28

Doranei kratzte gedankenverloren an den Stoppeln auf seiner Wange, hielt die Augen gesenkt und gab sich gelangweilt, während er das Gespräch am Nebentisch belauschte. Er saß allein in der dunklen Ecke der Taverne, nippte am schwachen Bier und prüfte gelegentlich, ob nicht der Schal von seinem Hals gerutscht war. Der Schankraum war warm und der eng gewickelte Schal hatte einige Aufmerksamkeit erregt, aber Doranei hatte kein Gesicht, das Fragen ermutigte. Am nächsten Tisch saß eine Gruppe von Bauern, die das Thema besprach, das im Augenblick die ganze Stadt beschäftigte. Vor zwei Tagen hatte man erfahren, dass Lord Isaks Ankunft bevorstand, und so erwartete man ihn an diesem Abend. Die Zungen überschlugen sich förmlich.
»Kann mir nich’ vorstellen, dass der den Krann wegschickt, wenn se verstritten sin’. Der’s ein irrer Schweinehund, wenner wütend is’.«
»Das sindse alle«, unterbrach ihn ein anderer. Aus seiner kurzen Beobachtungszeit des Trios schien es Doranei so, als müsse dieser Sprecher bereits mürrisch geboren worden sein. Den ganzen Abend schon hatten nur verbitterte kleine Gemeinheiten seine Lippen verlassen. »Ein Reisender sagte mir, dass sich der Krann nachem Kampf von Lomin so geschämt hat, dasser sein Zelt drei Tage nich’ verlassen hat. Sogar für ein Weißauge hat er gekämpft, als sei er ein Dämon im Blutrausch.« Der Mann beugte sich über sein Getränk und starrte resignierend in seinen beinahe leeren Becher.
Die Schenke war bei Weitem nicht das Beste, was die kleine Stadt zu bieten hatte. Die hölzernen Wände hatten Risse und waren verbogen. Der Gestank von Schweiß und Schimmel, altem Rauch und verschüttetem Bier füllte die Luft. Doranei war daran gewöhnt, unter den Sternen oder in einem Stall zu schlafen. Der tief sitzende Dreck hier nagte an seinen Nerven.
Sieh es ein, dachte er mit einem müden Lächeln, der König hat einen verwöhnten Weichling aus dir gemacht. In Schenken wie dieser hast du in jüngeren Jahren viel zu viel Zeit verbracht.
»Also, warum kommter dann?«, wollte der Jüngste der drei wissen. Der Schmutz hatte sich bei ihm noch nicht wie bei den anderen in die Haut eingegraben. Noch trug er einen Funken Interesse an dem Land in sich.
Doranei kannte die Antwort. Unter seinem Schal verbarg er das Bienenzeichen. Er trug wattiertes Leder und Kette, aber das sah man hier oft. Niemand würde einen Soldaten bemerken. Die Biene hingegen würde ihn als einen der Männer des Königs ausweisen. Man flüsterte sich düstere Dinge über die Männer des Königs zu, Gerüchte darüber, dass sie über dem Gesetz standen, was eine der wenigen Aussagen war, die der Wahrheit entsprachen. Wenn die Biene sichtbar wäre, würden ehrliche Männer in seiner Anwesenheit verstummen und sich fragen, welche Vergehen man ihnen vorwerfen mochte. Kein Richter würde es wagen, Doranei anzuklagen, für welches Verbrechen auch immer, solange er die königliche Duldung hatte. Es wäre fruchtlos, den Leuten zu erklären, dass der König eine völlige Selbstlosigkeit von den Männern in seinem Dienst verlangte. Er bestrafte Bestechlichkeit schwer und hatte ein untrügliches Händchen dafür, sie auszumerzen.
»Der Krann’s vermutlich hier, um ein Abkommen zu unterzeichnen«, erklärte der erste Bauer nach einer nachdenklichen Pause. »Jeder weiß, dass die Farlan Tor Milist einnehmen wollen, vielleicht wollense ja keinen Krieg mit uns, also wollen König Emin und der Krann… wie heisster noch mal?«
»Isak, sagt man. Sein Vater nannte ihn aus Trotz so. Verdammter typischer Farlan. Bereut es vermutlich, jetzt, wo sein Sohn der Krann is’!« Der griesgrämige Kerl lachte über seine Worte und seine Kumpanen nickten.
