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Vignette

Noch bevor sie das Olde Cheshire Cheese erreicht hatte, spürte Bess, dass sie verfolgt wurde. Es war nur ein unbestimmtes Gefühl, und jedes Mal, wenn sie sich umwandte, konnte sie nichts Auffälliges in dem dichten Getümmel auf der Straße entdecken, doch sie war sich sicher, dass ihr seit der Temple Bar jemand folgte. Wie ein Schatten, der sich nicht fassen ließ.

Das Wirtshaus befand sich schräg gegenüber der Kirche von St. Bride und wirkte von außen unscheinbar und gewöhnlich. Eine der unzähligen Schänken, die nach dem Brand von London aus Stein errichtet und in Erinnerung an die guten alten Zeiten im Erdgeschoss mit dunklem Fachwerk verkleidet worden waren. Auf dem Holzschild über dem Eingang war ein runder Hartkäse abgebildet, und gleich darüber war ein zweites Schild angebracht: Ein aufgeschlagenes Buch und ein Federkiel wiesen auf den Namen der Druckerei hin – »The Book and Quill«.

Bess schaute sich ein letztes Mal prüfend um, betrat dann die Schänke und wartete, ob nach ihr jemand das Gasthaus betrat. Doch sie wartete vergebens, die Tür blieb geschlossen, und so wandte sie sich an den Wirt und fragte nach Mr. Wilkins, dem Drucker.

»Eingang auf dem Hof«, knurrte der Mann und deutete mit dem Daumen aus dem Fenster. »Wine Court.«

Bess dankte nickend, verließ die Schänke durch den Vordereingang – und stieß auf der Straße mit Henry Ingram zusammen, der gerade das Haus betreten wollte. Er hielt sie fest, als müsste sie sonst umfallen.

»Ingram!«, entfuhr es ihr, und sie fasste sich an den Busen. »Hast du mich erschreckt! Was willst du denn hier?«

»Ye Olde Cheshire Cheese!« Er lachte und rief: »Wenn ich das meiner Schwester erzähle, glaubt sie mir kein Wort.«

»Deine Schwester? Wovon redest du überhaupt?« Sie sah ihn verständnislos an, und wieder einmal zweifelte sie an dem Verstand des komischen Kauzes. Dann jedoch stieß sie ihn von sich und fuhr ihn wütend an: »Seit wann folgst du mir? Und warum? Was, zum Teufel, willst du von mir?«

Ingram hob entschuldigend die Hände und setzte zu einer Entgegnung an. Doch bevor er antworten konnte, wurde er durch einen Schrei aus dem Obergeschoss des Hauses unterbrochen. Das Jammern oder Schluchzen einer Frau schallte auf die Straße, gefolgt von einem schrillen Hilferuf. Die Passanten blieben stehen und schauten irritiert nach oben. Ein Erkerfenster unter dem Dach wurde in diesem Augenblick aufgerissen, und der Kopf einer Frau erschien am Fenster. »Hilfe!«, rief die Frau. »Zu Hilfe! Bringt einen Arzt! Schnell!«

Bess reagierte als Erste. Sie ließ Ingram verdutzt stehen, rannte in den angrenzenden Wine Court, der ringsum von Häusern und Stallungen umstanden war, und betrat das Wirtshaus durch den Hintereingang. Eine schmale Stiege führte in die oberen Stockwerke, im zweiten Obergeschoss befand sich die Druckerei »The Book and Quill«, vor deren Tür ein junger Mann im fleckigen grauen Kittel stand und neugierig nach oben starrte. Bess rannte an ihm vorbei, nahm zwei Stufen auf einmal und stand im nächsten Moment vor dem niedrigen Eingang zur Dachstube. Die Tür war sperrangelweit geöffnet, und Bess betrat die Wohnung, die aus zwei Kammern zu bestehen schien. Linker Hand erkannte Bess das Erkerzimmer, dessen bleiverglaste Fenster zur Fleet Street gingen und in dem die Dienstmagd immer noch wie von Sinnen nach Hilfe schrie. Geradeaus befand sich eine zweite Kammer, die durch eine Luke in der Dachschräge erhellt wurde. Ein Schatten bewegte sich über die Wand, hin und her, aber diese Bewegung hatte etwas Unnatürliches, fast geisterhaft Schwebendes.

