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Vignette

Blueskin hatte sich schon oft gewundert, warum die Drapers’ Gardens nicht bebaut waren. Die großzügig bemessenen Gärten der ehrenwerten Textilkaufleute, deren Zunfthaus in unmittelbarer Nähe lag, befanden sich mitten in der überfüllten und dicht besiedelten Londoner City. Wenn das Rathaus im Westen, die königliche Börse im Süden und das Bethlem Hospital im Norden ein Dreieck bildeten und man die Spitzen des Dreiecks miteinander verband, stieß man direkt auf die Drapers’ Gardens, die wie eine kleine und verträumte Oase im Gewimmel der Hauptstadt wirkten und weder durch einen Zaun noch durch eine Mauer befriedet waren.

Ausgerechnet hierher hatte Geoff ihn beordert. Um Punkt Mitternacht, wie er wichtigtuerisch nachgeschoben hatte. Zwar war das Irrenhaus von Bedlam nicht weit entfernt, doch es lag auch nicht gerade in unmittelbarer Nähe. Ein ganzer Block von Wohnhäusern, Tavernen und Stallungen befand sich zwischen den Gärten und der Stadtmauer, und Blueskin verstand nicht, wie man von hier aus unbemerkt zum oder gar ins Irrenhaus gelangen sollte.

Es war noch immer Neumond, eine pechschwarze Nacht, vor allem in den unbeleuchteten Gärten, die aus einer kleinen zentralen Rasenfläche und allerlei umstehendem Gebüsch bestanden. Verglich man die Drapers’ Gardens mit den neu angelegten Parks und Gärten außerhalb der Stadtmauern, so musste man sie als verlottert und vernachlässigt bezeichnen. Niemand schien sich um den Wuchs der Büsche und Sträucher zu kümmern, Blumen und Zierpflanzen suchte man hier vergebens, und der Boden zu Blueskins Füßen war so nass, dass außer Binsen und Moos nichts Anständiges darauf zu wachsen schien. Beinahe wie die Sumpfwiesen in Lambeth, auf der Südseite der Themse.

Wegen der Dunkelheit hatte Blueskin keine Verkleidung anlegen müssen. Er hatte lediglich sein Barett, das ohnehin im Feuer verbrannt war, gegen einen ledernen Schlapphut getauscht und aus seiner nicht gerade umfangreichen Garderobe ein dunkles Hemd mit überlangen Ärmeln ausgesucht. Den Rest besorgte die Neumondnacht.

Pünktlich um Mitternacht, die Turmuhren von Bedlam und St. Paul’s waren gerade verklungen, trat ein Schatten aus dem Gebüsch und an Blueskin heran, der trotz mehrmaligen Hinschauens den irren Geoff kaum erkannte. Das lag nicht allein an der Dunkelheit, sondern auch an der Tatsache, dass der Alte beinahe nackt war und lediglich eine Art Unterhose trug, die ihm bis zu den Knien ging. Vor allem aber hatte er sein Holzbein abgelegt und hüpfte auf einem Bein, als wollte er Hopscotch spielen.

»Was soll der Unfug?«, begrüßte ihn Blueskin unwirsch.

»Komm!«, antwortete Geoff und hüpfte wieder ins Gebüsch.

»Was ist mit deinem Bein?«

»Mach schon!«, befahl Geoff statt einer Antwort und war im nächsten Augenblick im Dickicht verschwunden.

Blueskin folgte ihm durch den knöcheltiefen Schlamm, ohne auch nur das Geringste erkennen zu können, und hatte sich binnen Kurzem in den Dornen- und Weidensträuchern verheddert. Beim Versuch, sich zu befreien, schlug ihm eine Weidenrute auf die verbrannte und von eitrigen Brandblasen übersäte Schulter und ließ ihn aufschreien.

»Hierher!«, rief Geoff aus dem Dunkel.

