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Die riesigen Türme überragten Isak finster, als er den Brunnen auf dem Platz der Vorburg umrundete. Er rutschte auf den regennassen Pflastersteinen aus und fiel wie ein nasser Sack auf den Boden. Die Landung presste ihm die Luft aus den Lungen, seine Rippen protestierten schmerzhaft. Er rollte sich auf den Rücken und starrte in die Finsternis des Nachthimmels, musste aber die dicken Regentropfen dazu wegblinzeln, die ihm in die Augen fielen. Mit einem Stöhnen zwang er sich, den Kopf anzuheben, aber dann sah er die Menge hinter sich rasch näher kommen.

Steh auf, du Narr, bekämpfe den Schmerz und lauf. Dieser Gedanke spornte ihn an und brachte ihn wieder auf die Beine. Er musste nur noch vierzig Meter überwinden, also senkte er den Kopf und sprintete auf die Zugbrücke zu. Zum Glück war sie heruntergelassen, also murmelte er ein kurzes Dankgebet an Nartis, während er darübereilte.

Das Licht aus den schmalen Schießscharten beleuchtete den Regen, der die Oberfläche des schwarzen Wassers im Burggraben aufraute. In seiner Verzweiflung hatte Isak all seine Gedanken darauf ausgerichtet, in die Sicherheit zu Füßen der Tortürme zu gelangen, jetzt krachte er gegen die eisenbeschlagenen Torflügel und prallte ab, suchte erfolglos nach einem Weg, hineinzugelangen.

Er strich sich das feuchte Haar aus der Stirn und wischte sich eine Mischung aus Regen, Blut und Dreck aus den Augen, um klar sehen zu können. Als der Schauer schlimmer wurde, blickte Isak zum Himmel auf, diesmal nicht um zu Nartis zu beten, sondern um einen verzweifelt-anklagenden Blick hinaufzuwerfen, denn nun erreichten ihn seine Verfolger.

Als sich die Männer auf ihn stürzten, rollte sich der Junge zu einer Kugel zusammen und schützte seinen Kopf mit den blutigen Händen. Jeder Schlag wurde von triumphierendem Grunzen begleitet. Ein Tritt warf ihn auf den Rücken und seine Augen öffneten sich für einen Augenblick. Er sah das Gesicht über sich, verzerrt und jeglicher Menschlichkeit beraubt. Dann verschwand es plötzlich, wurde zur Seite gerissen – und die Schläge hörten mit einem Mal auf. Isak zuckte, erwartete angespannt den nächsten Schlag, aber dieser kam gar nicht. Vorsichtig sah er auf. Seine Angreifer standen dort, verärgert dreinschauend, die Augen rot vor aufgestauter Wut. Einer von ihnen rappelte sich gerade vom Boden hoch, unverletzt, aber offensichtlich außer sich vor Zorn.

Jetzt sah Isak zwei Palastwachen auf beiden Seiten neben ihm stehen, die Hände auf dem Knauf ihrer Langschwerter. Die schwarze Rüstung, über der sie den blendend weißen Wappenrock ihres Lords trugen, erregte im Halbdunkel Furcht. Sie waren für den Kampf gerüstet, mit den Helmen über ihren Gesichtern. Isak blickte nach links, auf eine Tür in der Wand. Ein Schild hing im Innern knapp dahinter, auf dem ein Adler mit geöffneten Flügeln in Schwarz und Weiß zu sehen war. Lord Bahls Wappen.

Ein Windhauch glitt an der Wand entlang und ließ die Männer auf der Zugbrücke erschaudern. Sie waren kurz davor zu fliehen, aber dann kam Horman an und drängte sich durch die Menge nach vorn.

»Dieses verdammte Weißauge hat gerade einen Menschen getötet«, rief er. »Er ist mein Sohn und ich kenne das Gesetz. Tretet beiseite.«

Einer der Geister trat vor. Er bedeutete Horman wortlos näher zu kommen. Dann nahm er die Hand vom Schwertgriff, um den Helm vom Kopf zu ziehen.