»Isak, genau. Ich wette, der’s hier, um einen Strich durch Tor Milist zu ziehen und’m König die Hälfte anzubieten. Der Mistkerl nimmt’s wahrscheinlich auch noch, sind noch’n paar Städte mehr, wo er seine Flagge hissen kann.«
Doranei ballte unwillkürlich die Hand. Die drei Bauern kicherten weiter, unwissend, wie kurz sie vor einer Abreibung standen, als eine Trompete durch die Nacht klang. Dies war eine Grenzstadt mit Männern auf ständigem Wachposten. Die Männer sahen sich an und ihr Lächeln verging. Reiter näherten sich. Es war nicht schwer zu erraten, dass einer von ihnen der Krann sein würde.
Die Gespräche in der Schenke wurden leiser, verstummten schließlich ganz, während sich die Leute umblickten, um zu erkennen, wer sich zuerst bewegte. Alle wollten das Weißauge in seiner schicken Elfenrüstung sehen, aber niemand wollte der Erste sein, der losstürmte und einen Fremden anstarrte. Man mochte die Arroganz der Farlan hier nicht, spätestens seit König Emins Macht sich der der Farlan oder der Chetse annäherte.
Doranei stand langsam auf und das Kratzen seines Stuhls zog alle Blicke auf sich. Er wickelte den Schal mit bewusster Sorgfalt ab und war sehr zufrieden, dass die drei Bauern zu zittern begannen, als sie die goldene Biene auf seinem Kragen sahen. Er zog ein abgenutztes Paar Handschuhe an, nahm seinen Mantel von einem anderen Stuhl an seinem Tisch und ging dann hinaus. Hinter sich konnte Doranei die Leute in Bewegung kommen spüren, aber er hatte die Ställe schon erreicht, bevor er hörte, wie eilige Schritte den Mauern zustrebten. Er strich sanft über den grauen Hals seines Pferdes, es drehte sich ihm schnobernd zu, dann stupste es seine Hand mit den Nüstern an und bat um Futter.
Er legte einen Arm über den Hals des Tieres, blickte ihm tief in die braunen Augen und sagte: »Nun, mein Freund, sollen wir uns diesen Krann ansehen, der alle so in Aufregung versetzt?«
Die Stute schnaubte und schüttelte den Kopf. »Ah, vielleicht hast du damit recht. Dennoch wird es so sein, wie der König befahl. Der Krann mag dunkle Zeiten bringen, aber so ist unser Leben ja ohnehin schon seit einer ganze Weile.« Er zog sich geschickt in den Sattel und das große graue Tier lief in schnellem Trab zum Stadttor.
»Hey, wo glaubt Ihr denn hinzugehen?«, fragte der Wachmann streitlustig. Hinter ihm konnte Doranei eine Gruppe von Männern sehen, die ihn unruhig ansahen. Einer ritt ein schönes Jagdpferd, vielleicht war es der ansässige Lordprotektor. Er war alt, konnte aber die Klinge an seiner Seite offenbar noch immer führen. Die anderen waren Stadträte, die in ihrer zeremoniellen Kleidung vor Unruhe schwitzten. Doranei unterdrückte ein Lächeln … ihre Einstellung, dass alle Farlan eitle Pfauen waren, würde ein Weißauge wohl kaum einschließen.
»Man schickte mich, Lord Isak in Empfang zu nehmen und ihm zu Diensten zu sein.«
Der Wachmann kam mit einem Fluch auf den Lippen näher, dann entdeckte er das Zeichen an Doraneis Kragen. Er zügelte sein Pferd hart und kniff im matten Licht die Augen zusammen. »Du bist ein Mann des Königs?«
»Nein, ich trage dieses Abzeichen nur, weil ich gehört habe, es wäre eine gute Sache, den König zu verärgern«, gab Doranei scharf zurück. Ohne auf eine Antwort zu warten, lenkte er sein Pferd um den Mann herum und auf die anderen zu. Auf der Seite bewegte sich ein Reiter, wurde aber von der gehobenen Hand des Lordprotektors zur Ruhe gebracht.
Als Doranei sie erreichte, sah er, dass die Gestalt in den Schatten feine weiße Kleidung trug. Die Handschuhe aber verrieten die Kettenrüstung, die sich darunter befand. Doranei vermutete, dass dies der Sohn des Adeligen war. Das konnte er gerade noch gebrauchen: einen Dorf-Hitzkopf, der erst noch lernen musste, dass er nicht unhöflich zu jedem sein konnte, den er traf. Der alte Soldat, der ihn gezeugt hatte, besaß offenkundig genug Verstand, um vorsichtig zu sein. Der König war sehr darauf erpicht, dass seine Männer den Respekt erhielten, den ihre Stellung verlangte. Wenn das bedeutete, dass Duelle mit leichtsinnigen Adligen geführt werden mussten, war das ein Preis, den er zu zahlen bereit war.
