DREIUNDDREISSG

Oxford, Trinity Term 1947

«Homer hatte nie die Intention, dass der Schild des Achill im wörtlichen Sinne als realer Gegenstand aufgefasst werden sollte. Der Schild, wie er in der Ilias beschrieben wird, stellt gleichsam eine Metapher für die Welt dar – eine flache Scheibe, von einem Gott erschaffen, begrenzt vom Okeanosstrom, der sämtliche Sterne, Sonne und Mond umschließt; Krieg und Frieden; Handel und Ackerbau; Arbeit und Vergnügen; Götter, Menschen und Tiere.»

Der Student schaute unsicher auf. Er hatte diese Passage etwas ausgeschmückt in einem leicht verzweifelten Versuch, Zeit zu schinden. Bisher schien sein Professor es nicht bemerkt zu haben. Es kam dem Studenten nicht in den Sinn, dass dem Professor genau wie ihm selbst daran gelegen sein könnte, die Tutoriumszeit möglichst schmerzlos herumzubringen.

«Aber in Wirklichkeit ist dieses strahlende Artefakt aus Worten geschmiedet, nicht aus Metall. Offenbar erwartet der Dichter von seinen Lesern für diese Ekphrasis ein gewisses Aussetzen des Zweifels. Ein solch schweres, wuchtiges Kriegsgerät wäre auf dem Schlachtfeld praktisch nicht brauchbar gewesen. Bei allem poetischen Tiefgang und aller schillernden Kraft müssen wir – wenn auch mit Bedauern – den Schild in den Bereich der Fiktion verweisen, ein Triumph der Vorstellungskraft Homers, erdacht in einem Zeitalter, in dem die praktischen, technischen Aspekte der Kriegsführung in der Bronzezeit bereits durch Legende verklärt waren.»

Reed starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Draußen auf der Turl Street flirteten sommerlich gekleidete Frauen mit Männern in Blazern und Flanellhosen. Auf dem makellosen Rasen jenseits der Collegemauern stießen Krocketkugeln aneinander. Reed nahm nichts davon wahr. Vor seinem geistigen Auge liefen andere Bilder ab: Er stand an einer Felskante und hielt gemeinsam mit Grant das Seil, an dem sie den Schild hinunterzulassen versuchten, ohne dass er in den See fiel. Er stolperte entlang dem von Pflanzen halb überwucherten Fluss zurück, watete durch das flache Wasser und bemühte sich dabei, Marina mit ihrem gebrochenen Bein zu stützen. Er war wieder in der Lagune, kletterte in das Flugboot und betete, dass nicht noch mehr Russen kämen.

Ihm wurde bewusst, dass sein Student zögerte – offenbar hatte er Reeds abwesenden Blick bemerkt und wollte den Professor nicht in seinen zweifellos tiefgründigen Überlegungen stören. Manchmal, fand Reed, hatte es klare Vorteile, im Ruf eines weltfremden Genies zu stehen. Er lächelte. «Fahren Sie fort.»

«Das Bedeutsame ist die Tatsache, dass Homer den Schild gerade Achilles zuschreibt. Er scheint damit auszusagen, dass Achilles die gesamte Welt in der Hand hält. Wenn er kämpft, ist es die Erde selbst, die unter den Streichen erbebt.

In unserem Zeitalter der Atombombe und des staatlichen Gesundheitssystems gelingt es der ungezügelten Gewalt und dem hochmütigen Elitismus, den Achilles verkörpert, womöglich nicht mehr, unsere Sympathie zu wecken.» Der Student blickte flüchtig auf und fragte sich, ob solche konkreten Realitätsbezüge zu gewagt waren, ob sein ätherischer Professor überhaupt schon einmal von der Atombombe oder einem staatlichen Gesundheitssystem gehört hatte. «Odysseus, der List höher bewertet als Stärke, der zehn Jahre lang leidet, um endlich nach Hause zurückzukehren und seine Familie zu retten, erscheint als ein weitaus realistischerer Held in diesem Land, in diesem Jahrhundert.

Doch ich möchte behaupten, wenn wir eine bessere Welt aufbauen wollen, ist es Achilles, der die Parabel der Erlösung bietet. Gewiss, für weite Passagen der Ilias lässt er sich von Zorn beherrschen, ungeachtet der Verheerung, die dieser Zorn über alle bringt, die ihm nahestehen: seine Mitstreiter, seine Gefährten, selbst seinen engsten Freund Patroklos. Doch das Gedicht zeigt, wie er menschlich wird, wie er sich vom besinnungslosen Zorn abwendet, hin zu einem Verständnis seiner Verantwortung gegenüber der Welt.