Isak spürte Panik aufwallen. Bis zum Alter von achtzehn Sommern blieb ein Kind Eigentum seiner Eltern, wenn sie nicht beschlossen, dass es schon früher erwachsen war. Die meisten Eltern gaben dem Drängen ihrer Kinder nach und erklärten sie mit sechzehn oder siebzehn Sommern zu Erwachsenen. Aber nicht so Horman; er hatte Isak auf diese Weise problemlos als seinen Sklaven behalten können, und in den Augen des Gesetzes war er damit immer noch ein Kind. Jetzt könnte man Isak auf Geheiß seines Vaters wegen des Mannes aufknüpfen, den er soeben getötet hatte.

Ohne Eile senkte die Wache vor Horman den Kopf, um den Helm abzunehmen, so bedächtig, dass Horman versucht war, ihr den Helm zu entreißen. Ein einzelner Kriegerzopf glitt hervor. Die Wache sah auf und fing Hormans Blick mit Augen auf, die so weiß waren wie Isaks. Horman stand mit offenem Mund da, bis die Wache ihn schlug.

Die andere Wache trat vor und zog das Schwert scharrend aus der Scheide. Isaks Verfolger wichen zurück, eilten dann über die Zugbrücke davon – und nur Carel blieb stehen. Die Wache ging mit erhobenem Schwert auf ihn zu, bis ihr Blick auf den weißen Kragen fiel, dann nickte sie und trat zurück. Carel nickte ebenfalls und nahm Horman bei den Schultern, um ihn einige Schritt wegzuziehen. Horman stand auf wackligen Beinen. Der weißäugige Geist war so groß wie Isak, aber viel stämmiger, und sein Schlag hatte Horman benommen und unsicher zurückgelassen.

Horman hob die Hand an seine Lippe und hielt sich dann einen blutigen Finger vor die Augen. Er löste sich aus Carels Griff und schaute Isak wütend an. »Gut. Komm nie mehr zurück! Für mich bist du tot!«

Isak konnte sich nicht erklären, warum ihm diese Worte jetzt so wehtaten, immerhin hasste er doch seinen Vater. Ihm fiel keine Erwiderung ein. Horman spuckte auf den Boden, drehte sich um und schlug die Hand beiseite, mit der Carel ihn aufhalten wollte. Carel sah Isak an und zuckte mit den Achseln.

»Vergiss mich nicht, wenn du erst General geworden bist, Isak«, sagte er, dann wandte sich auch Carel ab und ging fort. Isak öffnete den Mund, wollte ihm etwas nachrufen, aber er brachte keine Worte heraus. Nach einigen Herzschlägen schloss er den Mund wieder. Er blickte an sich hinab und sah das Blut an seiner Hand. Dann packte ihn jemand unter den Achseln und zog ihn auf die Füße. Die weißäugige Wache starrte ihn an, aber Isak fühlte sich wie betäubt, konnte nichts sagen.

»Könnt Ihr gehen?«, fragte die gewöhnliche Wache mit gefurchter Stirn.

Isak nickte und berührte den Boden erst vorsichtig mit den Zehen, bevor er den Beinen sein Gewicht anvertraute.

»War das wirklich Euer Vater?«

Wieder nickte er.

»Wisst Ihr, warum Ihr hier seid?«

Diesmal war ein Schulterzucken die Antwort. Isak blickte die Wache nicht an; er folgte mit dem Blick seinem Vater, der rasch in der Nacht verschwand.

»Wer hat Euch gesagt, Ihr solltet herkommen?«

»Niemand. Sie haben mich aus dem Stall gejagt, ich weiß nicht warum. Ich dachte, dass mich mein Vater vielleicht nicht totschlägt, wenn ich eine Patrouille fände. Und das hier ist doch der beste Platz, um eine Patrouille zu finden, oder?«

»Habt Ihr den Mann getötet, so wie es behauptet wurde?«

Isak hielt dem Mann seine verletzte Hand hin. »Ja, aber er versuchte gerade, meine Kehle aufzuschlitzen.«

»Und Ihr seid sicher, dass Euch niemand schickt?«

Isak warf dem Mann einen erschöpften Blick zu. »Natürlich. Warum fragt Ihr mich das immer wieder? Wer sollte mich schon herschicken?«

Der Mann gab auf. Mit einem verärgerten Schnalzen der Zunge wandte er sich wieder dem Wachraum zu und bedeutete Isak, ihm zu folgen. Sein Kumpan blieb noch einen Augenblick stehen und starrte Isak mit beunruhigendem Ausdruck in die Augen. Isak spürte etwas Streitlust in sich aufwallen, also richtete er sich auf und starrte das Weißauge ebenfalls an. Seltsamerweise erschauderte die Wache und wandte den Blick ab.

