EINUNDZWANZIG
Sie nahmen auf den steifen Sitzmöbeln Platz. Der Butler legte ein Scheit im Kamin nach und zog sich dann zurück. Sourcelles schaute Reed an, und auch die Übrigen wandten sich erwartungsvoll dem Professor zu. Sie alle hatten instinktiv das Gefühl, dass nur eine außergewöhnliche Kapazität es mit Sourcelles auf dessen Spezialgebiet aufnehmen konnte.
«Ihr Besuch ist mir eine Ehre, Professor Reed. Sie müssen wissen, ich bewundere Ihre Forschungsarbeit sehr. Aber wer sind denn Ihre Freunde?»
Reed räusperte sich. «Mr. Jackson und Mr. Muir von der amerikanischen beziehungsweise der britischen Regierung. Miss Papagiannopoulou – sie war John Pembertons Assistentin auf Kreta, des englischen Archäologen. Und …» – in diesem Fall fiel ihm keine nähere Beschreibung ein – «Mr. Grant.»
Sourcelles warf Grant einen abschätzenden Blick zu, nicht feindselig, aber mit einem gewissen Misstrauen. «Willkommen. Möchten Sie vielleicht einen Cognac? Oder ein Glas Calvados?»
«Nein danke», antwortete Reed für sie alle. Dabei wäre Grant ein wärmender Schluck jetzt sehr willkommen gewesen.
«Bien.» Sourcelles machte es sich in einer katzenhaften Pose auf seiner Chaiselongue bequem. Er nahm eine lange silberne Zigarettenspitze aus einem Etui auf dem Beistelltischchen, steckte eine Zigarette hinein und nahm einen tiefen Zug. Eine Rauchwolke hüllte seinen Kopf ein. Alle warteten – doch er schien völlig in Gedanken versunken, als habe er seine Besucher bereits wieder völlig vergessen.
«Vor sechs Jahren haben Sie eine kleine minoische Tontafel gekauft, in Athen, bei einem Händler namens Molho», begann Reed. Er sprach zurückhaltend, wie ein Student, der einen schlecht vorbereiteten Essay vortrug.
Sourcelles zuckte kaum wahrnehmbar die Schultern, eine winzige Geste der Gleichgültigkeit.
Reed fuhr fort: «Die Tafel war unvollständig. Jemand hatte sie in zwei Teile zerbrochen.»
«Und dieser Jemand war der Mann, der sie Ihnen verkauft hat», fügte Grant hinzu, woraufhin Sourcelles’ Augen zuckten wie die einer Schlange. «Hat Molho Ihnen das gesagt? Dass er den anderen Teil an John Pemberton verkauft hat.»
Sourcelles wandte sich an Marina. «Haben Sie einen Beweis dafür? Waren Sie dabei?»
«Wir hatten das Täfelchen, bis vor zwei Tagen. Ein Deutscher hat es uns gestohlen – auch wenn er selbst wohl sagen würde, dass er sich nur zurückgeholt hat, was ihm gehört. Er war es nämlich, der die Schrifttafel ursprünglich ausgegraben hat.»
«Wie sah sie aus?»
«Etwa so groß.» Reed zeigte das Format mit den Händen an. «Ein Dutzend Zeilen Inschrift in Linear B auf der Vorderseite. Auf der Rückseite eine verblasste Zeichnung mit der typischen Ikonographie, die im Zusammenhang mit minoischen Heiligtümern bekannt ist. Ich nehme an, Ihr Teil sieht ganz ähnlich aus. Vielleicht so?»
Er zog Pembertons Fotografie hervor, die inzwischen arg verknickt war, und reichte sie Sourcelles. Der Franzose warf einen flüchtigen Blick darauf. «Das könnte alles Mögliche sein. Ich habe viele Stücke in meiner Sammlung. Es ist die beste private Sammlung mykenischer Artefakte weltweit, soweit ich weiß. Eine private Sammlung», wiederholte er. Beim Sprechen drangen kleine Rauchwölkchen aus seinem Mund. «Sie ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich.»