Metaphorisch gesprochen, existieren wir alle auf dem Schild des Achilles. Wenn die Krieger sich zur Schlacht rüsten, erzittern wir. Wollen wir die neuen Schrecken der Moderne überleben, so müssen wir hoffen, dass der destruktive Zorn, der das Handeln der Menschen bestimmt, durch Vernunft gemildert werden kann, durch ein Gefühl der Verpflichtung und vor allem durch Mitleid.»

Er schob seine Papiere wieder zusammen und legte sie auf den Tisch.

Der Professor schaute ihn aus seinem Ohrensessel schläfrig an. «Sagen Sie mir», begann er schließlich, «glauben Sie an Homer?»

Der Student machte ein erschrockenes Gesicht. Auf diese Frage war er nicht vorbereitet. «Nun, ähem, Schliemanns Funde in der Türkei werfen zweifellos gewisse Fragen auf. Und in Mykene.» Er dachte verzweifelt nach – und zu seiner Überraschung fiel ihm eine Antwort ein. «Ich glaube, im Grunde kommt es darauf gar nicht an.»

Eine weiße Augenbraue hob sich erstaunt. «Nein?»

«Die Dichtung selbst ist das, worauf es ankommt. Sie ist real. Sie ist über zweieinhalb Jahrtausende erhalten geblieben, viel länger als alles, was Menschen aus Metall oder Holz geschaffen haben. Und …» Er suchte nach einer Möglichkeit, seine These zu untermauern. Ein Klopfen an der Tür rettete ihn.

«Entschuldigen Sie, Professor. Da ist ein Gentleman an der Pforte, der Sie sprechen möchte. Er sagt, er kommt aus London.»

Reed schien nicht überrascht; er hatte seit seiner Rückkehr nach Oxford damit gerechnet. Es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche hinauszuzögern.

«Würde es Ihnen etwas ausmachen, in einer Stunde wiederzukommen?», sagte er entschuldigend. «Es wird nicht lange dauern.»

Der Student, der sein Glück kaum fassen konnte, nahm seinen Essay und verließ hastig den Raum. Kurz darauf führte der Pförtner den Besucher herein, einen jungen Mann in blauem Anzug, der sich auf die vordere Kante des Sofas setzte und seinen Hut in beiden Händen hielt.

«Wright», stellte er sich vor. Sein Gesicht war eher gutmütig als hübsch, doch in seinen Augen lagen eine lebhafte Intelligenz und ein Ausdruck von subtilem Humor. «Danke, dass Sie mich empfangen, Professor.»

Reed winkte gnädig ab.

«Es geht um einen meiner Kollegen, einen Mann namens Muir. Soweit ich informiert bin, hatten Sie mit ihm zu tun.»

«Ich habe im Krieg mit ihm zusammengearbeitet. Vor ein paar Wochen kam er zu mir und wollte, dass ich ihm helfe, ein antikes griechisches Artefakt zu finden. Ich glaube, er arbeitete mit den Amerikanern zusammen.»

«Das sind auch unsere Informationen.» Wright drehte seinen Hut zwischen den Händen. «Viel mehr konnten wir allerdings nicht herausfinden. Muir war ein eigentümlicher Zeitgenosse. Offen gesagt besteht der Verdacht, dass er in gewisse seltsame Machenschaften verstrickt war.»

Reed gab sich alle Mühe, desinteressiert zu wirken. «Er war schon immer ein wenig … unorthodox. Was hat er nun wieder angestellt?»

«Tja, das ist es, was wir herauszufinden versuchen. Sie müssen wissen, er ist verschwunden. Wir hatten gehofft, Sie könnten etwas Licht in die Angelegenheit bringen.»

Wrights Besuch dauerte eine Stunde. Reed beantwortete seine Fragen, so gut er konnte – anders ausgedrückt, er bemühte sich, so wenig wie möglich zu sagen, was eindeutig gelogen oder leicht zu widerlegen war. Wright machte sich eifrig Notizen und runzelte die Stirn in seiner Anstrengung, sich nichts entgehen zu lassen.

«Wir versuchen auch, diesen Mr. Grant aufzuspüren.»

«Ja», erwiderte Reed, «das denke ich mir. Ich bezweifle allerdings, dass Sie ihn finden werden.»

«Haben Sie irgendeine Ahnung, wo er sich möglicherweise …»

«Eigentlich nicht. Mir ist, als hätte er einmal Kanada erwähnt.»

Wright machte ein überraschtes Gesicht. «Oh. Das ist uns allerdings neu. Vielen Dank.»

