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Es gab kein zweites Haus in London, das Blueskin so vertraut und gleichzeitig so vergällt war wie Mutter Blakes Gin-Shop in der Rosemary Lane. Er hatte, anders als Hope, nie länger hier gewohnt und die heruntergekommenen Räumlichkeiten immer nur für kurze Zeit als Unterschlupf benutzt, doch was er unter dem Dach seiner Mutter gesehen und erlebt hatte, war so widerlich und verdorben gewesen, dass es ihn auf ewig von seiner Mutter entfremdet hätte, wenn er sie nicht schon vorher abgrundtief gehasst hätte. Allein die Untaten, die Hope hier über sich hatte ergehen lassen müssen, waren mit Worten kaum zu beschreiben und trieben ihm noch heute die Zornesröte in sein dunkles Gesicht. Dennoch hatte er es stets gescheut, seine Mutter offen zur Rede zu stellen oder ausdrücklich mit ihr zu brechen. Wer wusste schon, ob sie ihm in Zukunft nicht noch einmal nützlich sein könnte. Also hatte er Hope kurzerhand und ohne ein einziges Wort der Erklärung mitgenommen und sie in dem verfallenen und leer stehenden Häuschen in der Dirty Lane untergebracht. Und seine Mutter hatte nie nach ihrem Verbleib gefragt. Gerade so, als hätte sie niemals eine schwachsinnige Tochter gehabt.
Geoff Ingram schlief jede Nacht in Mutter Blakes Keller, obwohl er nie in ihrer armseligen Bruchbude trank. Er trank überhaupt nie einen Tropfen Alkohol. Nachdem er mehr tot als lebendig aus Wilds Haus geworfen worden war, hatte Blueskin ihm aus einer plötzlichen Laune heraus das Bein mit einem Strick abgebunden, den Alten auf eine Schubkarre geladen und ihn in die Rosemary Lane geschafft. Nicht weil er irgendetwas für den Schwachkopf übrig oder Mitleid mit ihm gehabt hätte, sondern weil er hoffte, dass es Mr. Wild fuchsteufelswild machen würde. Und seine Mutter obendrein. Doch das Gegenteil war der Fall. Nur wenige Tage später erschien der Diebesfänger höchstpersönlich bei Jane Blake, drückte ihr eine Guinee in die Hand und trug ihr auf, einen Arzt zu holen und für Mr. Ingram eine anständige Unterkunft zu besorgen.
Blueskins Mutter nickte artig, behielt jedoch das Goldstück für sich, überließ die Wundheilung sich selbst und gestattete dem irren Geoff, nach überstandenem Wundfieber auf dem stinkenden Stroh im Keller zu nächtigen. Womit allen gedient sei, wie sie meinte.
So kam es, dass der irre Geoff zu einem Stammgast in Mutter Blakes Keller wurde, und als Blueskin jetzt in seiner Verkleidung vor dem Nebeneingang des Gin-Shops stand, hoffte er inständig, dass sich daran in der Zwischenzeit nichts geändert hatte. Es war weit nach Mitternacht, und weil es Neumond war, konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Die Verkleidung hätte Blueskin in dieser Nacht gar nicht gebraucht, und so hob er den dunklen Schleier an, ohne dass es dadurch heller wurde.
Als er die niedrige Holztür öffnete und sich zur schmalen Treppe vortastete, die in den Keller hinabführte, schlug ihm ein unerträglicher Gestank entgegen. Es roch wie in einer Sickergrube, die Galle stieg ihm hoch, und er musste einen Brechreiz überwinden. Blueskin würde nie verstehen, wie erwachsene Männer in ihrer eigenen Scheiße und Kotze schlafen konnten. Von den erwachsenen Frauen ganz zu schweigen. Und doch war der Keller in Mutters Absteige keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel. Überall in London waren in den letzten Jahren die Kaschemmen wie Pilze aus dem Boden geschossen, in den Elendsvierteln der Stadt, vor allem außerhalb der Stadtmauern, wurde in jedem zweiten Haus gebraut, gebrannt und ausgeschenkt. Und weil das selbst gebrannte und nach Gutdünken zusammengepanschte Zeug auch die hartgesottensten Trinker umhaute, war es zur guten Sitte geworden, die Schnapsleichen einfach in den Keller zu schaffen und dort ihren Rausch ausschlafen zu lassen.
