nicht her«, beharrte Henry und fuchtelte trotz der Handschellen in der Luft herum, als müsste er sich gegen einen unsichtbaren Angreifer zur Wehr setzen.
»Er weiß also, wo der Brief ist?«, fragte der Diebesfänger.
»Er behauptet es«, meinte Bess kopfschüttelnd und versuchte Henry zu beruhigen. »Er redet im Fieber und weiß nicht, was er sagt.«
»Natürlich kenn ich Albrecht«, lachte Henry plötzlich und wand sich aus Bess’ Umarmung. »Woher wüsste ich sonst, wo sich Bischof Atterbury versteckt?« Und als hätte er völlig den Verstand verloren, schmetterte er mit einem Mal die Marseillaise: »Allons enfants de la Patrie …!« Erst dann fiel ihm ein, dass es die Nationalhymne der Franzosen im Jahr 1724 noch gar nicht gab, und er verstummte schlagartig.
»Was weißt du davon?«, erboste sich Mr. Wild und fasste Bess grob an der Schulter. »Wovon redet der Kerl? Wo ist der Brief?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung!«, rief Bess und riss sich los. »Ich weiß nicht, was er da zusammenfaselt. Ihr seht doch, dass er nicht bei Verstand ist. Ich habe diesen verdammten Brief nie gesehen, das hab ich Euch schon tausendmal gesagt.«
Henry lachte irre und sagte: »Bess nicht, Maestro Pepusch auch nicht. Die haben alle keine Ahnung, aber ich. Doch ich verrat’s Euch nicht. Hab ihn gut versteckt. Ihr findet ihn nie.« Dann ließ er sich mit dem Kopf auf den Strohsack fallen und krümmte sich plötzlich wie unter Schlägen. Und wie aus dem Nichts übergab er sich und spuckte Galle vor Mr. Wilds Füße.
»Sag Sykes, er soll Dr. Featherstone holen!«, befahl der Diebesfänger und wischte sich die Schuhe am Strohsack ab.
»Es ist Sonntag«, gab Bernie zu bedenken.
»Na und?«, schrie Mr. Wild und fauchte: »Das ist immer noch ein Hospital, oder nicht? Hier wird’s doch irgendeinen Doktor geben. Oder wenigstens einen Wundarzt.«
»Dies ist Bedlam, Sir«, meinte Bernie. »Hier sind Wärter wichtiger als Ärzte.«
»Dummes Zeug!«, schimpfte Mr. Wild. »Sykes steht unten vor der Tür. Er soll jemanden herschaffen. Wenn Dr. Featherstone nicht da ist, dann eben einen anderen. Und wenn’s einer von den Irren ist. Wird’s bald!«
»Ay, Sir!«, antwortete Bernie, machte einen Bückling und verschwand.
»Und jetzt zu dir!«, wandte sich der Diebesfänger an Henry und packte ihn am Kragen. »Wo hast du ihn versteckt? Raus mit der Sprache!«
Henry starrte an Mr. Wild vorbei, als wäre der gar nicht vorhanden, und brabbelte unverständliches Zeug. Er hatte vorerst genug gesagt, jetzt galt es, den Mund zu halten. Als Mr. Wild ihn rüttelte und schüttelte, kicherte Henry wie blöde.
»Lasst ihn!«, rief Bess. »Ihr seht doch, dass es nichts bringt.«
»Wo steckt der verdammte Arzt?!«, fauchte Mr. Wild.
Es dauerte eine geraume Weile, bis Hell and Fury Sykes mit einem jungen Mann erschien, den er als Mr. Bramble vorstellte. Einen Doktor hatte er auf die Schnelle nicht auftreiben können, an Sonntagen hielten sich die Mediziner nicht in Bedlam auf, auch wegen der vielen Besucher und des Geschreis in den Zellen, das eine Behandlung der Patienten ohnehin unmöglich machte. Aber Mr. Bramble war immerhin Wundarzt und versprach, sich um den Kranken zu kümmern.
»Er hat das Kerkerfieber«, sagte Bess.