»Mein Lordprotektor«, rief Doranei und senkte repektvoll den Kopf. Er beachtete die anderen ausdrücklich nicht und drehte den Ratsherren den Rücken zu, als er an ihnen vorbeiritt.
»Ich bin Lordprotektor Coadech«, bestätigte der Ältere. »Und Ihr seid kein königlicher Herold. Warum sollte der König einen Soldaten ausschicken, um den Krann der Farlan zu empfangen.«
Doranei ließ sein Gesicht ausdruckslos erscheinen. Er wäre gern freundlich zu dem Lordprotektor gewesen – er hatte gute Dinge von Coadech gehört –, aber sein Auftrag bedingte, dass er Abstand wahren musste. Nur der König selbst wusste, wie viele Männer des Königs es gab.
»Das hat er nicht. Er schickte stattdessen mich. Wie dem auch sei, ich bin jedenfalls sicher, dass er es vorziehen würde, wenn Ihr, sein höchst ehrwürdiger Untertan, vorreiten und den Krann willkommen heißen würdet.
Der Sohn gab einen geringschätzigen Laut von sich, aber der Lordprotektor lächelte nur. Er war lebenserfahren genug, um sich nicht über eine kleine, freundliche Spöttelei aufzuregen. Die Männer des Königs trugen zwar keinen Titel, waren dafür aber mächtiger als jeder andere Untertan des Königs.
»Dann ist es mir eine Freude. Ich hoffe, der König empfindet es nicht als unangemessen, wenn ich unserem ehrenwerten Gast nur Eure Dienste als Bote anbiete. Es mag seltsam erscheinen, all Eure Fähigkeiten in den Dienst einer fremden Macht zu stellen.«
Doranei kniff die Augen zusammen. Er war sich darüber bewusst, dass viele die Bienenträger nur für königliche Meuchler hielten. Aber um den Mund des Lordprotektors lag ein amüsierter Zug. Er erwiderte das Lächeln und bedeutete dem älteren Mann, er solle voranreiten. Ein Pfiff von oben sorgte dafür, dass die Männer das große Tor öffneten. Der Lordprotektor ritt im Trab voraus, so dicht gefolgt von seinem finster dreinblickenden Sohn, dass für Doranei kein Platz mehr blieb. Der Mann des Königs überging den Jungen und wandte sich an die Ratsherren.
»Wartet hier. Wenn der Krann eine lange Reise hatte, möchte er vielleicht nicht schon eine ganze Reihe an Beamten treffen, noch bevor er abgestiegen ist.«
Sie wirkten von seinen Worten bestürzt, fanden aber nicht den Mut, Einspruch zu erheben, als er ungeduldig auf den Griff seines Schwertes klopfte.
Doranei folgte dem Lordprotektor hinaus und erlaubte seinem eifrigen Grauen, zu den Reitern im ersterbenden Zwielicht aufzuschließen. Vor ihnen konnte er einen geordneten Trupp Soldaten erkennen, die sich in ihren weißen Überwürfen deutlich von den Schatten abhoben. In ihrer Mitte ritt auf dem größten Streitross, das Doranei je gesehen hatte, der Krann und schimmerte im verbliebenen Licht des Abends. Selbst Doranei blieb bei seinem Anblick der Atem weg. Der Krann trug eine Maske, die an das blaue Gesicht von Nartis erinnerte. Aber erst durch das flüssige Silber, das seinen Körper umschloss, wirkte er wie ein Gott, der im Dunkeln lauert.
Die ihn umgebenden Soldaten waren in voller Kampfmontur, ihre Überwürfe aber trugen nicht die tristen Farben der Palastgarde, sondern ein Drachenzeichen, das Doranei nur aus den Berichten kannte, die sie erreicht hatten. Mit dem Blick des Vorgewarnten fand er das Schwarz und Gold des Grafen Vesna, der knapp hinter dem Krann ritt, und eine bemerkenswert hübsche Frau, offensichtlich adelig, nah bei dem Helden. Hinter ihnen ritt sodann eine schlanke Frau mittleren Alters mit stolzem Gehabe, vermutlich eine Anstandsdame, wenn man Graf Vesnas Ruf in Betracht zog. Wer der Mann war, der neben ihr ritt, wusste Doranei nicht zu sagen. Statt einer Rüstung trug er die dunkle, praktische Kleidung eines Spähers. Doch es begleiteten bereits zwei Waldläufer die Soldaten.
