DREI
Archanes, Kreta. Zwei Wochen später
Die Einheimischen nannten den Berg «Antlitz des Zeus». Wie eine mächtige, gen Himmel geballte Steinfaust ragte er über dem Dorf und den umliegenden Weinhängen auf. In prähistorischer Zeit hatten die Minoer, die einem Stierkult huldigten, auf seinem Gipfel eine Kultstätte errichtet; Jahrtausende später hatte eine kleine, weißgekalkte Kirche diese Stätte ersetzt, doch noch immer pilgerten die Dörfler alljährlich im August den Berg hinauf, um an dem Heiligtum Opfer darzubringen. Mochten die Götter auch kommen und gehen, an den Sitten der Insel änderte sich wenig.
Hätte welcher Gott auch immer an diesem Aprilmorgen gegen elf Uhr den Blick gesenkt, hätte er gesehen, wie der klapprige alte Bus auf den Dorfplatz schnaufte und eine Schar Fahrgäste absetzte – hauptsächlich Bauern, die vom Markt zurückkehrten. Viele strebten dem kaphenion zu, um dort bei einem Kaffee ihre Schwätzchen oder Dispute fortzusetzen, ein Fahrgast aber schlug die entgegengesetzte Richtung ein und bog in die schmale Gasse, die hinaufführte zum Fuß des Berges. Niemand schenkte ihm viel Beachtung, obwohl er allen auffiel. Seit damals die Deutschen gekommen waren, hatten sich die Einwohner an das plötzliche Auftauchen von Fremden in ihrem Dorf gewöhnt. Leidvolle Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es immer am sichersten war, sie nicht weiter zu beachten.
Grant marschierte bis zum Rand des Dorfes, wo die Gasse in einen Feldweg mündete, der zwischen Apfelbäumen hindurchführte. Das Gelände stieg steil an, dem Berg entgegen, und genau dort, wo das Nutzland in Geröll und wildes Gras überging, stand ein Haus aus Stein. Hühner scharrten um eine verrostete Traubenpresse im Vorgarten herum, und Bündel noch ungesetzter Rebstöcke lehnten an der Hauswand, die Fensterläden aber waren frisch gestrichen, und aus dem Schornstein stieg eine dünne Rauchfahne auf. An den Aprikosenbäumen seitlich des Hauses zeigte sich das erste frische Grün.
Grant blieb einen Moment lang stehen und ließ den Anblick auf sich wirken, dann trat er durch das Gartentor und ging leise die Treppe zur Haustür hoch, die sich – wie bei Häusern in griechischen Dörfern üblich – im ersten Stock befand. Er klopfte nicht; stattdessen pfiff er ein paar Takte eines wehmütigen griechischen Marschliedes.
Der vom Berg her kommende Wind stahl ihm die Töne von den Lippen weg und trug sie davon. Raschelnd fuhren die Böen durch die Wildblumen. Ein loser Fensterladen schlug gegen die Hausmauer. Damit es ihm nicht den Hut vom Kopf wehte, nahm Grant ihn ab und schob ihn sich unter den Arm. Er stammte von einem Basar in Alexandria, wo er ihn drei Tage zuvor in aller Hast besorgt hatte, und leider war er ein wenig zu groß.
Er wartete noch eine Minute und entschied dann, später wiederzukommen. Er wandte sich um und – zuckte zusammen.
Trotz seiner gründlichen militärischen Ausbildung hatte er nicht gehört, wie sie hinter ihm die Treppe hochgekommen war. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und ein schwarzes Kopftuch. Von hinten hätte man sie wohl für eine jener alten Frauen halten können, die aus keinem griechischen Dorf wegzudenken waren, so knorrig und krumm wie die Olivenbäume und ebenso sehr Teil der Landschaft. Von vorne aber sah man, dass ihr Kleid tailliert war und ihre hübsche Figur zur Geltung brachte und dass die Knöchel unter dem Rocksaum schlank waren. Ihr dunkles Haar unter dem Kopftuch war zurückgebunden, bis auf eine Strähne, die ihr lose über die Wange hing, was die wilde Schönheit ihres Gesichts nur noch mehr zu unterstreichen schien.