Die Wache, gut eine Handbreit kleiner als die andere, bedeutete Isak erneut, in den Wachraum zu kommen. Und diesmal folgte der Junge dem Flackern eines Feuers und trat in die Wärme.

Er suchte sich einen Weg an zwei an die Wand gelehnten Glefen mit kurzer Stange vorbei und ging so nah wie möglich an die Flammen heran. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit einem Stapel Lumpen und einer leeren Platte darauf. Isak durchsuchte die ölverschmierten Lappen und band sich den saubersten so fest er konnte um die verletzte Hand.

Die weißäugige Wache kam herein und zog die Tür hinter sich zu. Sie bestand aus Eiche und hatte ein massives Eisenschloss, aber neben dem gewaltigen Block Granit, der auf einer einfachen eisernen Laufleiste ruhte – wohl für den Fall einer Belagerung gedacht  – erschien sie winzig. Nachdem er die Tür verschlossen hatte, wandte sich der Mann um und betrachtete Isak erneut. Dieser konnte nicht erkennen, ob sein Ausdruck verwundert oder feindselig war, aber er beschloss, dass er zu hungrig und durchgefroren war, um sich darüber großartig Gedanken machen zu können.

Die andere Wache ging zur gegenüberliegenden Seite des Raumes, wo ein weiterer Steinblock zu sehen war. Sie zog an einer Kette, die durch ein Loch in der Decke herunterhing und pfiff einmal kurz. Das Geräusch wurde oben wiederholt und dann verbreiterte sich der dunkle Spalt auf einer Seite. Isak konnte das Knirschen des bewegten Gesteins an den Fußsohlen spüren.

Der Wachmann nahm eine brennende Fackel aus einem Wandhalter und duckte sich in die wachsende Öffnung. »Hier entlang«, sagte er knapp.

Nach dreißig Schritt endete der Gang vor einer eisenbeschlagenen Holztür, die in einem seltsamen Winkel in der Wand ruhte. Die Wache schob sie auf und trat dann zurück, um Isak Platz zu machen, der sich vorbeizwängte. Er duckte sich unter dem Rahmen durch und sah in eine große, von Lärm erfüllte Halle, dann ging er die paar abgenutzten Stufen hinab. Ein gewaltig gleißendes Feuer befand sich ihm gegenüber und darüber hingen brutzelnde Fleischstücke. Zwei junge Mädchen kümmerten sich darum. Im Raum standen einige lange Tische und ein paar der Männer – Isak schloss aus ihren strengen Uniformen, dass es Wachmänner waren – schauten kurz zu den Neuankömmlingen, wandten sich dann aber schnell wieder ihrer Mahlzeit zu.

An den Balken der Kammer hingen Regimentsflaggen und Gobelins bedeckten die Wände. Dazwischen fanden sich immer wieder Schilde, Schwerter und zerbrochene Standarten, zweifellos Trophäen aus vergangenen Kämpfen. Der Geruch von Pfeifenrauch, verbranntem Fett, frischem Brot und dickem Eintopf hin verlockend in der Luft.

Isak spähte umher, blickte auf die Verzierungen der Halle, erkannte eine Handvoll der Embleme von seinen Reisen wieder. Vermutlich waren sie in den auf den Wandteppichen dargestellten Kämpfen errungen worden. Obwohl die Wandbehänge verblasst und schmutzig waren, konnte er die Schlachtlinien und feindlichen Formationen dennoch erkennen. Er drehte sich zu der Wache um, die auf einen der Diener zeigte, dann wieder im Gang verschwand und die Tür schloss. Isak blickte ihm nach; offensichtlich war ihnen egal, dass er einen Mann getötet hatte. Dies ergab nicht viel Sinn – aber an diesem Abend galt das für alle Ereignisse und Isak würde jetzt nicht über vergossenes Blut weinen.

Der Diener trug die traditionelle Farlan-Tracht aus weiten Hosen, die an den Füßen zusammengebunden wurden, und einem dicken Tuchhemd, das an der Taille von einem handbreiten Gürtel gehalten wurde. Es wirkte, als wäre er eben auf dem Weg zum Tempel, um die Nachtwache bei Kerzenlicht anzutreten, aber der Gürtel des Mannes trug Lord Bahls Adler und kein heiliges Symbol.

