VIERZEHN

Paleo Faliro, Athen. Zwei Tage später

Es war ein klarer, sonniger Frühlingsmorgen. Die unteren Regionen der Berge rings um die Stadt leuchteten nach den Regenfällen des Winters in sattem Grün, während auf ihren Gipfeln weiter Schnee lag, so strahlend weiß wie Marmor. Grant und die anderen saßen auf der Hotelterrasse am Hafen – zwischen den Bergen und dem funkelnden Meer, zwischen Winter und Sommer, zwischen der Vergangenheit und … wer wusste schon, was genau? Augenblicklich spielte das für Grant keine Rolle. Die letzte Woche, so kam es ihm vor, hatte er vorwiegend in tiefer Dunkelheit verbracht – auf nächtlichen Fähren, in Meereshöhlen, klaustrophobisch engen Tunneln und Gewölben. In Anbetracht dessen war es vorläufig schon eine Wohltat, einfach nur mit einem kühlen Bier in der Hand in der Sonne zu sitzen.

Das hier war Griechenland, wie er es noch nicht kannte – ein wohlhabendes, gutbürgerliches Griechenland, weit weg von den armen Weilern und Fischerdörfern, an die er gewöhnt war. Elegante Villen der Jahrhundertwende säumten das Ufer, während auf der Promenade Straßenbahnen im Schatten stämmiger Palmen dahinbimmelten und im Jachthafen unterhalb des Hotels zahlreiche schnittige Jachten vor Anker lagen. Dass im Land immer noch ein Bürgerkrieg wütete, konnte man hier leicht vergessen.

Gegenüber am Tisch hob Reed die Tasse an die Lippen und trank ein Schlückchen Tee.

«Wir müssen an den Anfang zurückkehren.» Er wickelte das Tontäfelchen aus und legte es mitten auf den Tisch. Grant fand es erstaunlich, dass es all ihre Abenteuer bislang unversehrt überstanden hatte. «Anscheinend hat doch alles angefangen, als Pemberton das hier gefunden hat. Die erste Frage dürfte also lauten: Woher stammt es?»

Marina stellte ihr Glas ab und nahm das Täfelchen vom Tisch, fuhr mit dem Finger über die zackigen Zeichen, als wären sie Blindenschrift. «Er könnte es auf Kreta gefunden haben, aber ich glaube eher, dass er es von hier hat. Nach der Rückkehr von seiner letzten Athenreise machte er nämlich einen seltsam aufgeregten Eindruck.»

«Mag sein.» Reeds Stimme klang einen Hauch ungeduldig. «Aber woher stammt es ursprünglich? Es muss doch irgendwo ausgegraben worden sein. Diese Tafeln mit Linear B wurden überall auf Kreta und an mykenischen Ausgrabungsstätten auf dem Festland gefunden, doch in Athen sind sie meines Wissens nie aufgetaucht. Die Möglichkeit, dass Pemberton es in einem Museum gestohlen hat, dürfen wir wohl ausschließen. Entweder hat jemand ihm das Täfelchen geschenkt, oder er ist in einem der Antiquitätenläden hier zufällig darauf gestoßen. Nun –»

Er hielt mit verärgertem Stirnrunzeln inne. Seine Worte gingen in lautem Propellergedröhn unter, da über ihnen gerade ein kleines Wasserflugzeug zur Landung ansetzte. Es stürzte aufs Meer zu und glitt, nach kurzem Aufprall, in einer Fontäne aufspritzender Gischt über die Wellen. Vermutlich irgendein reicher Sohn und Schiffsbesitzer, der Eindruck bei einem Mädchen schinden wollte, überlegte Grant.

«Ist das wirklich von Belang?» Muir stieß Rauch aus den Nasenlöchern aus. «Wir haben die Tafel, nur darauf kommt es an. Wenn Sie die verfluchte Schrift lesen könnten, wäre sie vielleicht etwas wert.»

«Da könnte ich jetzt schon etwas weiter sein, wenn Sie mich ungestört in Oxford zurückgelassen hätten. Statt mich hierher zu verschleppen, wo auf mich geschossen wird, ich fast Opfer einer Entführung geworden wäre und kreuz und quer durch die Ägäis gehetzt werde.» Reed starrte über den Rand seiner Teetasse. Unten in der Bucht näherte sich das Wasserflugzeug jetzt dem Hafenbecken. «Was ich Ihnen aber eigentlich begreiflich machen wollte, ist Folgendes: Selbst wenn ich die Linear B entziffert hätte – und selbst wenn sie uns zum Schild führte –, würde uns das nur begrenzt nützen.» Er hielt das Täfelchen in die Höhe und fuhr mit dem Finger an der schartigen Kante entlang, wo es durchgebrochen worden war. «So etwa zur Hälfte, grob gesagt.»

«Soll das heißen, da fehlt noch was?» Muir knallte seine Tasse auf den Tisch. Tee schwappte auf den Unterteller. «Wie zum Teufel sollen wir das finden?»

«Indem wir herausbekommen, wo dieses Stück herstammt.» Reed legte das Täfelchen wieder auf den Tisch und verbarg es unter seiner Serviette, um es vor den Blicken anderer Gäste zu schützen. «Ein so bedeutendes Stück hat nicht hundert Jahre lang vergessen auf irgendeinem Dachboden gelegen. Ich würde vermuten, dass es vor Kriegsausbruch ausgegraben wurde, kurz bevor Pemberton es gefunden hat. Bei all den Wirren damals wäre es nicht verwunderlich, wenn es der Beachtung entgangen wäre – oder seinen Weg auf den Schwarzmarkt gefunden hätte.»