«Grant?» Sie verzog unwillig das Gesicht, und ihre dunklen Augen funkelten. «Ich hätte nicht gedacht, dass du noch einmal hier auftauchst. Dass du es wagen würdest.»
Ihre Stimme klang genau so, wie er sie in Erinnerung hatte, und sprach die englischen Worte mit einer Flinkheit aus, die an das Flackern einer Flamme denken ließ. Er setzte seinen Hut wieder auf, um ihn mit gespielter Höflichkeit lüften zu können. «Marina, ich …»
«Ich hätte nur einen Grund, dich wiedersehen zu wollen, nämlich, um dich umzubringen.»
Grant zuckte mit den Schultern. «Dafür ist später noch Zeit. Ich bin hergekommen, um dich zu warnen.»
«Ungefähr so, wie du Alexei gewarnt hast?»
«Ich habe deinen Bruder nicht getötet.» Grant sprach betont langsam, sachlich.
«Nein?» Sie kam nun langsam näher, sichtlich vor Wut bebend, und Grant machte sich auf alles gefasst. Er hatte sie nie unterschätzt. Viele Männer hatten diesen Fehler begangen und es bitterlich bereuen müssen. «Drei Tage nach dem Hinterhalt ist er zu einem Treffen mit dir in der Schlucht bei Impros aufgebrochen. Keiner von euch beiden ist je zurückgekehrt – doch nur einer von euch ist jetzt noch am Leben.»
«Ich schwöre, sein Tod hatte nichts mit mir zu tun.» Was nicht die volle Wahrheit war. Ihm war, als könnte er wieder die bittere Galle schmecken, die sich hinten in seiner Kehle gestaut hatte, während er mit dem Webley in der Schlucht wartete und der Schweiß ihm wie Tränen in den Augen brannte. «Herrgott, er war doch fast wie ein Bruder für mich.»
Er hätte noch so viel mehr sagen können, aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Und er hatte nicht viel Zeit. Er warf einen Blick über die Schulter und sah dann wieder Marina an. «Ich bin hier, um dich zu warnen.» Er wiederholte sich, das war ihm klar. «Erinnerst du dich an das Buch?»
Sie reagierte befremdet. «Wie bitte?»
«Das Buch. Das Notizbuch des Archäologen, das ich dir zur Aufbewahrung gegeben habe. Weißt du noch?»
Eine plötzliche Windböe erfasste ihr Kopftuch und wirbelte es davon. Es segelte über den Garten hinweg, bis es in den Ästen eines Baums an der Mauer hängen blieb. Marinas lange Haare flatterten hinter ihr im Wind, wild und ungezähmt.
«Ich kann mich nicht erinnern.»
«O doch, das kannst du. Zwei Tage nach der Invasion. Ich habe es hergebracht – der Archäologe hatte mich darum gebeten. Du warst bestürzt darüber, dass er umgebracht worden war.»
«Pemberton war ein guter Mensch», sagte Marina leise. «Ein guter Engländer.» Sie starrte Grant wortlos an. Eine Träne schimmerte in ihrem Augenwinkel. Sie würde nicht hinabrollen, aber sie würde sie auch nicht fortwischen. Grant stand einfach nur da und wartete.
Dann traf sie offenbar eine Entscheidung.
«Komm mit rein.»
Das Haus hatte sich kein bisschen verändert: eine Küche, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, alles sehr einfach, aber sauber und aufgeräumt. In dem steingemauerten Kamin glomm ein verkohltes Holzscheit vor sich hin, und auf den Fensterbrettern standen Vasen mit Wiesenblumen und getrocknetem Lavendel. Die Wände waren mit Fotografien geschmückt: ein Mann mit einem breitkrempigen Hut, der auf einem Esel saß und sichtlich für die Kamera stillhielt; zwei lachende junge Frauen an einem Flussufer; ein junger Mann in Uniform, ein Wehrpflichtiger offenbar, aus dessen schmalem Gesicht der Entschluss sprach, tapfer auszusehen. Dieses Foto übersah Grant bewusst.
Marina verschwand in die Küche und kam einige Minuten später mit zwei winzigen Tässchen Kaffee und zwei Gläsern Wasser zurück. Außerdem hatte sie sich, wie Grant auffiel, das Haar frisch gebürstet. Sie stellte die Getränke auf der Spitzentischdecke ab und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Grant nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Das Gebräu war dickflüssig wie Teer.