«Wir sind nicht die Öffentlichkeit», entgegnete Grant. «Und wir sind nicht die Einzigen, die hier nach dieser Schrifttafel suchen. Rufen Sie doch mal bei der Polizei in Athen an und erkundigen Sie sich, was aus Molho geworden ist. Es hat ihn bereits eine Hand gekostet, als er Sie vor Belzig zu schützen versuchte. Wussten Sie das?» Er betrachtete Sourcelles’ Gesicht, die Haut wie abgeschabtes Pergament. Er war sich ziemlich sicher, dass Sourcelles von dem grausamen Zwischenfall wusste. «Jetzt hat er sein Leben gelassen – nur dass er Sie diesmal nicht schützen konnte. Belzig weiß, dass Sie dieses Ding haben. Er wird herkommen; wahrscheinlich ist er schon auf dem Weg. Wollen Sie wissen, was er mit Molho gemacht hat? Nichts Schönes, wie Sie sich vermutlich denken können.»
«Und wenn ich Ihnen die Tafel zeige, was werden Sie mit dem Wissen anfangen? Ich frage mich: Ist Ihnen überhaupt klar, wonach Sie wirklich suchen?» Sourcelles warf Grant einen durchdringenden Blick zu. Als er in dessen Gesicht keine Antwort las, wandte er sich mit einem verächtlichen Schnauben ab.
«Die Weiße Insel», sagte Marina. Sie sah Sourcelles fest an und achtete nicht auf die skeptischen Gesichter der anderen. Sourcelles erwiderte ihren Blick. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, wobei Grant allerdings nicht erkennen konnte, ob es ein Ausdruck des Respekts war oder der Befriedigung über einen persönlichen Sieg.
«Die Weiße Insel war Achills letzte Ruhestätte, der Ort, an den seine Mutter ihn brachte, nachdem er im Kampf um Troja gefallen war. Sie ist außerdem der Ausgangspunkt des Heroenkults um ihn. Die Schrifttafel enthält den Schlüssel dazu, sie zu finden.»
Sourcelles lachte mit leisem Spott. «Vielleicht. Aber wie wollen Sie diesen Schlüssel benutzen? Ist es Ihnen etwa gelungen, die minoische Schrift zu entziffern?» Er las die Antwort von ihren Gesichtern ab. «Ich glaube kaum. Viele haben versucht, diesen Code zu knacken – ich selbst habe es immer wieder versucht. Diese Schrifttafeln sind comme une femme. Man besitzt ihren Körper, aber ihre Geheimnisse behält sie für sich.»
Er blies einen Rauchkringel in die Luft. «Wissen Sie, was ein Museum ursprünglich war? Das war keine Ausstellungshalle, wohin die ungebildeten Massen kommen konnten, um Relikte anzugaffen, die sie niemals verstehen würden. Ein Museion war ein Musentempel, ein Heiligtum für die Göttinnen der Erinnerung. Die Männer, die dort arbeiteten, waren ein geweihter Orden, bestehend aus Priestern und Poeten – keine Tagesausflügler, die ihre paar Pennys bezahlten, um sich unterhalten zu lassen.»
«Wir sind auch keine Touristen», platzte Jackson heraus. «Professor Reed kommt von der Oxford University.»
Sourcelles lachte. «Ich bin selbst in Oxford gewesen. Als junger Mann habe ich all die berühmten Stätten der Wissenschaft aufgesucht. Paris, Berlin, Oxford. Ich habe zu Füßen großer Gelehrter gesessen und sie nach dem Trojanischen Krieg gefragt. Sie haben mich ausgelacht. Selbst nachdem Schliemann bewiesen hatte, dass Homers Schilderungen auf Tatsachen beruhten, konnten sie es nicht akzeptieren. Sie spannen Lügen um ihn: Er habe seine Funde mit kleinen Schätzen gewürzt, die er auf den Märkten von Athen gekauft hatte; die Berichte über seine Ausgrabungen seien Fiktion; er könne nicht zwischen den einzelnen Ebenen seiner Funde unterscheiden. Rufmord. Verleumdung. Als er nach Troja ging, sagten sie voraus, er werde überhaupt nichts finden. Nachdem er nicht nur eine Stadt, sondern ein halbes Dutzend gefunden hatte, behaupteten sie, keine davon könne die richtige sein – sie alle waren angeblich zu alt oder nicht alt genug, oder es gab keine Anzeichen eines Krieges. Diese Leute machten sich über Schliemann lustig, weil sie es mit ihrer beschränkten Vorstellungskraft einfach nicht erfassen konnten. Dieselben Männer hielten mich für einen zweiten Schliemann, einen reichen kleinen Jungen, der sein Geld darauf verwenden würde, Phantasieschlösser zu bauen. Sie hatten keinen Sinn für die Helden der Antike. Sie waren engstirnige, kleingeistige Leute, die das wahre Format der Heroen nicht begreifen konnten. Sie waren nicht würdig. Also beschloss ich, die Relikte aus dem Zeitalter der Heroen zu sammeln, soweit ich es mir leisten konnte, und ihr Andenken in Ehren zu halten.