Grant runzelte die Stirn. «Trotzdem könnte es doch zufällig gefunden worden sein. Von einem Bauern, der sein Feld pflügte oder so. Vielleicht auch von Grabräubern.»

«Unwahrscheinlich. Von allen Tafeln mit Linear B, die zum Vorschein gekommen sind, wurde meines Wissens keine je per Zufall gefunden. Was auf diesen Tafeln auch zu lesen sein mag, sie waren ziemlich exklusive Spielsachen. Man hat sie immer nur in Palastkomplexen gefunden – und deren Ausgrabung bedarf schon einiger Mühen.» Reed wandte sich Marina zu. «Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mal ins Kulturministerium gehen könnten. Um festzustellen, wer alles in den Jahren 1940 und 1941 Grabungserlaubnisse erhalten hat. Die halbe Welt hat damals Krieg geführt, allzu viele dürften es also nicht gewesen sein.»

Er stand auf und nahm das Täfelchen mitsamt der Serviette an sich.

«Wo wollen Sie damit hin?», fragte Muir argwöhnisch.

«In mein Zimmer, und dann in die Bibliothek.»

«Ich komme mit.» Marina sprang auf und verschwand zusammen mit Reed ins Hotel. Grant schwenkte sein Glas, in dem sich nur noch ein Rest Bier befand, und trank es dann aus. Ihm gegenüber beobachtete Muir über seine Schulter hinweg, wie das Wasserflugzeug am Dock anlegte. Ein Hüne in weißer Hose und weißem, oben aufgeknöpftem Hemd sprang aus der Kabine und fing an, lebhaft auf die Angestellten des Jachthafens einzureden.

«Sie sollten Reed besser begleiten.» Muir drehte sich wieder zu ihm um. «In Athen dürfte es von Roten nur so wimmeln. Unser Professor soll doch nicht in die falschen Hände geraten. Und besorgen Sie sich einen Anzug. Momentan sehen Sie ja aus wie der letzte Kuli.»

Grant überging die Beleidigung. «Meinen Sie wirklich, er schafft das? Diese Linear B zu entziffern?»

Muir warf Grant einen verschlagenen Blick zu, wog seine Worte sorgfältig ab. «Er war im Krieg für uns tätig, hat Codes entschlüsselt. Da bin ich ihm das erste Mal begegnet. Das ist übrigens vertraulich, wir verstehen uns. Er mag ja wirken wie einer komischen Oper entsprungen, aber er ist ein echtes Genie, da gibt’s kein Vertun. Den Code des ungarischen Außenministeriums etwa hat er innerhalb von drei Tagen geknackt.»

«War das ein schwieriger Code?»

Muir lachte sarkastisch. «Keine Ahnung. Der Punkt ist, er spricht kein Wort Ungarisch.»


Grant holte Reed und Marina kurz hinter dem Hotelausgang ein, und zusammen nahmen sie die Straßenbahn in die Innenstadt von Athen. Marina hatte ihre Militärkluft gegen ein schlichtes, in der Taille gerafftes blaues Kleid eingetauscht. Mit sittsam zusammengedrückten Knien saß sie da, die Haare zurückgesteckt, die Handtasche auf dem Schoß: eine ganz gewöhnliche junge Frau, wie es schien, unterwegs zu einem Einkaufsbummel oder ins Kino. Reed starrte aus dem Fenster auf die vorüberziehende Stadt. Ein offener Lastwagen voll bewaffneter Soldaten überholte sie; Frauen mit grimmig verschlossenen Gesichtern zogen ihre Kinder von der Straße zurück. Mochte der Krieg im restlichen Europa auch vorüber sein, in Griechenland schwelte weiter ein leiser, aber grausamer Bürgerkrieg.

«Wer war dieser Schliemann?», fragte Grant, als ihm der Name wieder einfiel, den Reed in der Höhle erwähnt hatte.

Reed schaute ihn überrascht an. «Schliemann? Ein Archäologe. Der Archäologe überhaupt, besser gesagt. Er hat die Disziplin praktisch erfunden – einfach so, indem er improvisiert hat.»

Marina spitzte zweifelnd die Lippen. «Das war aber nicht das Einzige, was er erfunden hat.»

«Marina spielt hier wohl auf seinen, nun ja, mitunter übergroßen Eifer an. Schliemann hat, wie ich schon erwähnte, fest an den Wahrheitsgehalt Homers geglaubt. Ein Romantiker. Aber er hatte auch einen Hang zur Selbstdarstellung. Schon möglich, dass die Art, wie er seine Entdeckungen präsentierte, gelegentlich von seinen vorgefassten Meinungen und seinem Sinn für Theatralik beeinflusst wurde.»

«Es wurde gemunkelt, die Hälfte der Schätze, die er gefunden hat, hätte er selbst vor Ort platziert», warf Marina ungehalten ein.

Reed winkte gelassen ab. «Ach, das sind Kleinigkeiten. Die gewaltigen Mauern Trojas oder das Löwentor in Mykene hat er nicht selbst platziert. Sosehr man seine Methoden auch missbilligen und seine Deutungen anzweifeln mag, seine Leistung ist unbestritten. Er hat den Trojanischen Krieg aus dem Reich der Mythen gerettet und als Tatsache in die wirkliche Welt zurückgeholt.»