Na, was für eine spannende Mischung, dachte der Mann des Königs, während er den sich entspinnenden Formalitäten zusah. Lordprotektor Coadech hielt sein Pferd an und die Garde des Kranns teilte sich, um ihren Lord nach nach vorne durchzulassen. Mit den Augen eines Soldaten bemerkte Doranei, dass man diese Bewegung offensichtlich gut eingeübt hatte. Nicht ein einziges Pferdehaar bewegte sich außerhalb der Reihe.
Der Krann ritt mit ernster Würde im Trab nach vorn und überragte dabei alle. Schon jetzt frage ich mich, wie viele Geschichten hier ihren Ursprung nehmen mögen, und habe den Mann, von dem sie handeln, noch gar nicht getroffen.
»Lord Isak, Erwählter des Nartis, Erbe Lord Bahls und Lordprotektor von Anvee«, rief der Lordprotektor mit klarer Stimme. »Ich heiße Euch im Namen von Emin Thonal, König von Narkang und den Drei Städten, in seinem Reich willkommen.«
Isak sah aus dem Fenster auf die Tischreihen, die im Hof unter ihm aufgestellt waren. Der alte Lordprotektor hatte ihnen sein eigenes Haus überlassen – das beste der Stadt, soweit Isak es sehen konnte. Hinter ihm befand sich ein Bad, grau und erkaltend, während er die Vorbereitungen des Festes heimlich beobachtete. Die Diener eilten umher und glitten um die Stadtbeamten herum, die in ihrem Versuch, ihnen Befehle zu erteilen, nur noch mehr Unordnung zu schaffen schienen. Ein Stufenpodest war am hinteren Ende des Hofes aufgebaut worden, mit einem Seil von den einfachen Bänken abgetrennt, auf denen sich die Stadtbevölkerung versammeln und auf das Wohl jedes Fremden trinken würde, dessen Ankunft Freibier bedeutete.
Das Podest war mit weißem Leinen bedeckt und mit Blumen verziert worden. Es gab genug Platz für mindestens achtzig Personen. Isak seufzte beim Gedanken an all diese herausgeputzten Adligen und Beamten, die dort sitzen und eine affektierte Freude über seine Anwesenheit zeigen würden. Aber er wusste, dass er es nicht ändern konnte. Bahl wollte, dass er sich mit dem Hofleben anfreundete. Vielleicht wollte er die Kluft zwischen dem Lord der Farlan und seinen Adligen verringern. Vielleicht wollte er es auch einfach nur nicht selbst machen.
Isak genoss den Ausblick, während er sich abtrocknete, dann ließ er das Handtuch fallen und fuhr sich mit den Händen über den Kopf. Es war seltsam, das Haar wieder zu spüren. Tila hatte ihm geraten, sich nicht länger den Kopf zu scheren, da er ohnehin schon einschüchternd genug wirke, auch wenn er die kantige Form seines Schädels nicht noch betonte. Er wandte sich wieder dem Raum zu und betrachtete Siulents, die auf einem Rüstungsgestell ruhte. Dann trat einen Schritt vor und sah sich im Spiegel.
Er vergaß die Rüstung, stand vor dem bodenlangen Spiegel und drehte ihn so, dass er seine nackte Gestalt sehen konnte. Seine Spiegelung hatte Isak schon immer fasziniert: Das Bild, das sich der Welt zeigte, war so ganz anders als seine eigene Sicht auf sich selbst. Der Fremde im Spiegel starrte mit ebensolcher Neugier zurück und suchte das schlanke Kind, als das sich Isak noch immer fühlte. Seine zunehmende Größe und Masse wirkten nicht richtig auf ihn. Er wollte nicht so unglaublich stark aussehen, wie es augenscheinlich der Fall war. Er seufzte. Er mochte jedoch die Kraft seiner Glieder. Das würde ihm Ausgleich genug sein müssen.
Ein Klopfen an der Tür ließ Isak zusammenzucken und sein Blick ruckte sofort zu Eolis hinüber, das an einer Ecke des Himmelbetts hing.
»Mein Lord?« Mihns Stimme erklang hinter der Tür.
Isak nahm sich die frische Unterwäsche, die Tila auf sein Bett gelegt hatte, zog sie an und rief seinen Gefolgsmann dann herein.