Schließlich hatte Blueskin die Stelle erreicht, von der die Stimme gekommen war, doch Geoff war nirgends zu sehen oder zu ertasten. Auf einem großen Stein lagen seine Kleider, und sein Holzbein hing an den Lederriemen in einem Baum, doch er selbst war wie vom Erdboden verschwunden.

»Zieh dich aus!«, erschallte Geoffs dumpfe Stimme, der ein seltsamer Hall nachklang, wie bei einem Echo.

»Wo steckst du?«, fragte Blueskin, bekam aber keine Antwort. Also zog er sich widerwillig aus, legte Hut und Kleider zu Geoffs Sachen und rief: »Oi, Geoff?«

»Kuckuck!«, machte Geoff, und sein Kopf schaute aus einer schlammigen Öffnung im Boden, die nicht von Menschenhand gemacht schien, sondern wie das Ergebnis eines Erdrutsches oder einer Unterspülung wirkte.

»Was ist das?«, fragte Blueskin und erkannte erst jetzt, dass Geoffs Kopf vom bloßgelegten Wurzelwerk eines Baums umrahmt war.

»Hast du dich nie gefragt, warum die Drapers’ Gardens nicht bebaut sind?«, fragte Geoff, kicherte leise und gab selbst die Antwort auf seine Frage. »Weil der Boden mistnass ist. Und warum ist er so nass? Weil er von unterirdischen Flussläufen durchzogen ist. Und wohin führen die Flüsschen? Hä?«

»Keine Ahnung«, knurrte Blueskin.

»Zum Walbrook.«

»Zur Straße oder zum Stadtteil?«

»Zum Fluss.«

»Es gibt keinen Fluss mit dem Namen«, sagte Blueskin.

»Wie du meinst«, antwortete Geoff und verschwand unter der Erde.

»Warte!«, rief Blueskin und beeilte sich, ihm zu folgen. Er legte sich auf den Bauch und ließ sich langsam in die Öffnung hinab, wobei er sich an den oberirdischen Wurzeln festhielt und mehrmals mit den Füßen im unterirdischen Wurzelwerk hängen blieb. Zumindest verstand er jetzt, warum Geoff sein Holzbein abgelegt hatte. Nach einer Weile fühlte er eiskaltes Wasser an seinen Zehen und hörte Geoff sagen: »Trau dich!«

Blueskin ließ los und landete im Wasser, das ihm etwa bis zum Bauchnabel reichte. Doch weil es unter der Erde stockfinster war und außer dem Plätschern und Gurgeln des Bachs nichts zu hören war, hatte Blueskin augenblicklich jede Orientierung verloren. Er streckte seine Hände aus und drehte sich im Kreis, bekam aber nichts zu fassen. Mit nur leidlich unterdrückter Angst in der Stimme fragte er: »Wo bist du?«

»Hier«, antwortete Geoff. »Direkt neben dir.«

»Was ist das hier?«

»Der Fluss, den es angeblich nicht gibt.«

Blueskin staunte und fragte: »Und wohin jetzt?«

»Immer gegen den Strom. Der Walbrook fließt von Moorfields unter der Stadtmauer hindurch bis nach Dowgate. Wir hätten auch unten an der Themse einsteigen können, aber das hier ist ’ne Abkürzung. Wenn wir flussaufwärts schwimmen, gelangen wir unweigerlich nach Norden. Aber pass auf deinen Kopf auf, an einigen Stellen musst du untertauchen, um voranzukommen. Wichtig ist, dass du die Ruhe behältst und nicht in Panik gerätst. Traust du dir das zu?« Und mit spöttischem Tonfall fragte er: »Kannst du überhaupt schwimmen?«

Statt einer Antwort schnaufte Blueskin verächtlich und fragte: »Wieso ist der Fluss unterirdisch?«

»Weil er überbaut wurde, schon vor langer Zeit. Platz war halt immer schon knapp in der Stadt. Und irgendwann haben die Leute vergessen, dass es ihn jemals gab.«

»Nur du nicht«, sagte Blueskin.