Grant starrte ihn an. «Wenn aber Schliemann bewiesen hat, dass die Geschichten wahr sind, warum haben Sie dann weiter behauptet, es seien Märchen?»

Reed lächelte verlegen. «Mein Glaube war nicht so stark wie der Schliemanns. Oder vielmehr, ich war ein Abtrünniger.» Ein abwesender Ausdruck trat in seine Augen. «Ich habe ihn mal gesehen. Mit zehn Jahren. Er hat einen Vortrag in der Royal Geographic Society gehalten; mein Vater hat mich mitgenommen. Wir sind mit dem Zug hingefahren, und am Bahnhof Paddington hat er mir ein Zitroneneis spendiert. Lustig, was einem so in Erinnerung bleibt. Jedenfalls hat Schliemann ungeheuren Eindruck auf mich gemacht. Kam in seinem Gehrock hereingefedert wie eine Mischung aus Allan Quatermain und Kapitän Nemo, dazu noch sein deutscher Akzent. Die Stunde verging wie in einem Traum, so als würde man an einem Sommernachmittag in seinen Lieblingsbüchern blättern und nur die aufregendsten Stellen schmökern. Nur dass diesmal alles stimmte. An jenem Abend beschloss ich, dass ich so werden wollte wie Schliemann.»

«Was ist dazwischengekommen?»

«Ich wurde erwachsen.» Er seufzte wehmütig. «Ich ging zum Studium nach Oxford – und bin dort geblieben. Es schien der beste Ort für einen jungen Mann, der sich für die Klassiker begeisterte. Stattdessen hat es mir nach und nach alle Begeisterung ausgetrieben. Man kann sich nicht ein Leben lang in dem Abglanz von Herrlichkeit sonnen, den Homers Dichtung einem vermittelt. Man muss ihn studieren, analysieren, erläutern. Und je genauer man hinsieht, desto mehr entfernt man sich. Der erste Gefühlsüberschwang, der einen beflügelt, wird allmählich in rationale Bestandteile zergliedert, die dann immer weiter und weiter zergliedert werden. Ein wenig so, als würde man den Hund der Familie sezieren, um herauszufinden, warum man ihn so gern hat. Wenn man am Ende fertig ist, ist nichts mehr von ihm übrig.» Reed fuhr sich mit seinem Taschentuch übers Gesicht. In der vollbesetzten Straßenbahn war es warm, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. «Außerdem, trotz aller Funde, die Schliemann geglückt sind, wäre es schon überaus verwegen, aus einer Reihe verfallener Hügelfestungen, wie eindrucksvoll sie auch sein mögen, den Schluss zu ziehen, dass Homer in allem recht hatte. Ernsthafte Akademiker sind da sehr zurückhaltend. Wir sind von Berufs wegen zur Skepsis verpflichtet. Wer insgeheim doch gläubig ist, behält das verschämt für sich. Im Lauf der Zeit wird es einem erst peinlich, dann lacht man darüber. Am Ende weiß man nicht mehr, was man je darin erblickt hat.»

«Aber Sie haben Ihre Ansichten geändert.»

«In der Höhle. Beim Anblick dieser Reliefs – genau wie Homer sie beschrieben hat …» Reed schüttelte verwundert den Kopf. «Da fiel mir wieder ein, was mich an jenem Abend in Kensington so beflügelt hat. Es war nicht die Dichtung, das kam später. Es waren nicht einmal die Geschichten, so aufregend sie auch waren. Es war die Möglichkeit, die Hoffnung, dass unter all der Gelehrsamkeit, all den Legenden etwas Wirkliches verborgen lag. Etwas Wahres.» Er lächelte verschämt. «Da begann ich wieder zu glauben. Genau wie Schliemann – oder Evans. Apropos …»

Er sprang vom Sitz auf und zog an der Glockenschnur. Die Straßenbahn machte schwerfällig halt. Grant stand auf, aber Marina blieb sitzen.

«Nicht meine Haltestelle. Wir sehen uns dann später im Hotel.»

«Halt die Augen offen.»

Sie hob ihre Handtasche leicht an, die erstaunlich schwer wirkte – offenbar befand sich mehr darin als bloß Lippenstift und Puder. «Ich kann schon auf mich aufpassen.»


Als Grant und Reed ausgestiegen waren, standen sie vor den Toren eines großen weißen Gebäudes in klassizistischem Stil, etwas versetzt von der Straße und inmitten eines weitläufigen Anwesens, das von einer hohen Steinmauer umgeben war. Auf einer Messingplatte am Torpfeiler stand zu lesen: THE BRITISH SCHOOL AT ATHENS.

«Wirkt ja ziemlich verschlafen, der Laden. Hätten auch gleich ein Bitte nicht stören-Schild ans Tor hängen können.»

«Die meisten Angestellten sind wahrscheinlich in den Osterferien. Aber wenn wir Glück haben …» Reed drückte mit Feuereifer auf den Klingelknopf, bis aus dem Haus eine junge Frau in einem Jerseykleid zum Vorschein kam. Sie musterte sie argwöhnisch – Reed in seinem altmodischen Anzug und mit Sonnenhut, Grant hemdsärmelig und in Stiefeln –, aber Reeds Name wirkte wie ein Sesam-öffne-dich. Kaum hatte sie ihn vernommen, wich ihre Feindseligkeit einer Art andächtiger Ehrfurcht. Sie öffnete ihnen das Tor und führte sie einen Hügel hinauf, durch einen Garten voller Olivenbäume, Kiefern, Zypressen und Oleander und schließlich in ein kühles Vestibül mit hoher Decke.