Der Diener funkelte Isak an. Auch er sagte nichts, zeigte bloß auf einen leeren Tisch und ging, um nur wenig später mit einer Schüssel voll von Reheintopf wiederzukommen, auf der ein Fladenbrot lag. Isak fiel hungrig darüber her und aß für den Fall, dass all dies doch nur ein Fehler war und man es ihm schon wieder wegnehmen würde, bevor er fertig wurde, so schnell er konnte. Er hatte gerade begonnen, den Boden der leeren Schüssel mit dem Brot auszuwischen, als man ihm eine neue vorsetzte, diesmal zusammen mit einem Krug Bier. Diese Portion aß er langsamer, aber er war noch immer ein Junge im Wachstum, der schon jetzt fast zwei Meter groß war, und darum war eine dritte Schüssel nötig, um seinen Hunger zu stillen.

Endlich lehnte er sich zurück, wischte sich die Reste der Suppe vom Mund und betrachtete seine Umgebung. Dies war die erste Gelegenheit, sich den Raum richtig anzusehen. Es bestätigte sich, dass die Wandteppiche wirklich Szenen berühmter Schlachten zeigten. Die Namen der Schlachten waren auf unterschiedliche Weise in die Bilder eingearbeitet. Einmal formten die Schatten der Bäume im Hintergrund einen solchen Titel, auf einem anderen Bild war er in das Banner des Hauptmanns eingewoben. Isak erinnerte sich an Carels Erzählungen von genau diesen Einsätzen: der überaus gefürchtete Lord Bahl in erster Schlachtenreihe, mitten im Getümmel, auf einem Drachen oder einem stolzen Hengst, und stets ließ er Berge erschlagener Gegner zurück.

Die Teppiche im Raum zeigten die Geschehnisse in zeitlicher Abfolge, soweit Isak sehen konnte. Das älteste, das sich vor mehr als zweihundert Jahren ereignete, befand sich auf dem Teppich hinter dem letzten Tisch in der rechten Ecke der Halle, das jüngste auf einem neben der großen Haupttür – Isak wusste, dass Carel an dieser Schlacht teilgenommen hatte, kurz nachdem er den Geistern beigetreten war. Er verbrachte einige Minuten damit, nach einer Gestalt zu suchen, die den weißhaarigen Mann in seiner Jugend darstellen könnte. Aber die meisten Soldaten waren nur leere Schemen und keine wirklichen Leute. Es tröstete ihn, sich vorzustellen, dass einige dieser Soldaten Weißaugen gewesen waren. Aus der Ferne wirkten sie alle gleich, und sie kämpften zusammen – als Kameraden.

Er lächelte und stellte sich Carel als jungen Mann vor, so wie er selbst einer war. Da er nicht wusste, was er tun sollte, blieb er bei den Veteranen, im Versuch alles aufzunehmen, was er sah, und zugleich am Leben zu bleiben. Jetzt, da er endlich Zeit zum Nachdenken hatte, fragte er sich, warum Carel vor den Palasttoren wieder gegangen war – wie konnte er einfach davon ausgehen, dass Isak hier schon akzeptiert werden würde? Sogar Isak wusste, dass Leute für die Wache nicht auf diese Weise rekrutiert wurden. Was im Namen des Todes ging hier vor sich? Und was hatte seinen Vater so in Rage versetzt? Isak wusste, dass man seinen Vater leicht verärgern konnte, aber so hatte er ihn noch nie erlebt – und seine Freunde auch nicht. Sie waren wie wilde Hunde im Blutrausch gewesen; irgendwas musste geschehen sein, um sie so weit zu bringen. Isak lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Irgendwie wusste er, dass dies etwas mit dem seltsamen Söldner Aracnan zu tun hatte.