»Bin zufällig auf ihn gestoßen«, antwortete Geoff lachend und schwamm voran. »Manchmal wühlt man eben in der Scheiße und findet einen Schatz.«

Schweigend schwammen oder wateten sie durch das Wasser. Die einzigen Lebewesen, die ihnen begegneten, waren die Ratten, die hier unten, dem Fiepen nach zu urteilen, in Scharen zu leben schienen. Zum Glück konnte Blueskin sie nicht sehen und bekam nicht zufällig eine zu fassen. An einigen Stellen war der Bach nur ein knietiefes Rinnsal, dann wieder weitete er sich zu einem kleinen See. Mehrmals mussten sie untertauchen, aber ebenso oft war über dem Wasser so viel Platz, dass Blueskin nicht mit den Händen an die oft gemauerte oder aus Bohlen bestehende Decke dieses seltsamen Tunnels reichen konnte.

Nach einer Weile begriff Blueskin auch, was Geoff mit seinem »In-der-Scheiße-Wühlen« gemeint hatte. Es stank erbärmlich nach Exkrementen, und als ihm versehentlich etwas Wasser in den Mund drang, hätte er sich beinahe vor Ekel erbrochen. Zunächst redete sich Blueskin ein, der Gestank und der Geschmack kämen von der fauligen Erde oder den stinkenden Ratten, doch Geoff nahm ihm diese Illusion, indem er sagte: »In Moorfields fließt frisches Wasser rein, in Dowgate kommt bloß noch Kacke raus. Von überall wird Unrat in den Fluss geleitet. Ein Paradies für Ratten.«

»Ein natürlicher Abwasserkanal?«, meinte Blueskin.

»Wie der Fleet«, sagte Geoff. »Nur dass die Leute gar nichts von ihm wissen und den Walbrook für ’ne verdammte Straße halten.«

»Wie weit ist es noch?«

»Sind schon da«, antwortete Geoff und nahm Blueskin bei der Hand. Er zog ihn zur Seite, bis Blueskin etwas Steinernes, Halbrundes und Glitschiges zu fassen bekam. »Wir sind jetzt genau unter der Stadtmauer«, erklärte Geoff und klopfte auf das Mauerwerk, das eine zur Seite hin ansteigende Rinne oder Wanne bildete. »Diese Steine führen dich nach Bedlam. Aber sei vorsichtig, es ist sehr rutschig. Und tritt nicht aus Versehen auf eine Ratte, die Biester sind bissig.«

Blueskin zog sich an der gemauerten Rinne hinauf, wobei ihm der Gestank den Atem nahm und er sich nicht vorstellen wollte, worin er gerade auf Händen und Knien herumkroch.

»Den Rest schaffst du allein«, sagte Geoff. »Ohne mein Bein komm ich da nicht hoch. Bislang bin ich immer nur aus der anderen Richtung gekommen.« Er lachte und setzte hinzu: »Ist wie ’ne Rutschbahn.«

»Danke, dass du mir geholfen hast.«

»Hatte ich eine andere Wahl?«, brummte Geoff mürrisch. »Du hattest ziemlich zupackende Argumente, mein blauer Freund.« Er zog den Rotz hoch, spuckte ins Wasser und setzte nach einer kurzen, aber bedeutsamen Pause hinzu: »Na, soll mir recht sein, solange es nur Mr. Wild ärgert! Das wird es doch, oder?«

»Ay, das hoffe ich«, antwortete Blueskin, obwohl er sich seiner Sache gar nicht so sicher war. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was Mr. Wild mit Bess und Henry zu schaffen hatte und was er mit ihnen vorhatte. Aber die Tatsache, dass er zunächst Bess in der Chick Lane eingesperrt und anschließend sie und Henry nach Bedlam geschafft hatte, sprach dafür, dass sie für den Diebesfänger eine besondere Rolle spielten. Dass er etwas von ihnen wollte. Sonst hätte er sie einfach ins Newgate gesteckt oder gleich um die Ecke gebracht, wie es sonst seine Art war.