Außerdem ist die Weiße Insel nicht verborgen, ebenso wenig, wie Troja und Mykene jemals verborgen waren. Wenn die Menschen sie verloren haben, dann nur, weil sie nicht glauben. Sie kennen doch die Geschichte von Kassandra, der Priesterin von Troja, deren Schicksal es war, die Wahrheit zu sprechen, damit aber immer nur auf Unglauben zu stoßen. Sie ist die eigentliche Heldin der Geschichte. Nicht Helena oder Achilles oder Odysseus. Seit dreitausend Jahren kennt jede Generation die wahre Geschichte von Troja – und jede Generation weigert sich aus Kleingeistigkeit, sie zu glauben.»
«Aber sämtliche Quellen widersprechen einander», wandte Marina ein. «Je nachdem, wem man glaubt – Plinius, Pausanias, Lykophron, Strabo oder Arrianos –, könnte die Weiße Insel an der Mündung der Donau, des Dnjepr oder irgendwo im offenen Meer liegen.»
Sourcelles nickte. Es war eine Geste beinahe väterlicher Anerkennung, als lobte er eine altkluge Tochter, doch zugleich lag etwas Unersättliches darin, eine Gier, sie weiterzulocken. Er stand auf, ging zu dem Bücherschrank an der Wand, zog einen schmalen braunen Band heraus und legte ihn auf den niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes. Grant sah, dass Sourcelles’ Name in goldener Prägeschrift auf dem Deckel stand. Sourcelles schlug das Buch bei einer doppelseitigen Landkarte auf und drückte die Seiten flach, während sich die anderen vorbeugten, um besser sehen zu können.
«Das Schwarze Meer.» Auf dem dicken, cremeweißen Papier erinnerte es an ein körperliches Organ mit den diversen Strömen, Meerengen und Zuflüssen, die davon ausgingen wie gewundene Blutgefäße. «Hier» – Sourcelles zeigte auf die nordwestliche Ecke – «mündet die Donau und hier» – er wies auf den nördlichsten Punkt – «der Dnjepr. In der Mitte zwischen beiden der Dnjestr. Die Entfernung beträgt jeweils hundert Kilometer. Alors …»
Er nahm einen hölzernen Zirkel aus einer Dose und gab ihn Marina. «Mademoiselle. Sie können uns zeigen, welcher Punkt fünfhundert Stadien von der Mündung des Dnjestr entfernt liegt.»
Marina stellte den Zirkel anhand des Maßstabs der Karte ein, dann setzte sie die Spitze in der schmalen Bucht an der Mündung des Dnjestr an und drehte. Der blasse Kreis, den sie zeichnete, berührte sowohl die Mündung der Donau als auch die des Dnjepr.
«Ich sehe nicht, dass uns das weiterbringt», bemerkte Reed.
Sourcelles beachtete den Einwand nicht. «Plinius ist eine fausse piste, wie sagt man, eine falsche Fährte. Hier» – er tippte mit einem silbernen Bleistift auf die Mündung des Dnjepr – «lag die griechische Kolonie Olbia. Sie wurde im 7. Jahrhundert vor Christus von Siedlern aus Milet gegründet, die kamen, um von den Skythen Pelze und wertvolle Steine im Tauschhandel zu erwerben. Achilles war gewissermaßen der Volksheld dieser Gegend – der Schutzheilige, Sie verstehen? Sie haben ihm einen Tempel gebaut, auf einer kleinen Insel, wo der Fluss ins Meer mündet. Aber das geschah, weil die Geschichte der Weißen Insel bekannt war, weil Achilles bereits mit dieser Gegend in Verbindung gebracht wurde. Jahrhunderte später erinnerten sich Dichter und Geographen an die Geschichte der Weißen Insel; sie erinnerten sich, dass es auf einer Insel bei Olbia einen Achillestempel gab, und dachten, beides müsse derselbe Ort sein.»
«Wenn es also dort nicht ist, dann muss es in der Donaumündung sein.»