Er stand auf und schüttelte Reed die Hand. An der Tür blieb er noch einmal zögernd stehen. «Dieses … homerische Artefakt – Sie glauben doch nicht, dass an der Sache etwas dran war, oder? Ich meine, es besteht nicht vielleicht die Möglichkeit, dass es noch auftaucht?»

Reed lächelte. «Das kann ich mir nicht vorstellen.»


Das Flugzeug flog durch die Nacht nach Südwesten, hoch über dem Meer, das so viele Götter und Heroen überdauert hatte. Grant steuerte die Maschine. Hinter ihm lag Marina unter einer Decke auf dem Boden, das Bein in einer Schiene.

Reed kam nach vorn und zwängte sich auf den Kopilotensitz. «Wo sind wir gerade?»

Grant schaute auf die Uhr. «Kurz hinter den Dardanellen. In ein paar Stunden müssten wir Athen erreichen.»

Reed drehte sich auf seinem Sitz herum und richtete den Blick nach hinten in die Kabine. Vom Heck des Flugboots, mit Gurten an einem Stahlspant befestigt, starrte der geschundene Schild zurück. Daneben lag ein Segeltuchsack, gefüllt mit allerlei seltsam geformten Gegenständen.

Grant bemerkte seinen Blick. «Stellen Sie sich vor, wie sich die Sachen im British Museum machen würden?»

Reed seufzte. «Sie wissen, dass wir sie nicht behalten können. Die Amerikaner würden sie im Handumdrehen an sich bringen.»

Grant neigte das Flugzeug ein wenig nach links. «Glauben Sie wirklich, man könnte daraus eine Bombe machen?»

«Sind Sie bereit, das Risiko einzugehen?»

Grant erwiderte nichts. Sie flogen ein paar Minuten lang schweigend weiter. Dann zeigte Reed auf eine kleine Lichtinsel in der Dunkelheit unter ihnen. «Das muss Lemnos sein.»

«Vielleicht sollten wir dort landen und den Schild in dem Tempel verstecken, den wir gefunden haben. So lange, bis über die ganze Angelegenheit Gras gewachsen ist.»

«Nein. Selbst dort würde ihn früher oder später jemand finden.»

«Jemand wird ihn ohnehin finden. Man kann einen Fund nicht ungeschehen machen.»

«Er war bereits seit dreitausend Jahren verschollen. Wenn er für weitere dreitausend Jahre verschollen bliebe, würde ich mich nicht beklagen.»

Grant starrte ihn überrascht an. «Aber der Schild ändert alles. Er beweist, dass die ganze Legende wahr ist: Homer, Achilles, Troja – alles. Er ist … er ist Geschichte.»

Reed starrte durch die Cockpitscheibe. «Das ist es ja gerade. Die Welt hat schon genügend Geschichte – und täglich wird es mehr. Aber niemand schafft mehr Mythen. Und gerade die brauchen wir. Als ich damals in Kensington Schliemanns Vortrag hörte, ging es nicht um die Tatsache, dass all das wahr ist – es ging darum, glauben zu dürfen, dass es wahr sein könnte. Was uns inspiriert, ist das Staunen – die Unsicherheit, das köstliche Nichtwissen. Eine Empfindung von etwas, das man um Haaresbreite nicht greifen kann. Die Geschichte rückt es wieder in unsere Reichweite.»

Er löste seinen Sicherheitsgurt und ging zum Heck des Flugzeugs. Grant versuchte nicht, ihn zurückzuhalten. Als die Kabinentür sich öffnete, drang heulender Sturmwind herein. Marina regte sich unter ihrer Decke und schlug die Augen auf. Reed hielt sich an den Streben in der Decke fest, stolperte zu dem Schild und band ihn los. Er nahm die Bleidecken ab, in die er gewickelt gewesen war. Einen Moment lang kniete er davor, starrte auf die lebenstrotzenden Bilder in dem Metall. Dann stand er auf, rollte den Schild zur Tür und stieß ihn hinaus in die stürmische Finsternis.

Das Flugzeug flog weiter in die Nacht hinein. Unten auf dem Wasser sah niemand die kleine Fontäne, die der Schild aufspritzen ließ – oder falls doch, glaubten die Leute, ein Delphin bräche durch die Wellen. Das Wasser war tief; der Schild sank schnell. Und wenn jemals ein Sirenengesang zu der Stelle tief unten im Meer drang, wo er ruhte, oder ein Krake vorbeiglitt oder der Schatten einer Meeresnymphe über ihn hinstrich, so würde die Geschichte niemals davon erzählen.

Der vergessene Tempel
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