»Das hoffe ich«, wiederholte Blueskin und wollte bereits die Rinne hinaufklettern, als ihm plötzlich etwas einfiel und er sich zu Geoff umwandte. »Warum hat er es eigentlich getan?«, fragte er.

»Wer hat was getan?«, antwortete Geoff verwirrt.

»Warum hat Mr. Wild dich damals verstümmelt?«

»Ach, Gott!« Ein langer und tiefer Seufzer folgte. Geoff schien eine Weile zu überlegen und sagte dann: »So macht man das eben mit den Überbringern schlechter Nachrichten. Man macht sie für den Inhalt der Nachricht verantwortlich.«

»Welche Nachricht meinst du?«

»Erinnerst du dich an Mary Milliner?«

»Mr. Wilds Hure?«

»Seine bessere Hälfte«, verbesserte Geoff. »Die Frau seines Lebens. Das war sie jedenfalls, bis ich mich verplappert hab.«

Blueskin erinnerte sich sehr wohl an Mary Milliner. Die hübsche Mary. Sie war so etwas wie Mr. Wilds weiblicher Schatten gewesen. Die graue Eminenz von Wild’s House. Die heimliche Herrin in seinem verbrecherischen Reich, das sie angeblich gemeinsam aufgebaut hatten. Anfangs als Hure und Zuhälter. Später dann als nahezu gleichberechtigtes Paar. Sie als Kupplerin, er als Hehler und Diebesfänger. Bis man eines Tages ihre Leiche – und die ihres hübschen Liebhabers – aus dem Fleet gefischt hatte. An der gleichen Stelle, an der kurz zuvor Geoffs Unterschenkel gelandet war.

»Du hast Mr. Wild erzählt, dass Mary ihm Hörner aufsetzt?«, entfuhr es Blueskin. »Wie konntest du so dämlich sein?«

»Ist mir so rausgerutscht«, murmelte Geoff kleinlaut. »Ständig wollten sie lustige und verrückte Geschichten von mir hören, da hab ich’s eben ausgeplaudert.«

»Hast es teuer bezahlt«, meinte Blueskin und stutzte plötzlich. »Aber warum hat Mr. Wild dann plötzlich seine Meinung geändert? Wieso hält er jetzt seine Hand schützend über dich und lässt dich in Ruhe, obwohl du ständig über ihn zeterst?«

»Mein Bein hab ich verloren, weil er mich für einen Lügner und Verleumder gehalten hat«, antwortete Geoff mit bitterem Lachen. »Und mein Holzbein hab ich geschenkt bekommen, weil ich eben kein Lügner und Verleumder war. Sondern nur ein Narr!«

Blueskin dachte einen Augenblick über Geoffs letzten Satz nach und sagte dann: »Du bist vielleicht ein Narr, aber deswegen noch kein Dummkopf.«

»Sag das mal meinem Sohn!«, lachte Geoff und ließ sich ins Wasser gleiten.

»Du hast einen Sohn?«, wunderte sich Blueskin. Davon hatte er noch nie etwas gehört. Auch eine Mrs. Ingram war ihm unbekannt. Er fragte: »Wo ist er?«

»Will nichts mehr mit mir zu tun haben«, antwortete Geoff. »Jeremiah ist jetzt ’n feiner Pinkel in Westminster. Hat ein schickes Kaffeehaus an der Piccadilly und hält sich für was Besseres. Sein alter verrückter Vater ist ihm peinlich.«

Blueskin dachte an seine eigene Mutter und meinte: »Familie eben.«

»Ein wahres Wort!« Geoff lachte und ließ sich von der Strömung nach Süden treiben. Zurück zu den Drapers’ Gardens.