«C’est possible. Das glaubten jedenfalls Pausanias und Lykophron, und es gibt viele Inseln im Mündungsbereich der Donau. Aber Pausanias ist selbst nie am Schwarzen Meer gewesen. Er wiederholte nur, was er in einer weitaus älteren Quelle gelesen hatte. Und er hat falsch übersetzt. Die korrekte Lesart lautet nicht in der Mündung der Donau, sondern gegenüber.»
Marina fuhr mit dem Finger den Bleistiftkreis nach, den sie gezeichnet hatte: aus der Donaumündung heraus, durch das offene Meer und im Norden wieder auf das Ufer zu. Ihr Finger glitt über die Karte – und dann, am nördlichsten Punkt des Kreises, hielt er einen Moment lang inne. An der Spitze ihres Nagels, beinahe unkenntlich gemacht von der Bleistiftlinie, die genau hindurch verlief, befand sich auf dem Papier ein dunkler Fleck. Es hätte ein Tintenklecks sein können oder eine zerquetschte Fliege, doch als Marina näher hinsah, erkannte sie … «Es ist eine Insel.» Sie schaute blinzelnd auf. «Wie heißt sie?»
«Auf Russisch wird sie Ostrov Zmeinyj genannt, auf Türkisch Yilanada.» Sourcelles lächelte, als er die verständnislosen Gesichter sah. «Beides bedeutet dasselbe. Der griechische Name lautet Ophidonis.»
«Die Schlangeninsel», sagten Marina und Reed beinahe wie aus einem Mund.
Sourcelles nickte. «Sie kennen die Symbolik der Schlange. Sie kriecht in dunkle Erdlöcher, hinein in die finstersten Tiefen, wohin kein Mensch vordringt. Sie besitzt die Macht des Todes – aber auch die des Lebens.»
«Des Lebens?», wiederholte Grant skeptisch.
Sourcelles zeichnete in eine Ecke der Seite eine Wellenlinie und dann längs hindurch eine Gerade. «Sie kennen das Symbol der Heilberufe? Die Schlange, die sich um den Stab windet. Es ist ein altes griechisches Zeichen, der Asklepiosstab. Die Schlange ist eines der frühesten Symbole primitiven Lebens – geschlechtslos, zeitlos, fähig, sich selbst zu erneuern, indem sie ihre alte Haut abwirft und zurücklässt. Außerdem wurden Schlangen mit der Sehergabe in Verbindung gebracht. Der Seherin Kassandra haben Schlangen die Augen und Ohren geleckt, als ihre Eltern sie alleinließen, und so erhielt sie ihre Fähigkeiten. Und Apollons Priesterin in Delphi war die Pythia, eine Pythonschlange in menschlicher Gestalt, durch die das Orakel sprach, wenn sie in Trance fiel.»
«Und dann die minoische Schlangenfrau», warf Grant ein. Das Bild von den Schlangen, die sich um ihre Hüften und Brüste wanden, hatte sich auf verstörende Weise in seinem Kopf festgesetzt.
Sourcelles zog ironisch eine Augenbraue hoch wie ein Lehrer, der über den Jungen in der letzten Bank überrascht ist. «Très bien. Laut Arrianos gab es auch im Achillestempel auf der Weißen Insel ein Orakel. Also welcher Ort wäre passender für diesen Tempel des unsterblichen Helden, diese Pforte zur Unterwelt, als die Schlangeninsel?»
«Aber die liegt in der verdammten UdSSR!», platzte Jackson heraus. Er stieß mit einem Finger auf die Buchseite. «Wollen Sie mir sagen, dass die Sowjets die ganze Zeit auf diesem Ding hocken?»
Draußen zuckte ein gegabelter Blitz ins Tal, und der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben wie Kugelhagel. Der Lärm des Wassers umgab sie von allen Seiten, es strömte rauschend von den Dächern, durch die Rinnsteine und den Berghang hinunter.
«Ist jemals jemand dort gewesen?», fragte Muir ruhiger.
Sourcelles schwenkte seine Zigarettenspitze wie einen Zauberstab. «1823 hat ein russischer Offizier der Schwarzmeerflotte, ein Kapitänleutnant Kritskij, dort angelegt. Er hat seinen Bericht einem Forscher an der Akademie der Wissenschaften und der Künste in Sankt Petersburg übergeben.»
Alle fünf beugten sich gespannt auf ihren Sitzen vor. Das Feuer knisterte und sprühte Funken, die wirbelnd im Kamin aufstoben.
