11
Es war etwa Mittag, als sie auf die Fleet Street hinaustraten und Mr. Gay nach einer vorbeifahrenden Mietkutsche rief.
»Fahrt nur allein!«, sagte Henry und winkte dem Dichter zu. »Ich komme später nach und möchte mir vorher ein wenig die Beine vertreten.«
»Es ist weit bis Burlington House«, sagte Mr. Gay verwundert.
Henry lachte. Wenn man die Entfernungen im heutigen London zum Maßstab nahm, war der Weg von der Fleet Street zur Piccadilly ein halber Katzensprung. Gerade einmal zwei U-Bahn-Stationen. Zwar war Henry immer noch müde und erschöpft, dennoch wiederholte er: »Ich komme später!«
Mr. Gay stieg in die Kutsche und verschwand in Richtung Temple Bar.
Henry musste amüsiert daran denken, dass er gerade Zeuge geworden war, wie John Gay auf die seltsame Idee gekommen war, in der Figur des Hehlers Peachum die realen Vorbilder Jonathan Wild und Robert Walpole zu vermengen. Er, Captain Macheath, hatte den Dichter auf die Fährte gebracht und zwei Personen miteinander in Verbindung gebracht, die eigentlich keinerlei Berührungspunkte hatten. Sah man einmal von dem verräterischen Brief ab.
Doch wie wollte Henry nun weiter mit dem Schreiben in seiner Tasche vorgehen? Was genau war sein Plan? Wie wollte er den Brief gegen Bess tauschen, ohne selbst wieder in die Fänge des Gauners zu geraten? Und wo sollte dieser Tausch stattfinden?
Er ging, in Gedanken versunken, auf der lärmenden Fleet Street nach Westen, durchschritt die Temple Bar und bog an der Kirche von St. Clement Danes in die Drury Lane ab. Das tat er ohne jede Absicht und beinahe aus Gewohnheit. Es war der Weg, den er in den letzten Tagen so oft gegangen war. Erst als er die schmale und dunkle Passage erreicht hatte, die zum Theatre Royal führte, blieb er plötzlich stehen und schaute sich um. Es war keine gute Idee gewesen, ausgerechnet hierherzukommen, denn in der Drury Lane wimmelte es vermutlich von Mr. Wilds Spitzeln, und nach seiner Flucht aus Bedlam stand Henry gewiss an oberster Stelle auf der Fahndungsliste des Diebesfängers.
»Oi, Captain!«, wurde er denn auch sogleich gerufen. »Ihr seht aber mitgenommen aus. Habt Ihr schlecht geschlafen?«
Als er sich umwandte, sah er den kleinen Straßenjungen im Rinnstein sitzen, mit gekreuzten Beinen und beinahe an derselben Stelle, an der er ihn vor einer Woche zum ersten Mal gesehen hatte.
»Na, hat die Fleischpastete geschmeckt, die du mir gestohlen hast?«, erwiderte Henry, ohne auf die Bemerkung des Jungen einzugehen oder sich darüber zu wundern, dass er ihn mit »Captain« angesprochen hatte.
»Hab schon bessere gegessen«, wehrte der Junge geringschätzig ab.
Henry kam plötzlich eine Idee. Er ließ sich neben dem Jungen nieder und fragte: »Wie heißt du?«
»Rodney.«
»Willst du dir etwas Geld verdienen, Rodney?«
Der Junge lachte, schüttelte den Kopf und fragte: »Wieder ’ne zweite Elisabeth? Wollte die Münze ’nem Pfandleiher verkaufen, aber der hat gesagt, es wär gar kein Silber. Ich lass mich nicht noch mal übern Tisch ziehen.«
Henry kramte in seiner Hosentasche und holte eine der Münzen heraus, die Mr. Gay ihm gegeben hatte. Darauf waren eine Drei mit einer Krone darüber und die Jahreszahl 1723 zu sehen. Er fragte: »Wie wär’s mit Threepence?«
Rodney hielt seine offene Hand hin und fragte grinsend: »Wen soll ich kaltmachen, Captain?«
»Blueskin!«
»Wen?«
Doch Henry hatte gar nicht mit dem Jungen geredet, sondern einen erstaunten Ruf ausgestoßen. Denn aus einer Seitengasse der Drury Lane war er plötzlich aufgetaucht und nur wenige Augenblicke später in einer Häuserlücke auf der anderen Straßenseite verschwunden. Obwohl er einen Schlapphut tief in die Stirn gezogen hatte, hatte Henry ihn sofort erkannt: Blueskin! Seine dunkle Haut war unverkennbar. Er lebte also noch und war nicht in der Dirty Lane verbrannt. Henry musste an den nächtlichen Schrei in Bedlam denken: »Du lügst, du dreckige Hure!« Henry hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, aber er wusste nun, dass es tatsächlich Blueskin gewesen war, den er in Dr. Featherstones Laboratorium gehört hatte. Der Schrei eines Toten.