Langsam näherte sich Bess der hinteren Kammer, und als sie den Raum betrat, bot sich ihr ein Bild, das sich ihr wie ein Feuerzeichen einbrannte. Selbst als sie entsetzt die Augen schloss, konnte sie das Bild noch vor sich sehen. In der Mitte des Raumes, direkt unter der Dachluke, stand ein Tisch, und auf diesem Tisch wiederum stand ein Mann im grauen Kittel, der einen zweiten Mann wie einen Mehlsack über der Schulter trug. In der Hand hielt der Graukittel ein langes Messer. Über seinem Kopf, unterhalb der Luke, war an einem waagerechten Kehlbalken ein Seil befestigt, dessen unteres Ende durchtrennt war und hin und her baumelte. Was Bess vor sich sah, wirkte zunächst widersinnig und grotesk, doch dann begriff sie, und auch sie schrie laut auf.

»Hört mit dem Gekreische auf, Ma’am, und helft mir lieber!«, rief der Mann im Kittel, der sichtlich unter seiner Last schwankte. »Vielleicht ist er noch zu retten.«

Doch Bess rührte sich nicht vom Fleck und starrte wie gebannt auf den Mann, den der Graukittel vom Strick geschnitten hatte. Die Schlinge hing noch um seinen Hals, die Augen traten ihm aus den Höhlen, und das Gesicht wirkte verquollen und wie aufgeblasen. Nichts erinnerte in diesem Augenblick an das hübsche Antlitz des Oboisten, das Bess vor Jahren so in den Bann gezogen hatte. Albrecht Niemeyers Gesicht war zu einer hässlichen Fratze geworden, die Bess sogar im Tode noch die blau angelaufene Zunge herausstreckte.

»Zur Seite, Ma’am!«, wurde Bess aus ihren Gedanken gerissen und im selben Augenblick in den Raum geschubst. Der junge Mann, den sie vorhin vor der Druckerei gesehen hatte, zwängte sich an ihr vorbei und fragte: »Was soll ich tun, Master Wilkins?«

Während der Druckergehilfe seinem Meister zur Hand ging und die beiden Kittelträger dem Musiker die Schlinge vom Hals nahmen, wurde Bess’ Blick wie von einem Magneten von einigen Musikinstrumenten angezogen, die neben einem drehbaren Schemel auf dem Boden lagen. Es handelte sich um drei Oboen von unterschiedlicher Länge und Stärke, die erste befand sich in einem geöffneten und mit rotem Samt ausgeschlagenen Holzkästchen, die zweite lag unverpackt und in zwei Stücke zerbrochen auf den Dielen, und die dritte stand senkrecht auf einem vierbeinigen Ständer. Außerdem waren überall auf dem Boden Notenpapiere verstreut, die meisten von ihnen zerknüllt oder zerrissen. Bess ließ sich auf den Schemel fallen und nahm die beiden Teile der zerbrochenen Oboe in die Hand. Sie hielt das rohrartige Mundstück an ihre Nase und nahm den säuerlichen Geruch nach Speichel wahr. Auf diesem Instrument war vor Kurzem noch gespielt worden. Und plötzlich konnte sie sich nicht mehr gegen die Tränen wehren, die ihr regelrecht aus den Augen schossen und alles um sie herum wie mit einem Schleier bedeckten.

»Der ist hin, Master!«, hörte sie den Gehilfen sagen.

»Dabei hab ich ihn vorhin noch auf seiner Blockflöte spielen gehört«, antwortete der Meister. »Wer kann denn so was ahnen? Sich einfach so aufzuknüpfen!«

»Es ist eine Oboe«, sagte Bess, ohne ihren Blick von dem Instrument zu nehmen. »Und er hat sich nicht aufgeknüpft.«

»Na, der Heilige Geist wird’s wohl kaum gewesen sein«, meinte der Gehilfe.