«Leider ist der Herr Direktor heute nicht da, sonst hätte er Sie persönlich in Empfang genommen. Ihr Besuch wäre ihm eine solche Ehre, Professor Reed. Wenn Sie sich bitte ins Gästebuch eintragen würden.» Sie schob das Buch über den Tisch und hielt ihm einen Stift entgegen. Reed unterschrieb schwungvoll und gab den Stift dann an Grant weiter.

«Müssen sich hier alle Besucher eintragen?» Grant krakelte einen unleserlichen Schnörkel unter Reeds Namen, eine kleine Vorsichtsmaßnahme, die ihm zur Gewohnheit geworden war.

«Selbstverständlich. Sogar besonders geschätzte Gäste.» Sie lächelte Reed um Verzeihung heischend an.

«Dürfte ich mal einen Blick hineinwerfen?»

Grant blätterte in dem Buch zurück. Es wirkte selbst wie ein Ausstellungsstück, ein Relikt der Vergangenheit, das abgestaubt und wieder ins Regal gestellt worden war. Auf jeder Seite befanden sich Reihen von Namen und Daten, deren regelmäßige Abstände nichts von den unregelmäßigen Zeitsprüngen ahnen ließen, die sich in ihnen manifestierten. Manchmal standen neben einem einzigen Datum ein Dutzend oder mehr Namen; häufiger noch aber vergingen Tage oder gar Wochen, bis wieder ein Eintrag in das Buch erfolgte. Dann, nur einmal, etwas anderes: zwei säuberlich mit Lineal quer über die Seite gezogene Striche, einer Narbe gleich, die den April 1941 vom Januar 1945 trennten. Vier Jahre, dachte Grant. Vier Jahre, in denen die Welt ihr Möglichstes getan hatte, sich selbst zu zerreißen. All das enthalten in dem weißen Raum zwischen zwei parallelen Strichen.

Auf der Seite vor der Trennung fand Grant, wonach er gesucht hatte. Er drehte das Buch herum, um es Reed zu zeigen. «Pemberton war hier: am 21. März 1941.»

«Sie kannten John Pemberton?»

«Wir sind uns einmal begegnet. Waren Sie damals hier?»

Sie schüttelte den Kopf. «Die meisten von uns sind erst nach dem Krieg hergekommen.»

Grant dachte kurz nach. «Ich habe gehört, dass diese Einrichtung Pembertons Ausgrabungen auf Kreta finanziert hat. Besitzen Sie Aufzeichnungen über seine Ausgaben?»

Die junge Frau schien von seiner Frage ganz überrumpelt. Sie warf Reed einen unsicheren Blick zu, worauf dieser ihr beruhigend zunickte. «Ich kann für Sie nachsehen. Das könnte ein bisschen dauern. Falls wir Aufzeichnungen dazu haben, dürften die wahrscheinlich im Keller lagern.»

«Wir warten so lange in der Bibliothek.»


Bibliotheken waren nie so recht Grants Fall gewesen; Reed hingegen war in seinem Element. Während Grant in einem Sessel am Fenster eine drei Wochen alte Ausgabe der Times überflog, huschte Reed wie ein Vogel beim Nestbau zwischen den Regalen umher, sammelte Bücher und stapelte sie auf dem Tisch auf. Grant warf einen Blick auf die goldenen Lettern auf ihren Rücken: Über das Baskische zum Minoischen; Ein Schlüssel zu den kretischen Schriften; Der Palast des Minos von A. J. Evans, in vier voluminösen Bänden. Grant sank der Mut. Auf dem Tisch stapelten sich mehr Bücher, als man in einem Jahr durchlesen konnte.

«Wollen Sie die wirklich alle lesen?»

Reeds Kopf tauchte hinter einem dicken Band auf, der besonders einschüchternd wirkte. «Schon möglich. An diesem speziellen Rätsel knobeln Menschen jetzt seit fünfzig Jahren herum. Im Vergleich dazu wirkt Ultra in mancher Hinsicht wie ein Feiertags-Kreuzworträtsel.»

«Ultra?»

Reed errötete bis an die Wurzeln seiner schneeweißen Haare. Er murmelte etwas von Muir und tauchte dann wieder hinter die sichere Brustwehr aus Büchern ab. Grant schlug seine Zeitung wieder auf.

Eine willkommene Unterbrechung ergab sich, als an die Tür geklopft wurde. Es war die junge Frau, die zwei eselsohrige, mit Kordel zusammengebundene Aktenmappen aus Karton an sich drückte. Sie legte sie auf den Tisch vor Grant. Ein zarter Duft nach Rosenwasser und Lilien wehte ihn an, als sie sich über ihn beugte.

«Das sind die Berichte aus Knossos aus den ersten Monaten des Jahres 1941, vor der Evakuierung der Mitarbeiter. Gilt Ihr Interesse irgendetwas Speziellem?»

«Ich möchte wissen, ob Pemberton bei seinem letzten Besuch in Athen etwas gekauft hat.»

Sie setzte sich neben ihn und blätterte langsam das Hauptbuch durch. Gegenüber am Tisch summte Reed vor sich hin und klopfte sich mit dem Bleistift gegen die Unterlippe.

