ACHTZEHN

Eine erdrückende Stille lastete über der Bibliothek. Teils lag es am Wetter, das nach einer Woche frischer Aprilbrise nun in schwüle Hitze umgeschlagen war, teils an den vielen Menschen im Saal. Die Osterfeiertage waren vorüber, und die Klientel der British School, eine bunte Schar aus Studenten, Künstlern und Wissenschaftlern, fand sich nach und nach wieder ein. Sie saßen an Tischen entlang den Wänden und brüteten über Büchern, die beinahe so alt schienen wie die Zivilisationen, von denen sie berichteten. Grant, der sich mit einer Zeitung am Fenster niedergelassen hatte, fühlte sich wieder einmal völlig fehl am Platz inmmitten all der geschäftigen Gelehrsamkeit. Außerdem hatte er die Auseinandersetzung mit Muir in der vergangenen Nacht noch nicht vergessen.


«Und das war alles? Er hat Sie weggeschickt, und Sie sind brav gegangen? Wie ein verdammtes Hündchen?»

Grant hatte sich kaum die Mühe gemacht zu protestieren. «Wir waren auf seinem Terrain. Und außerdem hatte er einen Gorilla dabei für den Fall, dass ich etwas versuchen sollte.»

«Wenn Sie uns Bescheid gesagt hätten, wohin Sie gehen – statt sich mit dem Mädchen davonzustehlen wie ein Händler in Bongor –, hätten wir Ihnen folgen können. Dann wüssten wir jetzt verdammt nochmal eine Menge mehr.»

«Dazu war keine Zeit. Molho hatte es so arrangiert. Wenn Sie versucht hätten, uns zu folgen, hätte er uns wahrscheinlich einfach irgendwo abgesetzt.» Grant musste an das Loch in dem Autositz denken. «Oder Schlimmeres.»

Muir stieß mit seiner Zigarette in die Luft, wobei die Spitze Grants Gesicht gefährlich nahe kam. «Im Augenblick ist dieser Jude unsere einzige Spur zu der zweiten Hälfte der Schrifttafel. Wenn er sich wieder meldet, wagen Sie es nicht noch einmal, Ihre verdammte Freundin zu rufen. Dann rufen Sie gefälligst mich. Sonst ist Schluss mit unserer Zusammenarbeit, und ich sorge dafür, dass Sie ganz schnell wieder in einer Zelle in irgendeinem beschissenen Winkel des Empires hocken, schneller, als Sie einen Furz lassen können. Kapiert?»


Grant ließ seine Zeitung sinken und schlenderte zu Marina hinüber. Ihr Bücherstapel war gewachsen, reichte allerdings noch nicht an den von Reed heran, der ihr gegenübersaß. Grant schaute ihr über die Schulter. «Woran arbeitest du gerade?»

Sie lehnte sich zurück, damit er sehen konnte, was sie vor sich hatte. Es war das seltsame Buch mit den eingeklebten Textausschnitten in Griechisch. Zuunterst stand in einer säuberlichen Zeile in verblasster Schreibschrift etwas, das wie eine Aneinanderreihung unsinniger Zahlen und Buchstaben aussah: «Paus. III: 19.11; Strab. VII: 3.19; Lyk. Alex.: 188; Arr. Per.: 21.»

«Was ist das, ein Kreuzworträtsel?»

Marina seufzte. «Das sind Quellenangaben – Stellen in den antiken Texten, wo die Weiße Insel erwähnt wird. Pausanias hat einen Reiseführer über Griechenland geschrieben, eine Art antiken Baedeker. Strabo war ein Geograph des ersten Jahrhunderts. Von Lykophron stammt ein nur in wenigen Bruchstücken erhaltenes Gedicht über den Trojanischen Krieg, und Arrianos war ein römischer Funktionär, der für Kaiser Hadrian eine Beschreibung des Schwarzen Meeres verfasst hat.»

«Und, schreiben die irgendwas Brauchbares?»

«Sie alle geben an, dass die Weiße Insel irgendwo im Schwarzen Meer liegt.» Marina legte ihren Stift ab. «Aber davon abgesehen sind sie sich in keinem Punkt einig. Pausanias und Lykophron sagen, an der Mündung der Donau; Arrianos schreibt nur, sie liegt irgendwo im offenen Meer, und laut Strabo befindet sie sich etwa fünfhundert Stadien von der Mündung des Dnjestr entfernt.»