«Hat er etwas gefunden?»
«Er hat festgestellt, dass die Insel ihrem Namen alle Ehre macht.» Sourcelles steckte sich eine neue Zigarette an und schob sie in die Spitze. «Es wimmelte dort von Schlangen. Außerdem gab es auch viele Vögel. Er konnte nicht mehr als zwei Schritte weit gehen, ohne auf das eine oder andere Tier zu treten. Haben Sie den Bericht bei Arrianos gelesen?», fragte er plötzlich, wieder an Marina gerichtet. Sie nickte langsam. «Er schreibt, die Weiße Insel war voller Seevögel. Jeden Morgen tauchten sie ins Wasser hinab und nässten ihre Flügel in den Wellen, und dann flogen sie hinauf und verspritzten das Wasser über dem Tempel. Anschließend landeten sie und wischten mit ihren Flügeln den Hof des Tempels sauber.»
Jackson rutschte unruhig in seinem Sessel herum. «Können wir die Märchen vielleicht überspringen? Wir haben keine Zeit – nicht wenn Onkel Josef dieses Ding wirklich in seinem verdammten Hinterhof hat. Hat dieser Krisski oder Russki oder wie zum Teufel er hieß, irgendwas Wichtiges gefunden?»
Sourcelles bedachte ihn mit einem Blick, wie ihn nur ein Franzose gegenüber einem Amerikaner zustande brachte. Dann wandte er sich demonstrativ an die Übrigen. «Er hat einen antiken Tempel gefunden.»
Niemand wusste etwas darauf zu sagen. Sie alle starrten Sourcelles an, wie betäubt vor Hoffnung, vor Gier, vor Angst, was er wohl als Nächstes sagen würde.
«Hat er sonst noch etwas entdeckt? Etwas, nun ja … Wertvolles?»
Sourcelles’ Augen wurden schmal, und er musterte Jackson mit durchdringendem Blick. «Eine seltsame Frage. Ich wüsste gern eines, Mr. Jackson. Ich habe Ihre ermüdenden Fragen so gut wie möglich beantwortet; ich habe Sie in meinem Haus empfangen, obwohl Sie mir nichts als Gefahr bringen. Aber nun frage ich mich, warum interessieren Sie sich eigentlich so sehr für die Weiße Insel? Sind Sie Archäologe? Was führt fünf so unterschiedliche und – entschuldigen Sie – sonderbare Menschen in diesen gefährlichen Zeiten hierher zu mir? Sind Sie ehrlich zu mir gewesen? Ich denke nicht.» Er schaute sich im Raum um: Muir hatte eine trotzige Miene aufgesetzt, Jackson war unverhohlen wütend, Reed starrte auf seine Schuhe. Keiner sah ihm in die Augen.
«Der Legende zufolge befand sich auf der Insel ein riesiger Schatz.» Marina sprach mit ruhiger Stimme, doch ihre Worte erfüllten den Raum mit einer elektrisierenden Spannung. Muir gab einen erstickten, gurgelnden Laut von sich, als hätte er eine Art Anfall. Jacksons Hand glitt unter sein Jackett, in Richtung des Colts unter seinem Arm; Grant griff für alle Fälle nach dem Webley. Nur Reed und Sourcelles blieben reglos sitzen und schienen all das nicht wahrzunehmen. Sourcelles forderte Marina mit einer Handbewegung auf fortzufahren.
«Laut Arrianos zog der Tempel reichliche Opfergaben von Seeleuten an, die dort landeten. Er beschreibt Berge silberner Schalen und goldener Ringe und Anhäufungen kostbarer Steine. Einen gewaltigen Schatz.»
Muirs Herz begann wieder zu schlagen; Jacksons Hand kam wieder zum Vorschein. Grant jedoch hielt die Finger am Griff des Webley.
«Dem Bericht zufolge opferten sie auch viele Ziegen.» Sourcelles und Marina tauschten ein verschwörerisches Lächeln aus, das Grant nicht behagte. «Aber nein, soweit mir bekannt ist, fand Kapitän Kritskij nichts als Steine. Keinen Schatz. Vielleicht lag er tief in den Eingeweiden der Insel verborgen. Aber wahrscheinlicher ist, dass er bereits vor langer Zeit geplündert wurde. Das Schwarze Meer war immer schon ein Tummelplatz von Piraten und Dieben.» Er neigte mit einem frostigen Lächeln den Kopf in Richtung seiner Besucher. «Wenn Sie dorthin fahren, seien Sie auf der Hut. Nicht ohne Grund fürchteten die alten Griechen das Schwarze Meer als einen Ort jenseits der Grenzen der Welt, eine Zwischenregion, von Wilden bevölkert. Kriegerische Amazonen, menschenfressende Laistrygonen, Sirenen und Schlangen.