«Viel liegt über diesen Zeitraum nicht vor. Die Grabungssaison hatte noch nicht begonnen.» Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu, offenbar unsicher, wie gut er sich mit Archäologie auskannte. «Ehrlich gesagt, weiß ich nicht recht, warum er auf Kreta geblieben ist.»

Sie würden staunen, dachte Grant. Er beschränkte sich auf ein unverbindliches Brummen.

«Hier ist etwas.» Ihr Ärmel streifte ihm über den Arm, als sie die Seite herabdrückte. «Fünfzig Pfund am 21. März. Daneben steht bloß ‹Ankauf fürs Museum›. Abgezeichnet vom Direktor.»

«Steht auch dabei, wo er diesen Kauf getätigt hat?»

Sie schnürte die zweite Mappe auf und brachte ein buntes Sammelsurium von abgeknipsten Zugfahrkarten, Coupons, Bedarfsformularen und Rechnungen zum Vorschein. «Das ist ein bisschen ungeordnet. Offenbar hatte man keine Zeit zur Ablage mehr, bevor die Deutschen kamen.» Sie nahm die Belege heraus und fing dann an, sie abzulegen wie ein Croupier. Trotz ihrer etwas lehrerinnenhaften Erscheinung waren ihre Fingernägel leuchtend rot lackiert. «Nein – nein – nein … Was ist das?»

Sie legte einen cremeweißen, unzerknitterten Bogen Briefpapier auf den Belegstapel. Die Quittung war mit sattblauer Tinte geschrieben, sowohl in Englisch als auch in Griechisch. Spätminoische Tontafel (unvollständig), ungewisser Herkunft, 50 Britische Pfund. Der Briefkopf in schnörkeligen Lettern oben auf dem Blatt lautete: Elias Molho, Händler für antike Raritäten. Darunter war auch eine Adresse angegeben.

«Das hat er nicht vom Flohmarkt.» Grant befühlte das geprägte Papier zwischen Zeigefinger und Daumen. «Wissen Sie, wo sich diese Adresse befindet?»


Grant ließ Reed hinter seinem Bollwerk aus Büchern zurück und nahm einen Bus in die Altstadt. Einen Stadtplan hatte er zwar nicht, war aber wohlvertraut mit der griechischen Sitte, sich einfach von einem Zeitungsstand zum nächsten durchzufragen. Zunächst wurde ihm meist mit beiläufigem Nicken geantwortet, dann erhielt er zunehmend präzisere Auskünfte, wie bei einer Art menschlichem Sonar. Mit seiner Hilfe gelangte er bald in eine ruhige, ein wenig heruntergekommene Straße, gesäumt von Geschäften, die schon bessere Tage gesehen hatten. Viele der Häuser waren noch immer gesprenkelt mit Einschusslöchern, doch ob diese von Faschisten oder Kommunisten, Einheimischen oder Ausländern stammten, war für Grant unmöglich zu bestimmen. Selbst die Einheimischen hatten darüber wohl den Überblick verloren. Am Ende der Straße spielten einige Kinder mit einem Fußball, den sie immer wieder gegen eine Platane schossen, während ein mageres rotgetigertes Kätzchen auf den Stufen einer geschlossenen Bäckerei seinem eigenen Schwanz nachjagte. Ansonsten war die Straße menschenleer.

Grant fand die auf der Quittung angegebene Adresse – das Haus Nummer dreiundzwanzig. Elias Molho, Händler für antike Raritäten, befand sich weiter dort, aber nur noch als Erinnerung in verblassten Buchstaben über dem Eingang, die man nicht übertüncht hatte. Im Laden selbst war jetzt eine Schneiderei. Grant stöhnte.

Hinter sich hörte er das Geräusch rasch näher kommender Schritte. Er drehte sich um und sah einen Mann, der durch die leere Straße auf ihn zugespurtet kam. Zweierlei fiel Grant an ihm auf: Erstens war er barfuß, und zweitens hielt er eine, wie es schien, Wodkaflasche in der Hand, aus deren Hals ein Lappen hing. Grant griff reflexhaft nach seinem Webley, aber der Mann beachtete ihn kaum. Er rannte direkt an ihm vorbei und blieb nicht stehen.

Die Kinder, die gerade noch fröhlich mit ihrem Ball gebolzt hatten, waren urplötzlich verschwunden. Grant und der Flüchtende waren die Einzigen, die sich noch auf der Straße befanden. Wer der Mann war oder warum er es so eilig hatte, wusste Grant nicht, doch er hatte im Krieg oft genug ähnliche Szenen miterlebt, um zu wissen, dass es schon bald Ärger geben würde. Er sprang die Stufen hoch und verzog sich hastig in den Schneiderladen, während ein mit griechischen Soldaten besetzter amerikanischer Jeep rasant um die Ecke gebogen kam.

Ein gebeugter alter Mann hob den Blick von seiner Zeitung, als Grant den Laden betrat. An Kleiderständern längs der Wände hingen Sakkos und Flanellhosen, auf denen sich der Staub sammelte. Der Jeep dröhnte vorüber. «Ich suche Herrn Molho», sagte er auf Griechisch.

Der alte Mann musterte ihn durchdringend.

«Herr Molho ist nicht hier.» Er sprach bedächtig, jedes einzelne Wort betonend, ein Symptom seines Alters vielleicht. In seinen walnussbraunen Augen indes flackerte ein Feuer, das in Grant eher die Vermutung nährte, dass dieser Greis noch höchst lebendig war. In der Ferne hörte er das Quietschen von Reifen, gefolgt von lautem Geschrei und einer Salve von Schüssen.