Nicht selten waren aus den Schnapsleichen am nächsten Morgen tatsächliche Leichen geworden, allein in Mutters Schänke hatte sich in den letzten beiden Jahren ein gutes Dutzend Männer und Frauen am »Wacholderfluch« zu Tode gesoffen. Was jedoch niemanden davon abhielt, sich weiterhin bei ihr zu betrinken.
Immer wieder hieß es, der König oder der Lord Bürgermeister wollten die unzähligen Gin-Shops und Privatschänken verbieten lassen, doch nie geschah etwas, und weil dem so war, nahm ihre Anzahl von Jahr zu Jahr rasant zu. Ganz London befand sich im Gin-Wahn und trank den billigen Wacholderschnaps wie Wasser oder Dünnbier. Selbst Kinder torkelten tags wie nachts betrunken über die Straßen und wurden blind von dem höllischen Gesöff.
Blueskin ekelte das alles an. Zwar trank auch er gern mal etwas Branntwein oder Bier, aber er konnte es nicht ausstehen, wenn sich die Leute besinnungslos soffen und wie Schweine benahmen, um anschließend wie das Borstenvieh im eigenen Kot einzuschlafen. Auch jetzt war der Keller leidlich mit Betrunkenen gefüllt, wie Blueskin an dem Konzert der Schnarchenden und Schmatzenden erkannte. Und er war froh, dass es so dunkel im Raum war. Das ersparte ihm den widerlichen Anblick der grunzenden Ferkel in Menschengestalt.
Der irre Geoff hatte seinen Stammplatz in einer kleinen Nische im hinteren Teil des Raumes. Seit seiner Verwundung vor sechs Jahren schlief er beinahe jede Nacht dort, alle Gäste wussten, dass dies Geoffs Schlafplatz war, und niemand hätte gewagt, ihm diesen streitig zu machen. Die bösen Tiraden und erbosten Tritte mit dem Holzbein, die darauf unweigerlich folgen würden, wollte kein noch so Betrunkener über sich ergehen lassen.
Blueskin tastete sich an der Wand entlang, stolperte über Beine und Bäuche, trat auf Hände und Haare, was jeweils ein kleines Aufstöhnen oder Grunzen zur Folge hatte, und stellte schließlich zufrieden fest, dass ein menschliches Bündel zusammengekauert in Geoffrey Ingrams Nische lag. Er tastete das Bündel ab und bekam ein Holzbein zu fassen, das lose neben dem Schlafenden im Stroh lag.
»Geoff«, sagte Blueskin und stupste ihn mit dem Holzbein an. »Wach auf! Ich muss mit dir sprechen. He, Geoff, mach die Augen auf!«
»Ich schlafe nicht, Blueskin«, antwortete der irre Geoff, und seine Stimme klang tatsächlich nicht verschlafen. »Warum hast du dich verkleidet?«
»Woher weißt du das?«, wunderte sich Blueskin, der sein Gegenüber in der Finsternis nicht einmal als Schemen erkennen konnte. Dabei lag er nur eine Armeslänge von ihm entfernt.