«Wie weit ist das in harter Währung?»

«Etwa hundert Kilometer – aber er sagt nicht, in welcher Richtung.» Sie blätterte in ihren Unterlagen. «Bei Plinius habe ich auch eine Erwähnung gefunden. Er behauptet wiederum, die Weiße Insel läge an der Mündung des Dnjepr. Was Entfernungsangaben betrifft, sind die antiken Geographen nicht besonders zuverlässig, aber sowohl die Mündung der Donau als auch die des Dnjepr liegen etwa hundert Kilometer von der des Dnjestr entfernt.»

Grant kratzte sich am Kopf. «Diese Insel liegt also entweder bei der Donau oder beim Dnjepr oder noch ganz woanders.» Er warf einen Blick zu Reed, der am Tisch gegenüber in einen Wust von Fotokopien und gekritzelten Symbolen versunken war. «Aber hat er nicht gesagt, dass diese Insel nur eine Legende war? Eine Art mythisches Paradies für tote Heroen?»

«Ich glaube, da hat er sich geirrt. In sämtlichen Textstellen, die ich gefunden habe, wird als Einziger Heros Achilles erwähnt, allenfalls noch sein engster Freund Patroklos. Die Weiße Insel war kein allgemeines Paradies. Offenbar wurde sie ausschließlich zu Achilles in Beziehung gesetzt.»

«Und du denkst, dadurch ist es wahrscheinlicher, dass sie tatsächlich existiert?»

«Irgendwie müssen die Berichte ja zustande gekommen sein. Es gibt sonst zu keinem der Heroen eine vergleichbare Legende. Es muss einen Grund dafür geben, dass diese besondere Geschichte sich gerade um Achilles rankt.»

Sie zog eins der Bücher zu sich heran. «Laut Arrianos gibt es auf dieser Insel einen Achillestempel. Plinius geht sogar noch weiter und behauptet, dass sich dort auch sein Grab befindet.» Marinas Augen funkelten lebhaft, ein krasser Gegensatz zu der verstaubten Atmosphäre der Bibliothek. «Was, wenn es wirklich ein realer Ort war – beziehungsweise ist? Der verlorene Tempel des Achilles, und darin sein Grab. Niemand hat es je gefunden.»

«Weil sie sich alle nicht einig sind, wo es sein soll. Außerdem, selbst wenn das alles wahr wäre – wer sagt denn, dass dieser magische Schild überhaupt in dem Tempel ist?»

«Ich denke, dorthin hat Odysseus ihn auf seinem Heimweg nach Ithaka gebracht, als Opfergabe an den toten Heros. Ein so großer Teil seiner Geschichte spielt sich im Schwarzen Meer ab – das ergäbe keinen Sinn, wenn er nicht einen Grund gehabt hätte, dorthin zu segeln.»

«Ich dachte, die Stürme haben ihn vom Kurs abgebracht.»

«Kein Sturm kann ein Schiff von Troja bis ins Schwarze Meer treiben. Die Durchquerung der Dardanellen in dieser Richtung war sogar als ausgesprochen schwierig bekannt. Und im Schwarzen Meer angekommen, segelt Odysseus immer weiter nach Osten. Hier, sieh mal.» Sie zog ein weiteres Blatt hervor, eine Liste, deren einzelne Punkte durch Pfeile miteinander verbunden waren. «Das sind die Episoden, in denen es Hinweise darauf gibt, dass sich die Handlung im Schwarzen Meer abspielt. Sie folgen fast alle aufeinander, sodass der Eindruck eines geographischen Zusammenhangs entsteht. Und das Kernstück – der eigentliche Zweck von Odysseus’ Reise dorthin – ist sein Abstieg in die Unterwelt.»

Hast du des Okeanos Flut gequert
Zum öden Gestad, wo Sirenenrufe man hört
Und die Heroen vergangener Tage ehrt,
Dort bei Persephones Reich
Lande dein Schiff sogleich
Wo Pappeln sich wiegen und düst’re Weiden
Hier sollst du aus dem Leben scheiden
Zur selben Stund hinabzusteigen
In die Moderhallen des Todes.