«Wissen Sie, wo er hin ist?»

«Fort.» Der alte Mann nahm ein Maßband und ein Stück Schneiderkreide und kam hinter seinem Tresen hervor. «Wollen Sie vielleicht einen Anzug?» Seinem Blick nach zu urteilen, war er offenbar der Ansicht, dass sein Besucher dringend einen gebrauchen konnte.

«Wo ist er hin?» Grant wich aus hinter einen Tisch, auf dem Krawatten ausgelegt waren. «Ich muss ihn finden.»

«Er ist fortgegangen», beharrte der Schneider. «Im Krieg. Fort.»

Er ließ das Maßband zu Grant vorschnellen, der wusste, wann er sich geschlagen geben musste.

«Falls er zurückkommt, geben Sie ihm das hier.» Auf dem Tresen lag ein Notizblock. Grant nahm einen Bleistift und notierte rasch in griechischen Großbuchstaben seinen Namen und die Adresse seines Hotels. Er riss das Blatt ab und hielt es dem Schneider hin, der hastig zurückwich und den Blick zu Boden senkte. Das Maßband in seinen nervösen Händen war inzwischen heillos verknäuelt.

«Sie verstehen nicht. Er wird nicht zurückkommen. Er war Evraios. Ein Jude. Er kommt nicht zurück.»


«Eine verfluchte Sackgasse. Im wahrsten Sinne des Wortes.» Muir spießte ein Stück Lammbraten auf seine Gabel. Das Hotelrestaurant war praktisch menschenleer. Grant, Reed, Marina und Muir thronten majestätisch an einem Tisch inmitten des noblen Speisesaals, während die Bediensteten, die in deutlicher Überzahl waren, schwatzend und rauchend an der Küchentür beisammenstanden.

«Sie hat mehr Glück gehabt.» Muir deutete mit seinem Messer quer über den Tisch auf Marina. «Hat dem Minister ihre Titten gezeigt und alles Mögliche herausgefunden.»

Marina warf ihm einen Blick voller Abscheu zu und spielte am Schnappverschluss ihrer Handtasche herum. «Im Winter 1941 haben nur vier Archäologen Grabungserlaubnisse für minoische oder mykenische Stätten erhalten. Einer davon war Pemberton …»

«Das wissen wir schon», fiel Muir ihr ins Wort, auf einem Bissen Lammfleisch herumkauend.

«Zwei weitere waren Schweizer, die eher unspektakuläre Ausgrabungen in Orchomenos durchführten. Der vierte war ein Deutscher namens Dr. Klaus Belzig, er hat eine neue Ausgrabungsstätte in Kefalonia geprüft.»

«Belzig?» Grant wechselte einen Blick mit Marina.

«Kennen Sie ihn?», fragte Muir.

«Er war im Krieg auf Kreta, hat dort nach Pembertons Aufzeichnungen gesucht. Wie er dabei vorgegangen ist …»

«Hört sich nach unserem Mann an. Aber was zum Teufel hatte ein Kraut vor dem Krieg in Griechenland verloren?»

«Die Regierung hat alles nur Erdenkliche unternommen, um eine Invasion zu vermeiden, bis zur letzten Minute. Man wollte den Deutschen keinerlei Vorwand liefern.»

«Und er hat Grabungen in Kefalonia durchgeführt, sagten Sie?» Reed hob den Blick von der lappigen Masse Spinat auf seinem Teller. «Kefalonia», wiederholte er, als habe der Name irgendeine geheime Bedeutung. «Bemerkenswert.»

Muir fuhr zu Reed herum. «Was ist an Kefalonia denn so verdammt wundervoll?»

«Kefalonia ist die Hauptinsel der Gruppe, zu der auch Ithaka gehört. Heimat des Odysseus. Falls er die Rüstung erhalten hat …»

«Können wir mal aufhören, hinter Märchen herzujagen? Falls es diese Rüstung tatsächlich gibt, werden wir sie wohl kaum in der Obhut eines einäugigen Riesen und eines Paars singender Meerjungfrauen finden. Wie weit sind Sie mit der Inschrift auf der Tafel?»

Reed hielt den Blick auf seinen Teller gesenkt und spielte mit den Spinatfasern. Als er wieder hochschaute, waren seine Augen so klar wie der Himmel. «Ich habe gewisse Fortschritte gemacht.»

«Wie lange wird’s dauern, bis Sie das geknackt haben?»

Reed lachte kurz auf, so herablassend, dass es schon fast mitleidig klang. «Daran versuchen sich die besten Köpfe auf dem Gebiet jetzt seit einem halben Jahrhundert. Dafür werde ich länger brauchen als einen Nachmittag. Bisher habe ich nicht mal die Symbole entschlüsselt.»

«Was soll das heißen?», fragte Grant.