Er schaute sich in der Halle um und suchte bei den anderen Männern nach einem freundlichen Gesicht. Sie stellten eine wilde Mischung dar; eine Handvoll der Geister war sauber und ordentlich, in Uniform, aber die meisten der Versammelten wirkten wie Waldläufer, gehüllt in eine waldfarbene Kleidung, die schon bessere Tage gesehen hatte. Ihre Hände hatten sie zum Essen gesäubert, aber an ihrer Kleidung haftete noch immer der Dreck. Und er konnte einige Wunden sehen, die nur eilig verbunden worden waren. Ein Waldläufer trug getrocknetes Blut im unordentlichen Haar und als Flecken auf seinem Wams. Die Waldläufer waren allesamt sehnig und von Sonne und Wind gezeichnet. Ihnen fehlte die offensichtliche Stärke der Wachen, weil ihre Kämpfe nicht mit Rüstung und Pike geschlagen wurden, sondern mit Heimlichkeit, Tarnung und schnellen Pfeilschüssen aus den Bäumen.

Wer von ihnen sich die Mühe machte, Isaks Blick zu erwidern, schenkte ihm nur einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit. Vielleicht wussten sie, warum er hier war, vielleicht aber auch nicht. Isak wusste nur, dass er sich noch beweisen müsste, bevor man ihn hier duldete. Niemand schien sich an der Farbe seiner Augen zu stören – das war mal eine Abwechslung, weil die meisten Leute deswegen auf Abstand blieben. Er wurde jedoch nicht vollständig übersehen, denn jetzt kamen die Hunde zu ihm, die durch die Halle strichen, leckten den Matsch und das Blut von seinen nackten Füßen und schnupperten an den leeren Schüsseln. Aber sobald sie sicher waren, dass hier kein Futter mehr zu holen war, ließen sie sich wieder am offenen Feuer nieder. Hechelnd lagen sie dort und starrten sehnsüchtig auf die Fleischstücke am Spieß, deren Duft die Halle erfüllte.

 

Weit darüber, hoch oben in der Spitze des Turms von Semar, lief Lord Bahl in seinen Räumlichkeiten auf und ab, denn die für den Krann gedachten Geschenke riefen in die stille Nacht hinaus nach ihm. Sie nagten an seinen Gedanken, doch Bahl war ein disziplinierter Mann und kannte die verderbliche Natur der Magie gut. Er hatte nicht vor, sich von ihr beherrschen zu lassen, wie es mit Atro geschehen war, dem vorangegangenen Lord der Farlan.

Lord Atro hatte den Stamm vierhundert Jahre lang beherrscht, bevor Bahl ihn getötet hatte. Schon bevor er in den Palast kam, war Atro ein böser Mann gewesen. Mit seiner neuen Macht hatte er sich glorreich gefühlt und gemordet, gefoltert und geschändet, wie es ihm nur in den Sinn kam. Grabkammern zu plündern und Tempel zu entweihen hatte seine Sucht nach magischen Artefakten weiter angefacht, und je größer seine Liebe für sie geworden war, umso lauter hatten sie auch nach ihm gerufen. Als Bahl sein gefeiertes Duell mit Atro bestritten hatte, war der alte Lord kaum noch bei Verstand gewesen. Trotzdem hatte das Duell Bahl beinahe das Leben gekostet.

»Mein Lord, bitte beruhigt Euch. Der Junge ist dort unten, aber er kann warten. Ihr müsst Euch entspannen oder wir verlieren unseren neuen Krann binnen weniger Minuten.« Lesarl, Bahls Haushofmeister, stand am Tisch auf einer Seite des Raumes. Bahl gab nicht viel auf eine feine Einrichtung. Die Kammer, die kleinste und abgelegenste, in der obersten Spitze des Turmes, war in jeder Hinsicht wenig eindrucksvoll. Bahl gab sich mit den einfachsten Möbeln zufrieden: einem kleinen Eichentisch, einigen übervollen Bücherregalen und einem übermäßig großen Bett, das den Hauptteil des Raumes ausfüllte.

Dieser Raum stellte einen Ruheort für ihn dar, hier konnte er sich ebenso vom Leben zurückziehen wie von der Prunksucht der öffentlichen Räume des Palastes. Sonst hatte es nur einen Vorteil: Man besaß hier den besten Ausblick auf die Berge – an den Tagen, wenn der Nebel die Stadt einmal nicht einhüllte.

»Warum heute?« Er blickte den Haushofmeister an.