Um nicht den auf dem Boden liegenden Leichnam anschauen zu müssen, blickte Bess zur Wohnungstür und erkannte, dass sich auf dem Treppenabsatz eine Traube von Schaulustigen gebildet hatte. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, legte die zerbrochene Oboe wieder auf den Boden und erhob sich. Plötzlich fuhr sie zusammen und starrte ins Treppenhaus, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Hell and Fury!«, rief sie und deutete hinaus. »Haltet den Mann!«

Im gleichen Augenblick entstand eine Bewegung auf der Treppe, ein Mann duckte sich, sprang nach unten und stieß die auf den Stufen Stehenden mit einem Spazierstock zur Seite.

»He, was soll ’n das? Trittst mir ja auf die Füße, Kerl! Nimm doch deinen Stock runter!«, riefen die Leute und machten erschrocken Platz.

Bess wollte ihm bereits hinterher und lief zur Tür, doch auf dem Treppenabsatz versperrte ihr ein kleiner Mann mit einem silbernen Schwert den Weg. Noch bevor sie das hagere und vernarbte Gesicht des Mannes sah, wusste Bess, dass Jonathan Wild vor ihr stand und es um sie geschehen war. Direkt hinter dem »Generaldiebesfänger« baute sich der hünenhafte Quilt Arnold auf, Mr. Wilds grobschlächtiger Handlanger, der dabei gewesen war, als Mr. Wild sie vor einigen Wochen in einer Kneipe aufgespürt und betrunken gemacht hatte, um Jacks Versteck zu erfahren. Quilt Arnold war es auch gewesen, der Jack tags darauf in Mutter Blakes Gin-Shop verhaftet hatte.

»Na, so eine Überraschung, wen haben wir denn hier?«, fragte Mr. Wild mit seiner dünnen und so unangenehm schrillen Fistelstimme, die sich Bess seit ihrer letzten Begegnung regelrecht eingebrannt hatte. Er grinste und fuhr sich mit der Hand über die Narben im Gesicht, die von diversen Schuss- und Hiebverletzungen stammten und dem eigentlich unscheinbaren Mann ein wildes Aussehen gaben. »Mrs. Lyon, welche Ehre! Ich hatte Euch schon vermisst. Habt Ihr wieder einmal einen armen Mann in den Selbstmord getrieben?«

Bess hätte sich darüber wundern können, dass Mr. Wild von dem erhängten Albrecht wusste, ohne die Wohnung überhaupt betreten zu haben, doch das tat sie nicht. Nein, seitdem sie James Sykes alias »Hell and Fury« auf der Treppe gesehen hatte, wunderte sie gar nichts mehr. Zwar verstand sie nicht, was hier vorging und was Jonathan Wild mit Albrecht Niemeyer zu schaffen hatte, aber dass der Diebesfänger nicht zufällig an Ort und Stelle war, lag auf der Hand.

Mr. Wild machte Quilt Arnold mit der Hand ein Zeichen, und der Riese packte Bess an der Schulter und riss sie wie ein Ringkämpfer an sich.

»Au!«, schrie Bess. »Du tust mir weh, Mistkerl!«

Hinter Arnold bemerkte Bess eine Bewegung, und als im nächsten Augenblick Henry Ingrams Gesicht über Arnolds Schulter auftauchte, gab sie ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen, sich bloß nicht einzumischen. Doch Jonathan Wild und Quilt Arnold hatten Bess’ Kopfschütteln gesehen und wandten sich ruckartig um – aber Henry hatte sich bereits auf der Treppe abgewandt und war nach unten verschwunden.

»Schaff sie weg!«, befahl Mr. Wild und steckte sein Schwert in die Scheide.

»Chick Lane?«, wollte Quilt Arnold wissen.

»Was sonst?«, antwortete Mr. Wild ungehalten und betrat die Wohnung. »Dann wollen wir uns mal das Malheur anschauen.«

Bess wurde, immer noch im Würgegriff, die Treppe hinunterbugsiert und zu einer einspännigen Kutsche geführt, die auf der Fleet Street wartete. Als Bess den Einspänner bestieg, erkannte sie auf der anderen Straßenseite Henry Ingram. Sie nickte ihm unmerklich durchs Fenster zu, und er nickte zurück. Dann setzte sich die Kutsche in Bewegung.