Reed schob seinen Teller fort und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Jede Schrift ist, wenn man es recht besieht, eine Art Code. Der Schreibende nimmt eine Sprache und übersetzt sie in bildliche Symbole, die das geübte Auge dann wieder in die Worte rückübersetzt, die sie darstellen. Bei der modernen Kryptographie geht es darum, sie – in der Regel auf mathematischem Wege – so zu verwandeln, dass nur jemand mit einem bestimmten Schlüssel sie wieder entschlüsseln kann. Nun, normale geschriebene Sprachen weisen eine Fülle wiederkehrender Muster auf. Seien es häufig verwendete Buchstaben, Kombinationen von Buchstaben, Wortfolgen. Wenn man ausreichend Text zur Verfügung hat, kann eine direkte Ersetzungschiffre – eine, bei der jeder Buchstabe immer durch denselben anderen Buchstaben oder dasselbe Symbol ersetzt wird – immer zurückverwandelt werden, falls man die Muster der ursprünglichen Sprache kennt. Deshalb verwenden moderne Kryptographen viel Zeit, Mühe und Einfallsreichtum darauf, Buchstabenfolgen, also Sätze, in Zahlenfolgen umzuwandeln, die so verwickelt sind, dass sie nahezu völlig zufällig wirken.»

«Sie scheinen sich ja gut damit auszukennen», sagte Marina.

«Ich habe mich mal damit beschäftigt.» Ein drohender Blick von Muir brachte Reed nachdrücklich davon ab, noch mehr preiszugeben. «Die Probleme, die sich uns mit der Tafel stellen, sind ganz anders gelagert. Wir können davon ausgehen, dass die Männer, die diese Tafeln beschrieben haben, ihre Texte nicht zu verschlüsseln versuchten. Im Gegenteil, das Geschriebene sollte vermutlich so klar und deutlich wie möglich sein. Dreitausend Jahre später jedoch fehlt uns nicht nur der Schlüssel zum Code, sondern jede Kenntnis der Sprache, die hier wiedergegeben wird. Dem kann man sich jetzt auf zweierlei Weise nähern. Man könnte anfangen, indem man sich die Symbole anschaut – oder die zugrundeliegende Sprache zu erraten versucht, und dann herausarbeiten, wie die Symbole diese wiedergeben.»

«Aber diese Tafeln sind über dreitausend Jahre alt», wandte Grant ein. «Woher wollen wir wissen, was man damals gesprochen hat?»

«Wir wissen es eben nicht. Was aber Gelehrte nicht von dem Versuch abgehalten hat, andere Sprachen – oder ihre hypothetischen Vorformen – in das Muster von Linear B einzupassen. Alles wurde schon vorgeschlagen: Hethitisch, Baskisch, archaisches Griechisch, Protoindogermanisch, Eteozyprisch, Etruskisch – was besonders drollig ist, da es bisher noch niemandem gelungen ist, das zu übersetzen. Das meiste davon ist purer Unfug, eine ziemlich hoffnungslose Mischung aus dürftigen Zufällen und sturem Optimismus.»

«Hört sich nach einer weiteren Sackgasse an.»

«Das sehe ich auch so. Statt also bei der Sprache anzufangen, setzen wir bei den Symbolen an. Wir bemühen uns, ihre Muster zu entdecken, ihre innere Logik und die Regeln, die sie beherrschen, um zu sehen, was wir dabei über die zugrundeliegende Sprache herausfinden können. Das Problem ist nur, wir wissen nicht einmal, mit wie vielen Symbolen genau wir es zu tun haben.»

«Die dürften doch wohl alle in die Tafel geritzt sein», warf Muir hämisch ein.

Reed zog eine Augenbraue hoch, eine zurückhaltende mimische Regung, die schon viele Studenten zur Verzweiflung gebracht hatte. «Meinen Sie?» Er zog einen Füllfederhalter aus der Jackentasche und malte, ohne sich um die entsetzten Blicke der Kellner zu kümmern, einen geneigten Buchstaben auf die Tischdecke. «Was für ein Buchstabe ist das?»

«Ein ‹g›», sagte Grant.

«Ein ‹y›», sagte Muir.

«Ein ‹P›», sagte Marina, die Reed am Tisch gegenübersaß und das Zeichen verkehrt herum las.

Reed lehnte sich mit einem rätselhaften Ausdruck von Genugtuung im Gesicht zurück. «Wirklich? Oder ist es ein ‹j› oder ein ‹ f›? Oder steht da ‹if› oder ‹of›? Oder liest Miss Papagiannopoulou das Zeichen richtig herum, und da steht ‹Pn› oder ‹Pr›? Vielleicht ist mir ja auch nur der Füller ausgerutscht. Die Minoer und Mykener haben ihr Alphabet nicht in Drucktypen übersetzt. Sie ritzten es mit Schilfrohr oder Stöckchen in feuchten Ton – möglicherweise in Hast oder während sie die Tafel auf dem Knie liegen hatten. Viele der Symbole sehen einander extrem ähnlich, selbst in ihrer perfekten Form. Um zu beurteilen, wo nun ein wirklicher Unterschied vorliegt oder bloß eine Abweichung in der Handschrift, müsste man so weise sein wie Salomo. Und das nur, um überhaupt an den Startpunkt zu gelangen.»

Ein bedrücktes Schweigen senkte sich über den Tisch. Grant stocherte in seinem Essen herum, während Muir den langen Aschekegel an seiner Zigarette betrachtete.

«Habe ich irgendwas verpasst?»

Die Schwingtüren des Speisesaals flogen auf wie von einer Sturmbö getroffen. Ein großer, breitschultriger Mann kam zielstrebig zwischen den unbesetzten Tischen hindurch auf sie zu. Seine gesamte Erscheinung vermittelte einen schon aufdringlichen Eindruck von Gesundheit: die Tennisschuhe; der jungenhafte Haarschnitt; die weiße Hose und das oben offene weiße Hemd, das ebenso frisch gebügelt wirkte wie sein Lächeln. Auch ohne den Akzent gehört zu haben, hätte man ihn nur mit einem einzigen Wort beschreiben können: Amerikaner. Dass ihn vier Augenpaare entgeistert anstarrten, brachte ihn offenbar nicht aus der Ruhe; er strahlte über das ganze Gesicht.