»Ich weiß es nicht. Um Euch zu prüfen?«

Dies brachte ihm nur ein Grunzen ein, aber mehr hatte Lesarl auch nicht erwartet. Er goss aus dem Krug auf dem Tisch ein Glas Wein ein und hielt es dem Lord hin, bis dieser seufzte und es annahm. In einer solchen Laune war Lord Bahl zu allem fähig. Sich ein Glas Wein durch die Kehle rinnen zu lassen, mochte tatsächlich hilfreich sein.

»Ich fragte mich schon, ob Ihr heute Nacht zurückkehren würdet. Ihr habt zuvor noch nie so viel Zeit im Wald verbracht.«

»Ich werde immer zurückkehren.«

»Ist es schlimmer geworden?«

»Es wird immer schlimmer.«

Lesarl wärmte sich die Hände am Feuer und sah zum einzigen Gemälde im Zimmer auf. Das wirklich Bemerkenswerte an diesem Bild war nicht die kunstvolle Fülle der Einzelheiten oder die unbestreitbare Schönheit der Frau, die neben einem Fluss lag, sondern das zufriedene Lächeln auf ihren Lippen, denn es waren die Lippen eines Weißauges. Lesarl hatte noch nie – den Göttern sei Dank – ein weibliches Weißauge getroffen, aber es war bekannt, dass sie genauso selbstsüchtig und angriffslustig wie ihre männlichen Gegenstücke waren. Den Weißaugen lag die Gewalt von Geburt an im Blut, und ganz gleich wie lieblich und aufrichtig sie auf dem Bild auch wirkte, diese Frau musste eine wirkliche Gefahr gewesen sein, wenn man sie verärgerte.

»Lesarl, hör auf zu starren. Es steht dir nicht zu, mich an die Vergangenheit zu erinnern«, grollte Bahl und umfasste den Ring, der an einer feinen Kette um seinen Hals hing. Ineh, die Frau auf dem Bild, trug darauf eben diesen Ring. Das Bild und der Ring waren die einzigen Dinge, die Bahl zurückbehalten hatte.

»Es tut mir leid, mein Lord«, sagte der Haushofmeister und wandte sich wieder Bahl zu. »Ihr Gesicht lenkt mich stets ab. Ich könnte schwören, diese Augen folgen mir jeden Gang hinab, wie die einer Amme.«

»Eine Amme? Sie hätte ihren eigenen Kindern eine Mutter sein sollen.«

Für einen Augenblick vergaß Bahl den Jungen und die Gaben der Götter unter sich und versank zurück in glücklichere Zeiten. Aber der Ruf der Gegenwart – oder vielleicht der Zukunft – zog seine Aufmerksamkeit wieder auf Lesarl. »Also, wirst du mir sagen, was du mit Lord Illit dort unten hingebracht hast? Ich kann etwas Ungewöhnliches spüren, etwas, mit dem ich nicht vertraut bin. Dort ist …« Er ließ die Worte ausklingen.

»Seid Ihr sicher?«, fragte Lesarl.

»Ja, verdammt noch mal«, brüllte Bahl. »Ich kenne meine eigenen Schwächen wohl gut genug! Es steht dir nicht zu, mich zurechtzuweisen.«

Lesarl zuckte die Achseln und hob beschwichtigend die Hände. Dagegen konnte er nichts sagen. Es war Lord Bahls Fähigkeit gewesen, seine Schwächen in Stärken zu verwandeln, die den Wideraufbau der Nation der Farlan ermöglicht hatte. »Eine Rüstung und ein Schwert.«

»Und?«, wollte das Weißauge wissen. »Ich weiß, dass da noch mehr ist … ich spüre, wie es in meinem Innern rumort.«

»Mein Wissen ist begrenzt, mein Lord, aber ich glaube, es kann keinen Zweifel geben: Siulents und Eolis, die Waffen Aryn Bwrs sind zurück.«

Bahl spuckte ungewollt einen Mundvoll Wein aus und zermalmte das Glas zu Kristallpulver. Aryn Bwr, der letzte König. Man hatte seinen wahren Namen wegen seiner Verbrechen aus der Geschichte getilgt. Aryn Bwr, der oberste der Sterblichen, hatte nach Jahrhunderten der Kriege das gesamte Elfenvolk geeint, und die Götter hatten ihn daraufhin mit Geschenken überschüttet  – aber die wahren Ziele des Elfenkönigs hatten mit Frieden nichts zu tun. Aryn Bwr hatte Waffen geschmiedet, deren Macht jede Vorstellung überstieg, die mächtig genug waren, um sogar die Götter des Höheren Kreises zu erschlagen. Und er hatte sein Volk gegen seine Erschaffer geführt. Der Große Krieg währte nur sieben Jahre, aber die Zeichen der Schrecken, die beide Seiten begangen hatten, blieben auch nach Jahrtausenden noch erkennbar.