»Kriegt Ihr ihn so weit hin, dass er wie ein normaler Mensch reden kann?«, fragte Mr. Wild. »Im Augenblick brabbelt er nur.«
Mr. Bramble zuckte mit den Schultern und beugte sich über Henry, der zitternd und röchelnd auf dem Boden lag. Er hatte sich gut auf die Visite des Arztes vorbereitet, seine Haut war heiß und glänzte feucht vor Spucke, sein Herz raste durch das Hyperventilieren, und das atemlose Röcheln klang bemitleidenswert.
Der Wundarzt befühlte die Stirn, horchte auf den Atem, legte die Hand auf die Brust und sagte: »Er hat Fieber.«
»Das seh ich auch!«, schnauzte Mr. Wild, und seine Fistelstimme überschlug sich. »Dafür brauch ich keinen Doktor.«
»Ich bin kein Doktor«, erwiderte Mr. Bramble trotzig, »sondern Wundarzt.«
Henry glaubte sich zu erinnern, dass die Wundärzte im 18. Jahrhundert noch zu den Handwerkern zählten und wie diese in Zünften organisiert waren. Ähnlich wie Barbiere, Bader oder sogar Hufschmiede waren sie für die äußere Behandlung von Verletzten und Kranken zuständig. Sie waren Handwerkschirurgen. Um die innere Medizin kümmerten sich die studierten Doktoren.
»Und?«, fragte Mr. Wild. »Was machen wir mit ihm?«
»Wir warten bis morgen«, antwortete Mr. Bramble, der offensichtlich immer noch beleidigt und von Mr. Wilds Gehabe wenig beeindruckt war. Vielleicht weil er nicht wusste, wen er vor sich hatte. Pikiert setzte er hinzu: »Morgen sind Dr. Featherstone und die anderen doctores wieder da.«
»Morgen ist Henry tot!«, rief Bess und sah den Wundarzt flehentlich an. »Könnt Ihr denn gar nichts für ihn tun?«
»Ich könnte ihn zur Ader lassen«, schlug Mr. Bramble vor. »Das entgiftet den Körper und bringt die Säfte ins Gleichgewicht. Das würde zumindest Linderung verschaffen.«
»Dann los!«, befahl Mr. Wild und zog seinen Dolch aus dem Gürtel. »Schneidet ihm die Adern auf!«
Henry schluckte, riss die Augen auf und strampelte mit den gefesselten Füßen.
»Hier? Damit?«, rief Mr. Bramble entrüstet und schüttelte den Kopf. »Bringt ihn rüber in Dr. Featherstones Labor. Dort sind alle nötigen Instrumente.«
»Der Kerl bleibt hier!«, fauchte Mr. Wild und hob drohend den Dolch.
»Wenn Ihr ihn töten wollt, Sir, nur zu!« Auch Mr. Brambles Stimme überschlug sich nun, und seine Augen funkelten wütend. »Dafür braucht Ihr mich nicht. Ich bin Wundarzt und kein Schlachter, Sir!«
Mr. Wild verschlug es die Sprache, und für einen Augenblick hatte Henry den Eindruck, als wollte er sich mit dem Dolch auf den Wundarzt stürzen. Dann jedoch steckte er die Waffe weg und befahl: »Schafft ihn raus!«
Henry wurde von dem Wärter Seamus und Hell and Fury grob an Schultern und Füßen gepackt und aus der Zelle geschleppt. Mr. Bramble folgte mit finsterer Miene und gesenktem Kopf. Und Mr. Wild stapfte missmutig und innerlich kochend der seltsamen Prozession hinterher.
Henry krakeelte und wehrte sich ein wenig, um nicht aus seiner Rolle zu fallen, und blickte dabei über die Schulter zu Bess, die ängstlich und traurig in der Zelle zurückblieb und von Bernie wieder eingeschlossen wurde.
Durch die Gittertür sah Henry Bess die gefesselte Hand heben und die Finger an ihre Lippen führen. Dann sank sie kraftlos auf den Strohsack.