«Odysseus geht dorthin. In einer Schlucht, wo sich zwei Flüsse vereinen, bringt er ein Opfer dar und öffnet die Pforte zum Hades.» Sie hielt Grant das Buch hin. Auf der aufgeschlagenen Seite befand sich eine entsprechende Abbildung, ein düster wirkender Holzschnitt: Ein Schiff wurde auf einen von Pappeln gesäumten Strand gezogen. Die Baumstämme ragten so gerade und hoch auf, dass sie an die Gitterstäbe eines Käfigs erinnerten. In der Mitte der Seite stürzten zwei weiße Flüsse über die Felshänge eines dunklen Berges hinunter, und an der Stelle, wo sie sich trafen, stand eine winzige Gestalt, verschwindend klein unter den schroffen Klippen. Links davon war ein weißer Widder angebunden, rechts ein schwarzes Mutterschaf, und vor ihm in der Felswand gähnte eine Höhle.

Trotz der Wärme im Raum überlief Grant ein kalter Schauer. «Willst du sagen, Odysseus ist in die Hölle hinuntergestiegen?»

«Er hat die Geister der Toten heraufbeschworen. Für die alten Griechen war der Hades kein konkreter Ort, den man körperlich aufsuchen konnte. Der Übertritt dorthin war vielmehr ein spiritueller Prozess, eine Reise der Seele. Sie glaubten, es gebe bestimmte heilige Orte, an denen die Schranken zwischen den Welten durchlässiger seien, und wenn man dorthin ginge und die entsprechenden Rituale vollzöge, könne man mit den Toten kommunizieren. Als Odysseus in dem Gedicht auf die andere Seite des Okeanos gelangt, hebt er eine flache Grube aus. Er gießt darum herum Wein, Milch und Honig aus, dann lässt er das Blut der geopferten Schafe in die Grube fließen. Und tatsächlich: Die Geister kommen. Teiresias der Seher; Agamemnon, den seine Frau Klytämnestra umgebracht hat; Ariadne und König Minos.» Marina machte eine bedeutungsvolle Pause. «Und Achilles.»

Grant war beeindruckt. «Du denkst also, dass Achilles’ Tempel – sein Grab – die Stelle war, wo Odysseus in die Unterwelt ging?»

«Vielleicht. Oder er ging zu dem Grab auf der Weißen Insel, um dem toten Achilles den Schild zu opfern, und später wurde daraus in der Überlieferung eine Reise in die Unterwelt.»

«Das heißt, wir müssen diese Stelle finden.» Grant betrachtete die beiden Schafe in der Abbildung, die vor der gewaltigen Klippe ihr Schicksal erwarteten. «Müssen wir auch Schafe opfern, um dorthin zu gelangen?»

«Hoffen wir nur, dass wir sonst nichts opfern müssen.»


Grant überließ Marina und den Professor ihren Büchern und ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Verstörende Bilder geisterten ihm durch den Kopf: schroffe Felswände, Blutlachen, Geister wie Wolkengespinste und Aasvögel, die von den Klippen schrien. Die Bilder waren so lebhaft, dass er nicht mehr darauf achtete, wohin er ging. Als er durch die Tür des Bibliothekssaals trat, stieß er heftig mit einem Mann zusammen, der ihm entgegenkam. Der andere stürzte, und ein Stapel Papiere flog durch die Luft; die Blätter wirbelten durch den Gang wie Schnee.

«Entschuldigung.» Grant streckte dem Mann die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen, doch dieser ignorierte ihn. Mit einem erbosten Räuspern rappelte er sich auf und klopfte seine Kleidung ab. Er war klein und hager, eine unansehnliche Gestalt mit kantigem Kopf und dünnem blondem Haar, das er sehr kurz geschnitten trug. Seine Haut war gerötet und unrein, als sei das ganze Gesicht von Ausschlag überzogen, und seine engstehenden Augen funkelten zornig.

«Passen Sie doch auf!», rief er auf Deutsch. Dann trat er einen Schritt zurück. Die Schweinsaugen weiteten sich – sofern das möglich war – und wurden dann sofort wieder schmal. «Seien Sie in Zukunft gefälligst vorsichtiger», fügte er auf Englisch hinzu.