Sie sollten sich vom harmlosen Namen der Weißen Insel nicht trügen lassen. Das Christentum hat uns weisgemacht, das Jenseits sei ein glückseliger Ort mit Harfen und Chören und sanften Wolken. Die Griechen wussten es besser. Selbst für Heroen war es ein Reich des Zornes und der Qualen. Es gibt bei Philostratos eine Geschichte über die Weiße Insel, in der der Geist des Achilles einem durchreisenden Händler aufträgt, ihm ein bestimmtes Sklavenmädchen aus Kleinasien zu bringen. Als der Händler es tut, speist Achilles ihn fürstlich in seinem Tempel und schickt ihn dann wieder fort. Doch während der Händler davonsegelt, hört er von der Insel her Schreie, grauenhafte Schreie unsäglicher Qual. Es ist das Mädchen, dem Achilles die Glieder einzeln vom Leib reißt.»
Jackson stand auf. «Tja, also dann, vielen Dank, Mr. Sourcelles. Ich denke, wir machen uns jetzt besser wieder auf den Weg. Sie, ähm, Sie waren uns eine große Hilfe.»
Die Übrigen blieben sitzen. «Was ist mit der Tontafel?», fragte Muir. «Wegen der sind wir schließlich hergekommen.»
«Wegen der sind Sie hergekommen?» Zorn verdüsterte Sourcelles’ Stimme. Er stand auf. Im Feuerschein fiel sein Schatten lang durch den Raum. «Man kommt nicht einfach hierher in mein Haus und stellt Forderungen. Meine Sammlung gehört mir. Ich teile sie mit niemandem. Es sei denn, Sie hätten mir im Gegenzug etwas Entsprechendes anzubieten?»
«Gehen wir», drängte Jackson. «Wir brauchen diese Schrifttafel nicht. Die Insel finden wir auch so. Außerdem können wir das verdammte Ding ja ohnehin nicht lesen.»
«Und was tun wir, wenn wir die Insel erreicht haben?» Reed sah wütender aus, als Grant ihn je erlebt habe. «Ohne die Informationen auf dieser Tafel hätten wir nicht einmal mit der Suche angefangen. Was, wenn auf der zweiten Hälfte noch weitere entscheidende Hinweise sind? Was immer sich auf dieser Insel befindet, fest steht, dass es nicht offen sichtbar herumliegt.»
«Sie halten den Mund», befahl Jackson barsch. Für einen Moment geriet Sourcelles in seinem eigenen Haus in Vergessenheit; die drei Männer starrten einander finster an, und jeder wartete darauf, dass der andere nachgab. Ihr Gastgeber beobachtete sie, neben dem Kamin stehend, und hörte unbeteiligt, wenn auch mit einer gewissen Faszination zu.
Plötzlich drang der klagende Ton einer Glocke durch das leere Haus. Alle wandten sich Sourcelles zu, der die Achseln zuckte. «Die Türklingel. Jacques wird sich darum kümmern.»
«Erwarten Sie noch weitere Besucher?» Grant griff bereits wieder nach seiner Waffe.
«Nein.»
«Wahrscheinlich ist es Kirby», vermutete Jackson. «Er muss sich allmählich wundern, wo wir so lange bleiben.»
Die Glocke ertönte wieder. Sourcelles runzelte ungehalten die Stirn. «Wo bleibt nur Jacques?» Er ging zu den Fenstertüren hinüber und öffnete sie. Ein Schwall kalter, feuchter Luft schlug herein, und der Lärm des prasselnden Regens erfüllte den Raum. Sourcelles spähte in das Unwetter hinaus, doch der Garten war im Halbdunkel kaum zu erkennen. «Qui est là?»
«Nein!» Grant begriff einen Sekundenbruchteil zu spät, was sich anbahnte. Er hechtete zu der offenen Tür und riss im Sprung Marina zu Boden. Noch ehe er gelandet war, schlug die erste Kugel ein.