«Schmeckt dir der griechische Kaffee nicht mehr?»
«Wollte bloß prüfen, ob er Strychnin enthält.»
Das brachte Marina trotz allem zum Lachen. «Wenn ich dich umbringe, dann mit meinen eigenen Händen, das verspreche ich dir.»
«Dann wäre das ja geklärt.» Grant setzte das Tässchen an die Lippen und leerte es mit einem Zug. Er sah zu, wie sie ihren Kaffee trank. Siebenundzwanzig musste sie jetzt sein, überlegte er – magerer als an dem Tag, als er in ihr Haus gehumpelt kam, doch immer noch von derselben wilden, unberechenbaren Schönheit. Schon damals hatten sie und ihr Bruder sich einen Namen in der Andartiko gemacht, dem griechischen Widerstand. Dank der Unterstützung durch Grant, der sie mit Material versorgte, entwickelten sie sich in den Monaten darauf zu überaus ernst zu nehmenden Widersachern der Deutschen. Und daneben war aus Grant und Marina ein Liebespaar geworden. Es war eine heimliche Affäre gewesen, verborgen gehalten vor Deutschen wie auch Griechen; kurze Momente des Glücks in Schäferhütten und hinter Bruchsteinmauern, gewöhnlich in der Hitze des Tages, denn abends brachen sie zu ihren Missionen auf. Nur zu gut erinnerte sich Grant, wie der Schweiß an ihrem Hals geschmeckt hatte; erinnerte sich an das Rascheln von Myrte und Oleander; an ihr Stöhnen und daran, wie er sie mit Küssen zum Schweigen zu bringen versuchte. Die Zeiten waren brutal und erbarmungslos gewesen, doch das hatte den Sex nur noch dringlicher gemacht, lebendiger. Bis all das an jenem blendend sonnigen Tag im April ein Ende fand, in einer Schlucht in den Weißen Bergen, wo sich der Geruch von Kordit in den Rosmarinduft mischte.
Grant merkte, dass sie ihn anschaute, und trank hastig einen Schluck Wasser.
«Du bist also hergekommen, um mich zu warnen. Weswegen – wegen Pembertons Notizbuch?»
Inzwischen hatte sie ihre Gefühle im Griff und war ruhiger, sprach mit kurz angebundener Höflichkeit. Doch ihre Wangen waren noch immer gerötet.
«Das ist …» Er zauderte. «Das ist eine lange Geschichte.»
«Dann erzähl sie mir von Anfang an.» Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. «Erzähl mir, was du erlebt hast, seit du Kreta verlassen hast.»
«Ich bin nach England zurückgekehrt.» Schon diese schlichte Feststellung barg eine Fülle von Geschichten: seine Landung per Motorschlauchboot an der Küste bei Dover, im Schutz der Dunkelheit; ein schäbiges Zimmer über einem Café in der Old Compton Street; besorgte Blicke durch die Gardinen, sobald ein Bobby die Straße entlangkam; mitternächtliche Treffen in den Ruinen ausgebombter Häuser. «Dann war ich eines Tages auf der Baker Street unterwegs, und ein Mann ist mit mir zusammengerempelt. Buchstäblich – es war mehr wie ein Tackle beim Rugby. Der Mann war schrecklich verlegen, hat sich vielmals entschuldigt, wollte mir unbedingt eine Tasse Tee ausgeben. Ihm lag so viel daran, dass ich ja sagte.»
«Er war ein Spion?»
«Ich glaube, er arbeitete bei Marks & Spencer. Einem Bekleidungsgeschäft», setzte Grant hinzu, als er ihren verständnislosen Blick bemerkte. «Und er war Jude. Er erzählte mir von ein paar Freunden, die unsere Regierung dazu zu bewegen versuchten, Palästina den Hebräern zu überlassen. Weiß der Himmel, wie sie mich ausfindig gemacht hatten, aber man hatte die Vermutung, ich könnte ihnen behilflich sein, an Waffen zu kommen.»
«Und?»