»Du raschelst wie eine Frau«, sagte Geoff. »Bist du jetzt ein Molly?«
»Quatsch!«, knurrte Blueskin ärgerlich und warf das Holzbein ins Stroh. »Verdammtes Schandmaul!«
»Man munkelt, dass du tot bist«, antwortete der Alte und lachte. »Zu Kohle verbrannt. Hab kein Wort davon geglaubt. Bin zwar ein Krüppel, aber nicht auf den Kopf gefallen.«
»Du musst mir helfen, Geoff!«
»So, muss ich das?«
»Ich will nach Bedlam.«
»Kein schöner Ort.«
»Und wieder raus.«
»Kann ich verstehen.«
»Mit Hope. Sie haben sie dort eingesperrt.«
»Oh!«, meinte Geoff und pfiff leise durch die Zähne. »Schwierig.«
»Deshalb sollst du mir ja helfen«, sagte Blueskin und legte seine Hand auf Geoffs linkes Knie, direkt über dem Stumpf. »Du kennst dich in Bedlam besser aus als jeder andere. Du weißt, wie’s geht. Bist ja nicht auf den Kopf gefallen. Gemeinsam können wir Hope herausholen.«
»Ohne mich, Blueskin.«
»Du bist mir was schuldig.«
»Ach, kommst du jetzt mit den ollen Geschichten?«, höhnte der Alte. »Vergiss es. Such dir ’nen anderen Irren.«
Im gleichen Augenblick drückte Blueskin zu. Er umfasste Geoffs mageres Kniegelenk und quetschte es zwischen Daumen und Mittelfinger wie in einem Schraubstock, bis es leise knackte und Geoff vor Schmerz laut aufschrie.
»Schnauze, da drüben!«, beschwerte sich ein Schläfer.
»Selber Schnauze!«, brüllte Blueskin und ließ das Kniegelenk los. Dann wiederholte er seine Worte von vorhin: »Du bist mir was schuldig, Geoff!«
Geoffs Schreien war zu einem Winseln geworden, es klang wie das Wimmern eines Säuglings. Das Rascheln des Strohs verriet, dass er sich hin und her wälzte. Wieder legte Blueskin seine Hand auf Geoffs Knie, diesmal auf das rechte. Der Alte fuhr panisch zurück und bat: »Nicht wehtun, Blueskin. Bitte nicht wehtun!«
Blueskin ließ von Geoff ab. Vielleicht weil ihn die flehentlichen Worte an Hope erinnert hatten. Das Gleiche hatte seine Schwester gesagt, als er drauf und dran gewesen war, Henry die Kehle durchzuschneiden. Auch ein Ingram, wie Blueskin jetzt auffiel. Womöglich waren sie sogar verwandt? Verrückt waren sie jedenfalls beide.
»Morgen ist Sonntag«, sagte Blueskin und streichelte das Knie, als hätte er nie etwas anderes damit vorgehabt. »Besuchszeit. Um zehn Uhr. In Moorfields.«
»Mr. Wild wartet auf dich«, zischte Geoff zwischen den Zähnen.
»Ich bin tot«, lachte Blueskin, »weißt du doch.«
»Hältst du ihn wirklich für so dämlich?«, schnaufte Geoff verächtlich. »Dann wärst du dümmer, als ich dachte.«
Blueskin schluckte und schüttelte den Kopf, obwohl das in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Er dachte an Mr. Wilds Männer auf seiner Beerdigung. Vielleicht hatten sie gar nicht nach Jack, sondern nach ihm, Blueskin, Ausschau gehalten. Er wehrte den Gedanken ab, klopfte auf Geoffs Holzbein, das nutzlos auf dem Boden lag, und wiederholte: »Morgen früh um zehn. Sonst komme ich wieder.«
»Ay, Ma’am«, knurrte Geoff und setzte leise, aber doch vernehmlich hinzu: »Molly!«
»Schwachkopf!«, schimpfte Blueskin und stand auf.
Beim Hinausgehen trat er einem Trunkenbold auf den Fuß. Als der sich lautstark und lallend beschwerte, trat Blueskin ein zweites Mal zu. Diesmal mit voller Wucht. Die Beschwerde wurde zu einem Schmerzensschrei. Danach ging es Blueskin besser, und er hastete zur Treppe.