Trotz des starken Akzents hörte Grant in seinem Tonfall etwas heraus, das ihn stutzig machte. Er musterte den Mann eingehender. Kannte er ihn? Er konnte sich an keine Begegnung erinnern. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass in diesem ersten Moment der Empörung ein Funke von Wiedererkennen gelegen hatte.

Der Mann sammelte seine Papiere auf, drängte sich an Grant vorbei und betrat die Bibliothek. Als Grant noch einen Blick zurück durch die Glastür warf, sah er, dass sich der Deutsche an einen Tisch in der Mitte setzte, zwei Plätze von Reed entfernt.

«Wahrscheinlich nur Einbildung», versuchte er sich selbst zu überzeugen. Er schmachtete schon seit einer halben Stunde nach einer Zigarette. Außerdem war ja noch Marina da, die ein Auge auf den Professor hatte.

Beim Hinausgehen lächelte er der jungen Frau an der Empfangstheke zu. Die Luft draußen fühlte sich fast so heiß an wie der Rauch in seiner Lunge, doch es tat gut, der muffigen Bibliothek eine Weile zu entkommen. Grant fragte sich, wie Männer wie Reed es aushielten, ihr Leben eingesperrt in solchen Räumen zu verbringen. Für seinen Geschmack glichen sie zu sehr Mausoleen, Nekropolen voller toter Seiten in toten Sprachen.

Das Geräusch eines Motors im Leerlauf durchdrang die vormittägliche Stille. Draußen vor dem Tor, auf der anderen Straßenseite, stand ein grüner Citroën am Bordstein. Ein Mann saß auf dem Vordersitz und las Zeitung; ein weiterer lehnte an der hinteren Tür und stocherte zwischen seinen Zähnen.

«Hast du mal Feuer?»

Grant fuhr herum. Marina stand im Schatten einer Platane und schien etwas überrascht über seine heftige Reaktion. Sie hielt ihm auffordernd ihre Zigarette entgegen.

«Wer passt inzwischen auf Reed auf?»

«Er ist in der Bibliothek.» Sie lächelte verlegen. «Ich wollte mit dir reden. Letzte Nacht –»

«Nicht jetzt.» Grant stieß sie in seiner Hast beinahe in das Blumenbeet. Er stürmte zurück ins Gebäude, vorbei an der Empfangsdame, und rannte den Gang entlang. Als er die Tür zum Bibliothekssaal heftig aufstieß, blickte an den Schreibtischen und in den Arbeitsnischen eine Schar bebrillter Gesichter entgeistert auf.

Reed saß noch am selben Platz wie vorhin und schaute hinter seinem Bücherstapel hervor. Wenigstens schien er mehr überrascht als verärgert.

«Mr. Grant.» Die junge Frau von der Rezeption musste gerannt sein, um ihn einzuholen. Ihr Gesicht war gerötet, das Haar löste sich aus dem Knoten. Sie sah ihn mit einer Mischung aus ungläubigem Erstaunen und Empörung an. Schließlich blieb ihr Blick an der Zigarette hängen, die er noch immer zwischen den Lippen hatte. «Sie können doch in der Bibliothek nicht rauchen.»

Grant spuckte die Zigarette aus und zertrat sie auf dem Holzfußboden, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie peinlich ihm die Situation war. Er ließ die Tür zufallen und ging betreten zu Reed an den Tisch. Die übrigen Studenten und Wissenschaftler wandten sich nach und nach wieder ihrer Arbeit zu.

«Gab es einen bestimmten Grund für dieses kleine Drama?», erkundigte sich Reed, als Grant sich auf dem Stuhl neben ihm niederließ. Er blickte sich schuldbewusst um, als fürchtete er, mit dem polternden Barbaren in Verbindung gebracht zu werden, der soeben das Heiligtum der Bibliothek entweiht hatte.

«Ich dachte …» Der Stuhl zwei Plätze weiter, wo der Deutsche gesessen hatte, war jetzt leer. Aber wofür die ganze Aufregung? Sie befanden sich nicht mehr im Krieg, wo jeder fremde Akzent automatisch verdächtig und jeder Deutsche ein Feind war. «Ich dachte, Sie könnten in Schwierigkeiten sein», schloss Grant betreten.