»Bei den Göttern, kein Wunder, dass Ilit damit nicht zu mir kam …« Er verstummte.

»Ich konnte es nicht glauben. Ich hielt Eolis in den Händen …« Auch Lesarls Stimme zitterte.

»Ist unser neuer Krann gesegnet oder verflucht?«, fragte Bahl in den Raum.

»Niemand weiß es. Die beste Rüstung, die je gefertigt wurde, eine Klinge, mit der Götter erschlagen wurden – ich glaube, ich würde sie um keinen Preis der Welt haben wollen. Aber was macht es für einen Unterschied, ob er gesegnet ist oder verflucht?«

»Durch sie wird er zum Hauptanliegen jedes Mächtigen und Verrückten des ganzen Landes. Das ist eine Last, die ich nur Wenigen wünschen würde.« Bahl runzelte die Stirn und fegte Glassplitter ins Feuer.

»Wie viele Prophezeiungen erwähnen sie?«

»Hast du deine Studien vernachlässigt, Lesarl?«

Er lachte. »Das muss ich leider zugeben – aber zu meiner Verteidigung möchte ich vorbringen, dass ich immerhin das Land regieren musste, sodass dieses Versäumnis hoffentlich zu einer lässlichen Sünde wird. Die ganze Angelegenheit übersteigt ohnehin mein Verständnis. Ich kann mit der Dummheit der Leute arbeiten, mein Lord, aber Prophezeiungen … nein.«

»Es ist die schwierigste Wissenschaft; es kann ein ganzes Leben dauern, einen Sinn in das wirre Geplapper zu bringen, das sie ausstoßen.«

»Woran soll man also glauben?«

»An gar nichts.« Bahl lachte humorlos. »Das Leben nach einer Prophezeiung führen? Das ist nur etwas für die Dummen und Verzweifelten. Man muss bloß wissen, woran andere glauben: an den Kult des Shalstik, die Prophezeiung der Geweihten, der Rose in der Wüste, des Erlösers, der Verdammten … kenne deinen Feind und ahne den Angriff voraus. Durch die unerwartete Ankunft dieses neuen Krann werden alle Augen im Land auf uns gerichtet sein. Je länger wir diese Geschenke geheim halten können, desto besser.«

»Wird das möglich sein?« Lesarl sah zweifelnd drein. »Wenn der Krann ohne Geschenke gesehen wird, wird die Hälfte der Zauberer in der Stadt neugierig werden. Ich weiß nicht, was ihre Dämonenführer ihnen sagen können, aber Macht erzeugt Aufmerksamkeit. Irgendjemand wird es mit Sicherheit herausfinden. Die Siblis – sie konnten sie aus wer weiß welcher Entfernung spüren?«

»Die Siblis haben eine Magie benutzt, deren Macht sie getötet hat, und ich glaube nicht, dass jemand anders ein solches Risiko eingehen wird. Aber du hast recht: Irgendwann wird irgendwer es herausfinden; dennoch, jede Verzögerung hilft uns dabei. Wenn es die Magier sind, die es zuerst begreifen, werden sie wenigstens zu dir kommen, wahrscheinlich, um es sich bestätigen zu lassen. Lobe sie wegen ihrer Weisheit, und dann mach ihnen klar, dass jemand sterben wird, sollte bekannt werden, dass Siulents und Eolis wieder im Spiel sind. Wir entscheiden ein ander Mal, wie wir dem entgegentreten, was die Priester sagen mögen. Jetzt wollen wir runtergehen und sehen, ob der Junge all den Ärger überhaupt wert ist.«

 

Isak döste am Tisch, den Kopf auf den Armen, trotz des anhaltenden Murmelns im Raum. Der bittere Geruch von Fett trieb vom Feuer herüber, und in seinem weggetretenen Zustand leckte er sich die Lippen, schmeckte den Reheintopf erneut, mit dem er sich den Wanst vollgeschlagen hatte.