«Jackson», stellte er sich vor. «Marty Jackson.» Er schüttelte Marina herzhaft die Hand und wandte sich dann Reed zu. «Lassen Sie mich raten: Professor Reed. Ich habe alles über Ihre Bücher gelesen. Und Sie müssen Sam sein.»

Er schnappte sich einen Stuhl vom Nebentisch, ließ ihn herumwirbeln und zwängte sich neben Marina und Grant.

Grant sah Muir fragend an. «Stand schon etwas über uns in den Zeitungen?»

Jackson winkte einen Kellner herbei und bestellte ein Bier. «Ist nie kalt genug in diesem verflixten Land», grummelte er, aber mit einem Lächeln. «Trotzdem, immer noch besser als der Wein. Wie ich höre, wird der hier aus Kiefernzapfen hergestellt. Glauben Sie das?»

«Mr. Jackson gehört zur alliierten Militärmission», sagte Muir. Eine dürre Erklärung, die völlig unzulänglich schien. «Er ist heute Morgen hier gelandet.»

«Ja, um die Front gegen die Kommies zu halten. Haben Sie gehört, was Truman neulich gesagt hat? ‹Wir müssen freien Völkern dabei helfen, ihr eigenes Schicksal auf eigene Art und Weise zu gestalten.› Und genau deswegen bin ich hier.»

«Sind Sie Army-Angehöriger?»

«Nicht direkt.» Ganz kurz fiel das joviale Gebaren von ihm ab, und Grant witterte etwas wie kompromisslose Härte hinter dem sonnigen Grinsen. Dann kehrte das Lächeln zurück. «Aber ich schätze, wir gehören alle zum selben Team, nicht wahr?»

«Mr. Jackson …»

«Sagen Sie ruhig Marty.»

Muir verzog das Gesicht. «… ist schon länger mit uns wegen der Suche nach Element 61 in Kontakt.»

«Wie ich höre, haben Sie schon Großes vollbracht.» Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und lehnte sich mit ernster Miene vor. «Diese Höhle auf Lemnos – einfach unglaublich. Da wäre ich ja zu gern dabei gewesen.»

Reed brummelte etwas vor sich hin, das eine Art Zustimmung zu signalisieren schien.

«Aber jetzt müssen wir in der Sache einen Gang hochschalten. Den Geheimdiensten zufolge sind die Roten schon dahinter her wie die Juden hinterm Geld. Sie haben einen ihrer besten Männer darauf angesetzt – Oberst Kurchosow.» Er zog ein Foto aus der Hemdtasche und legte es auf den Tisch. Offenbar war es heimlich aufgenommen worden: Es war so unscharf und unterbelichtet, dass eigentlich nur ein Paar schmaler Wangenknochen, ein dünner Schnurrbart und Augen, die fast im Schatten der Schirmmütze verschwanden, zu erkennen waren. Grant fiel erst mit leichter Verzögerung auf, dass eins der Augen sogar fehlte und von einer schwarzen Augenklappe verdeckt wurde. «Das ist das einzige Foto, das wir von ihm haben, dafür wissen wir einiges über ihn. Hat sich in Stalingrad einen Namen gemacht – nicht im Kampf gegen die Nazis, sondern beim Liquidieren von Deserteuren. Das hat die Sowjets wohl tief beeindruckt; in Langley ist man der Ansicht, er ist der besondere Liebling von Onkel Joe.»

Grant betrachtete das Bild. «Ich glaube, wir sind einigen seiner Freunde auf Lemnos begegnet.»

«Erwähnte Muir schon. Deshalb müssen wir dieses Ding unbedingt finden, bevor die uns zuvorkommen.»

«Nun, wir haben die Tafel. Das scheint die beste Spur zu sein. Allerdings hat der Professor gerade dargelegt, wie viel Arbeit es noch kosten wird, bevor wir den Text entziffern können.»

«Wenn ich Ihnen da irgendwie helfen kann, sagen Sie einfach Bescheid.»

Reed wirkte fast erschrocken über das Angebot, das jedoch völlig ernst gemeint schien.

«Davon abgesehen glauben wir jetzt zu wissen, wo die Tafel herstammt: von einer Grabungsstätte auf Kefalonia.»

«Prächtig. Das prüfen wir gleich morgen früh nach. Ich habe ein Flugzeug.» Er flocht es so beiläufig ein, als ginge es um ein Paar Schuhe. «Sam, wie ich höre, sind Sie ein guter Mann, wenn’s hart auf hart kommt. Sie begleiten mich.»

Grant sträubte sich innerlich, empfand den spontanen Drang, sich zu weigern, schluckte aber seinen Widerspruch herunter. Es hatte wenig Sinn, sich Jackson jetzt schon zum Feind zu machen.

Jackson wandte sich an Reed. «In der Zwischenzeit hocken Sie sich wieder in Ihre Bibliothek und machen mit dieser Tafel weiter.» Er warf Marina einen Blick zu. «Sie auch, Süße. Und Muir kann hierbleiben, um auf Sie beide aufzupassen.»

Er blickte in die Runde, fasste jeden kurz ernst ins Auge. «Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wichtig das ist.»

Der vergessene Tempel
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