«Meine einzige Schwierigkeit ist, dass ich ständig unterbrochen werde.»

«Was sollte das?» Marina kam hinzu und sah Grant hinter Reeds Rücken vorwurfsvoll an.

«Da war ein Mann.» Grant fing die strafenden Blicke der Leser an den Nachbartischen auf. «Er sah irgendwie verdächtig aus», sagte er leise. In seiner Stimme schwang ein Anflug von Trotz mit. Ihm war klar, wie wenig überzeugend das klang, doch sein Instinkt hatte ihm schon so manches Mal gute Dienste geleistet. Er war nicht bereit, sich dafür zu entschuldigen, dass er seinem Gefühl gefolgt war.

«Nun, er hat jedenfalls keinen Versuch unternommen, mir die Kehle durchzuschneiden.» Reeds Geduld schien allmählich erschöpft, und er konnte es sichtlich kaum erwarten, sich wieder dem Gewirr aus Linien und Schnörkeln auf seinen Arbeitsblättern zuzuwenden. «Und er hat mir auch nicht» – sein Blick wanderte automatisch nach unten – «meine Tasche …»

Grant schaute ebenfalls unter den Tisch. Vier hölzerne Stuhlbeine, zwei Hosenbeine aus Flanell, zwei abgestoßene Schnürschuhe – aber keine Tasche.

«Meine Tasche», wiederholte Reed tonlos. «Sie ist weg.»

«War irgendwas Wichtiges darin?»

«Etwas Wichtiges? Die Schrifttafel war darin.»


Grant stürzte wieder hinaus und rannte den Gang entlang. Vor der Empfangstheke kam er schlitternd zum Stehen. «Ein Deutscher, blond, brauner Anzug – ist er hier vorbeigekommen?»

Sein Ton war so eindringlich, dass die junge Frau gar nicht erst auf den Gedanken kam, ihn erneut zurechtzuweisen. Sie nickte nur und zeigte zur Tür. Noch ehe sie den Arm wieder sinken ließ, war Grant bereits nach draußen gerannt, die Stufen hinunter und zwischen den Bäumen hindurch auf das Tor zu. Der grüne Citroën stand noch da. Gerade wurde die hintere Tür zugeschlagen, und der Wagen machte einen Satz nach vorn.

Grant rannte auf die Straße hinaus, wo ihm eine Wolke Auspuffgase und Staub entgegenschlug. Er zog den Webley und schoss auf den flüchtenden Wagen. Die Heckscheibe zersplitterte, und weitere Kugeln hinterließen Einschläge wie Pockennarben auf der grünen Karosserie. Der Citroën schlingerte; der Fahrer bemühte sich, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen, doch er hatte keine Chance. Schließlich holperte das Auto über den Bordstein und prallte frontal gegen eine Hauswand. Putzbrocken prasselten auf die rauchende Motorhaube nieder. Der Mann auf dem Beifahrersitz rüttelte verzweifelt an seinem Türgriff, doch die Tür war durch die Wucht des Aufpralls verklemmt und ließ sich nicht öffnen.

Rauch und Dampf aus dem zertrümmerten Motor trübten die Sicht, aber Grant erkannte, dass sich die hintere Tür öffnete und der Dieb ausstieg, Reeds Ledertasche über der Schulter. Er schrie dem Fahrer etwas zu, dann rannte er davon, weiter die Straße entlang.

Als Grant das Fahrzeug erreichte, mühte sich der Mann auf dem Beifahrersitz noch immer mit der Tür ab. Er hatte eine Pistole gezogen und hämmerte mit dem Griffstück gegen das Seitenfenster. Die Scheibe zersprang, sodass nur noch gezackte Scherben im Rahmen zurückblieben wie scharfkantige Zähne. In seinem verzweifelten Versuch zu entkommen hatte er Grant nicht bemerkt, und dieser nutzte den Überraschungseffekt. Ehe der andere schießen konnte, griff Grant durch das eingeschlagene Fenster, packte seinen Arm und zerrte ihn heraus. Der Mann hielt die Pistole noch immer am Lauf gepackt; er versuchte sie herumzudrehen, doch Grant drückte seinen Arm kräftig auf den Rahmen des Fensters hinunter, sodass sich die Glasscherben in sein Fleisch bohrten. Der Mann schrie auf und ließ die Pistole fallen. Ohne seinen Arm loszulassen, bückte sich Grant, hob die Waffe auf und schoss ihm damit zweimal in die Brust. Der blutige Arm erschlaffte.