Fleisch bedeutete in Isaks Leben eine seltene Freude, da das Jagdrecht ausschließlich den Leuten zustand, die dafür bezahlten. Nomaden, Reisende, die Armen – sie alle konnten ihr üblicherweise mageres Mahl nur mit Vögeln aufwerten, die sie mit der Schleuder schossen, und das war schon ohne einen ratternden Wagenzug, der sie verscheuchte, schwer genug. Dies war einer der wenigen Tage gewesen, an denen Isaks natürliche Begabung und sein scharfes Auge seinen Leuten Gutes gebracht hatten. Wenn er eine Gans oder Wildente für den gemeinsamen Kochtopf geschossen hatte, war das eine der seltenen Gelegenheiten, zu denen ihn sein Vater beinahe einmal lobte.

Durch seine Erinnerungen abgelenkt, bemerkte er die Veränderung in der Halle nur langsam. Die Stimmen waren verstummt. Die Haare in seinem Nacken sträubten sich und ein Kribbeln der Vorahnung lief ihm über den Rücken. Als er aufblickte, standen alle Männer im Raum. Ein Waidmann am Nachbartisch funkelte ihn an und nach einem kurzen Augenblick des Schreckens sprang Isak auf – und stand unmittelbar vor einem drahtigen Mann, der einige Zentimeter kleiner war als er. Dahinter befand sich ein Riese, fast einen halben Meter größer als Isak, der eine glatte blaue Maske trug.

»So, Ihr seid also der Neuankömmling«, sagte der Kleinere der beiden. Das Lächeln des Mannes wurde breiter, während er Isak von Kopf bis Fuß musterte. Isak, der sich wie eine Kuh auf dem Viehmarkt vorkam, musste sich zusammennehmen, um ruhig zu bleiben.

»Willkommen im Tirah-Palast. Habt Ihr einen Namen, mein Lord?«

»Äh, mein Name ist Isak, mein Herr.« Isaks Augen huschten vom einen Gesicht zum anderen. Der maskierte Riese hatte sich noch nicht ein einziges Stück bewegt. Als wäre er eine Statue, dachte Isak. Eine Erinnerung regte sich in den Tiefen seines Geistes, etwas Undeutliches knapp unter der Oberfläche. O ihr Götter, das ist Bahl.

Noch immer bewegte sich der Mann nicht und sagte kein Wort, aber seine Augen starrten tief in diejenigen Isaks, und er fühlte sich, als blicke ihm der Mann bis ganz tief in die Seele hinein, um sie ohne jede Gefühlsregung zu untersuchen und zu bewerten.

Isak spürte, dass alle Augen auf das alte Weißauge gerichtet waren; Lord Bahl strahlte eine Aura der Macht aus, durch die sich die Aufmerksamkeit auf ihn konzentrierte. Sie war wie ein gleißendes Feuer in der Mitte des Raumes; sogar mit dem Rücken zu ihm hätte Isak die Hitze gespürt. Plötzlich streckte der Mann die Hand aus. Isak starrte die riesigen Finger vor sich an, blinzelte, als habe er noch niemals eine Hand gesehen, und umfasste dann zitternd Bahls Handgelenk – und die große Hand schloss sich um seines.

»Isak. So hätte ich meinen Sohn zwar nicht genannt, aber ein Mann muss sich letztlich einen eigenen Namen machen. Ich vermute, die Götter werden dir den kruden Humor deines Vaters nicht vorhalten. Willkommen, Isak.«

»D-danke, mein Lord«, bracht Isak nur heraus. Er hatte sich an seinen Namen gewöhnt. Er erinnerte sich heute kaum noch daran, dass Horman ihn Isak gekannt hatte – Kasi rückwärts –, um die Götter zu verspotten, die ihm seine geliebte Frau genommen hatten. Jetzt, als Bahl seinen Unterarm hielt, spürte Isak einen plötzlichen Druck hinter den Augen. Er spürte auch die gewaltige Anwesenheit des Landes unter seinen Füßen – und sein Herzschlag pochte in seinem Kopf. Dann kehrten die Erinnerungen an seine Träume zurück, stürmten über diese Berührung auf ihn ein. Isaks Knie gaben nach und Sterne standen ihm vor Augen, bevor alles schwarz wurde.