»Was habt Ihr gesagt, Captain?«
Henry schüttelte heftig seinen Kopf, als müsste er sich erst wachrütteln, dann wandte er sich dem Jungen zu und sagte: »Nichts, Rodney. Gar nichts!« Wieder ging sein Blick zu der Häuserlücke, doch von Blueskin war nichts mehr zu sehen.
»Also, was soll ich machen?«, fragte der Junge.
»Kennst du Mr. Wilds Haus in der Cock Lane?«
»Ay.«
»Ich möchte, dass du Mr. Wild eine Nachricht überbringst. Wenn er nicht in der Cock Lane ist, versuch es in seinem Büro in Old Bailey.«
Wieder hielt Rodney die Hand auf und sagte: »Her mit dem Wisch.«
»Kein Wisch. Du sollst ihm etwas mündlich ausrichten. Und nur ihm persönlich.«
»Ich höre.«
»Sag ihm, Captain Macheath hat den Brief und will ihn gegen Bess tauschen. Heute um Mitternacht, nein, besser morgen Nacht.« Henry war noch zu schwach auf den Beinen und völlig übermüdet, außerdem taten ihm die Knochen weh. Erst wollte er ein wenig zu Kräften kommen und sich ordentlich auf das Treffen mit dem Diebesfänger vorbereiten. Um nicht in eine Falle zu tappen oder durch eine Unachtsamkeit alles zunichte zu machen. »Sag Mr. Wild, er soll allein kommen. Nur Bess darf ihn begleiten, sonst wird der Brief den Leuten des Bischofs übergeben.«
»Und wohin soll Mr. Wild kommen?«, fragte der Junge.
Die Antwort auf diese Frage hatte sich Henry bereits sorgsam überlegt. Im Postman’s Park, gegenüber vom White Horse House, hatte alles angefangen, hier hatte er Sean Leigh im Beisein von Sarah niedergeschlagen. An gleicher Stelle würde folgerichtig alles ein Ende finden – auch wenn es den Postman’s Park und das »White Horse House« natürlich noch gar nicht gab. Deshalb sagte Henry: »In Little Britain. Auf dem Friedhof von St. Botolph.«
»Um Mitternacht auf dem Friedhof?«, wunderte sich Rodney. »Da würden mich keine zehn Pferde hinbekommen.«
»Hast du dir gemerkt, was ich gesagt habe?«
»Ihr habt den Brief und wollt ihn gegen eine Bess tauschen. Morgen um Mitternacht auf dem Friedhof in Little Britain. Nur Mr. Wild und diese Bess. Sonst geht der Brief zum Bischof.« Wieder ging Rodneys Hand auf. »Macht Threepence.«
Henry zögerte, dem Jungen das Geld im Vorhinein zu geben, doch sich anschließend noch einmal mit ihm zu treffen, wäre viel zu gefährlich gewesen. Es war anzunehmen, dass Mr. Wild den Jungen nach der Überbringung der Nachricht verfolgen ließ. Also fragte Henry: »Kann ich mich auf dich verlassen?«
»Jacks Freunde sind meine Freunde«, sagte Rodney wichtigtuerisch und nickte.
Henry drückte ihm die Münze in die Hand und befahl: »Ab mit dir!«
»Ay, Sir!«, sagte der Junge und sprang auf die Beine.
»Eins noch!«, rief Henry ihm nach. »Bernie soll den Ring rausrücken, den er mir gestohlen hat. Sag das Mr. Wild!«
Rodney zog die Stirn kraus, nickte verständnislos, rannte davon und war nach wenigen Sekunden hinter einer Häuserecke verschwunden.
Henry blieb noch eine Weile im Rinnstein sitzen, erhob sich schließlich schwerfällig und musste gegen einen Schwindel ankämpfen. Der Boden schwankte unter seinen Füßen, als befände er sich auf hoher See.
Verdammter Aderlass, verdammte Müdigkeit!
Als ihm das Blut wieder in den Kopf gestiegen und das Flimmern vor seinen Augen verschwunden war, überquerte er die Gasse und blieb vor der Baulücke stehen, in der Blueskin Blake eben verschwunden war. »Coal Yard« war auf einem Holzschild zu lesen, doch Kohle wurde hier nirgends gelagert. Außer einer völlig verfallenen Bauruine befand sich nichts in diesem seltsam verwinkelten Hof, der von der Straße aus kaum einzusehen war und an ein Labyrinth erinnerte.
»Na, Großer«, wurde Henry von einer älteren Frau mit weiß gepudertem Gesicht angesprochen, deren schrumpelige Brüste aus dem Dekolleté herausschauten. Sie tippte mit ihrem Fächer an Henrys Schulter und fragte mit keckem Augenaufschlag: »Hast du Lust auf ein Schäferstündchen?«
»Schlafen würde ich schon gern«, antwortete Henry grinsend. »Aber nicht mit dir, meine Liebe.«
»Scheißkerl!«, fluchte die Hure. »Zieh Leine!«
»Zu Befehl!«, erwiderte er und ging.