Grant wandte sich ab und rannte um das Heck des Autos herum. Er sah den Fahrer auf sich zustolpern, noch sichtlich benommen von dem Aufprall. Eine Hand war halb erhoben – ob zur Abwehr oder als Zeichen, dass sich der Mann ergeben wollte, konnte Grant nicht erkennen –, die andere tastete unter der Jacke nach etwas.

Grant wusste nicht, wie viele Kugeln er noch im Magazin hatte, doch in der Eile blieb ihm keine andere Wahl. Er schoss auf den Fahrer, und als dieser strauchelte, trat er ihm die Beine weg. Noch ehe der Mann auf dem Boden aufschlug, war Grant schon an ihm vorbei und rannte dem Dieb hinterher.

Der Flüchtige hatte bereits einigen Vorsprung, doch er war kleiner und weniger muskulös als Grant, und außerdem behinderte ihn Reeds Tasche beim Laufen. Sein brauner Leinenanzug flatterte, die Lederschuhe klapperen laut auf dem Pflaster. Passanten starrten ihn an, als er vorbeirannte, doch niemand versuchte ihn aufzuhalten. Wegen der vielen Menschen wagte Grant nicht, zu schießen. Aber er holte auf.

Der Dieb erreichte eine Straßenecke und sah sich um. Grant, der auf ihn zurannte und dabei wie ein Verrückter mit der Pistole fuchtelte, war unmöglich zu übersehen. Der Mann streifte den Riemen der Tasche von der Schulter und ließ sie in die Gosse fallen, dann sprintete er quer über die Straße. Grant sah es und steigerte sein Tempo. Die Straße war breit, und es waren keine Fahrzeuge in Sicht, sodass er freie Schusslinie hatte.

Links von ihm klingelte eine Glocke, aber Grant achtete nicht darauf. An der Ecke angekommen, ging er in die Knie und hob die Pistole. Auf dem Mittelstreifen stand eine Reihe Blumenkübel aus Beton, doch Kopf und Schultern des Diebes waren darüber noch gut sichtbar, wie eine Pappsilhouette auf dem Schießstand. Es war ein Schuss, wie Grant ihn schon tausendmal ausgeführt hatte.

Und dann verschwand der Mann. Unter Rattern und Klingeln schob sich eine braune Wand vor ihn – eine Straßenbahn, die träge die Straße hinunterzockelte, der Dringlichkeit von Grants verzweifelter Verfolgungsjagd zum Trotz. Ein paar der Fahrgäste hatten offenbar den abgehetzt aussehenden Engländer bemerkt, der am Straßenrand mit einer Pistole fuchtelte. Sie zeigten auf ihn, drückten ihre Gesichter gegen die Scheibe und reckten die Hälse, während die Straßenbahn unaufhaltsam daherrollte.

Grant rannte weiter, um das hintere Ende der Straßenbahn herum, und sprang auf einen der Betonkübel. Von dort aus konnte er die umgebenden Straßen überblicken, die Menge grauer Anzüge und schwarzer Kleider – doch der Deutsche war verschwunden.

Gleich darauf näherte sich ein Polizeiauto mit hoher Geschwindigkeit und kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Grant legte die Pistole in den Blumenkübel und stieg herunter. Drüben auf dem Gehweg bahnte sich eine vertraute Gestalt einen Weg durch die Menge der Schaulustigen: Marina hatte ihn endlich eingeholt. Sie hielt Reeds Tasche, die der Dieb weggeworfen hatte, am Riemen in der Hand, doch ihr Gesicht war düster.

Grant, inzwischen von Polizisten umstellt, hob die Hände. «Ist die Tafel noch drin?», rief er Marina zu.

Sie schüttelte den Kopf. «Sie ist verschwunden.»

Der vergessene Tempel
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