«Ihre Vermutung war richtig. Während des Kriegs hatten wir überall im Mittelmeerraum Waffenlager angelegt, und man konnte davon ausgehen, dass einige davon unberührt geblieben waren. Man händigte mir eine Summe Bargeld aus, ich kaufte ein Boot, und damit waren wir im Geschäft. Du weißt, wie das läuft. Man fängt eine Sache an, es spricht sich herum, und bald klopfen andere Leute bei einem an die Tür, die dasselbe wollen. Einen Krieg haben wir beendet, aber ein anderer fängt bereits wieder an. Nur sind jetzt die Amateure auf den Geschmack gekommen und wollen mit den Profis gleichziehen, und sie sind bereit, dafür viel Geld auszugeben.»
«Du beschaffst ihnen also die Waffen, mit denen sie sich gegenseitig umbringen.»
Grant zuckte die Achseln. «Umbringen würden sie sich auch so. Ich bin bloß dabei behilflich, die Verhältnisse etwas auszugleichen. Aber vor drei Wochen ist dann alles aufgeflogen. Die Army ist mir auf die Schliche gekommen; man hat mich schon am Strand erwartet.» Er neigte sich über den Tisch. «Und genau hier wird es interessant. Ein Kerl hat mich im Gefängnis besucht – ein englischer Geheimagent. Palästina war ihm völlig egal, und auch um meine Waffen ging es ihm nicht. Er wollte von mir wissen, wo sich Pembertons Notizbuch befindet.»
Jetzt war Marinas Interesse geweckt, und auch sie beugte sich vor. Grant versuchte, nicht darauf zu achten, wie nah ihr Gesicht dem seinen war. «Aber woher wusste er davon?»
«Ich hatte es wohl in meinem Bericht erwähnt – dass Pemberton es mir vor seinem Tod ausgehändigt hat. Der Kerl, der bei mir war, hat nur ungefähre Fragen gestellt. Aber ihm lag offenbar eine Menge daran – immerhin war er extra aus London gekommen, um mich darüber auszuhorchen. Hat mich mit Geld geködert, damit, mich aus dem Gefängnis zu holen. Vermutlich wäre sogar ein Schlag zum Ritter drin gewesen, wenn ich mit ihm gefeilscht hätte.»
«Was hast du ihm gesagt?»
«Was glaubst du denn? Dass er sich zum Teufel scheren soll natürlich.»
«Aber trotzdem hat er dich aus der Haft befreit.»
«Ich bin getürmt.»
«Und bist direkt hierhergekommen – wieso? Um dir das Buch selbst zu sichern?»
Grant griff unvermittelt über den Tisch und packte sie an den Händen. Sie schnappte überrascht nach Luft und versuchte sich loszumachen, aber er war zu stark für sie. «Um dich zu warnen. Dieser englische Schlapphut ist extra in ein Kerkerloch in Palästina gekommen, um in Erfahrung zu bringen, ob ich es noch habe, sechs Jahre nach dieser Geschichte. Ich halte ihn nicht für einen netten Menschen. Er weiß, dass ich das Buch hatte; er weiß von meiner Verbindung zu dir, und er weiß von deiner Verbindung zu Pemberton. Da wird es nicht lange dauern, bis er eins und eins zusammengezählt hat.» Er sah ihr direkt in die Augen. «Hast du das Buch noch?»
Marina wehrte sich weiter gegen seinen Griff, warf zornig den Kopf zurück. «Was hast du damit vor? Willst du es diesem Kerl verkaufen?»
Grant ließ los, zog seine Hände so rasch zurück, dass Marina förmlich auf ihrem Stuhl zurückflog. Ihre Brust hob und senkte sich heftig unter ihrem Kleid, und die lose Haarsträhne hing ihr wieder über die gerötete Wange.
«Kommt darauf an, was wir in dem Buch finden. Wenn es hier bloß um ein paar Keramikscherben und irgendwelche Steine in der Erde geht, warum nicht? Aber wenn es um etwas Wertvolleres geht …» Er hielt kurz inne. «Du hast für Pemberton gearbeitet – hast mir mal erzählt, dass Knossos praktisch dein Sandkasten war, als du klein warst. Falls er nun etwas Wertvolles gefunden hat, irgendetwas, das all diesen Aufwand rechtfertigt, interessiert es dich da nicht, was das war?»