Jetzt, da er Mihns Vergangenheit kannte, fühlte sich Isak in der Nähe des gescheiterten Harlekins erstaunlich sicher. Er hielt alle neugierigen Blicke von der Narbe auf seiner Brust fern – das Zeichen von Xeliaths Zuneigung, wie er scherzend bei sich dachte –, bis auf Mihns eigenen Blick, der sie gesehen und nichts gesagt hatte. Bahl betrachtete sie als Isaks eigenes Problem, und Mihn würde gewiss schweigen, bis Isak bereit war, darüber zu sprechen. Isak war nicht sicher, ob er andere so weit einweihen sollte – Carel, Vesna, Tila. Sie hatten noch immer die Chance auf ein anderes Leben.
Vesna verfiel Tila mit jedem Tag mehr. Sie dabei zu sehen, wie sie miteinander scherzten oder sich liebevoll anlächelten, bewirkte, dass sich Isak schuldig fühlte. Er wusste, dass er seinem Gefolgsmann in den kommenden Jahren möglicherweise viel abverlangen musste. Wäre er in der Lage, mit Tilas stummer Verachtung zu leben, wenn er den Vater ihrer Kinder zu einem Mord – oder Schlimmerem – ausschicken würde?
Ein anderes Schuldgefühl erfüllte ihn nun bei der Frage, wie er Mihn benutzen und ausnutzen müsste. Aber er wusste, dass es nötig war, und Mihn hatte ja sonst nichts. Der Fremde hatte etwas mit Xeliath gemein: Es war ein weiteres zerstörtes Leben, das Isak als Bürde trug, eine weitere verletzte Seele, die er als Waffe nutzen müsste, wenn die Zeit dafür gekommen war.
Bei diesem Gedanken verharrte Isak. Selbst er glaubte mittlerweile, dass er einen Lebenszweck hatte … In den dunkelsten Stunden der Nacht lag er allein da und sorgte sich wegen der Gedanken, die man sich machte: dass er einen Grund zum Kämpfen hatte, Zerstörung bringen würde, dass sich jede Prophezeiung selbst erfüllte… Würde er mit dem fertig werden, was von ihm verlangt würde?
Mihn betrat den Raum, warf einen Blick auf Isak und schlug die Tür hinter sich zu. Isaks Blick ruckte überrascht herum. »Der Mann Doranei ist hier, um mit Euch zu sprechen. Er wird warten.«
Isak zog ein Leinenhemd an sowie eine cremefarbene Hose, wie sie auch seine Wachen trugen. »Schick ihn herein«, befahl er. Isak hob die hohen Reiterstiefel auf, die am Fußende seines Bettes lagen, setzte sich und fing an, seine Füße hineinzuarbeiten. Doranei schlenderte durch die Tür und an Mihn vorbei, suchte im Raum nach dem, was man ihm vorenthalten wollte, bis sein Blick schließlich auf dem Krann zur Ruhe kam. Mihn schnitt ihm den Weg ab und zwang den Mann des Königs so, stehen zu bleiben. Dann kniete er sich vor Isak hin, um ihm mit den Stiefeln zu helfen.
Isak wies auf einen Stuhl und Doranei zog ihn heran, stellte ihn vorsichtig neben Mihn und setzte sich darauf.
Isak überließ die Stiefel Mihn und musterte den Gast. »Das ist eine interessante Tätowierung auf Eurem Ohr.«
Doranei versteifte sich leicht und drehte den Kopf etwas weg. Isak konnte die Form nicht gut erkennen, aber er wollte auch nicht den Eindruck erwecken, zu sehr daran interessiert zu sein. Er hätte ganz Anvee darauf verwettet, dass er ein Gegenstück dazu bieten könnte.
»Nur ein Produkt meiner wilden Jugend, Euer Lordschaft. Ich hoffe, dass bisher alles zu Eurer Zufriedenheit war?«
»Ja, aber ich denke nicht, dass Ihr hier seid, um zu sehen, ob ich über genug Decken verfüge. Würdet Ihr mir also bitte verraten, was ein Mitglied der Bruderschaft hier zu schaffen hat?«
Doranei verzog keine Miene. »Ich wünsche, oder genauer gesagt, der König wünscht sicherzugehen, dass Eure Reise nach Narkang so reibungslos wie möglich verläuft.« Doraneis Farlan war fließend, fast ohne Akzent. Lesarl hatte ihm berichtet, dass Farlan schnell zur zweiten Sprache des Landes aufstieg. Die meisten Händler im Nordwesten sprachen Farlan und die eifrigen Händler Narkangs waren auf ihre Sprachtalente noch stolzer. Es zeigte, wie weltoffen Narkang war.
»Dabei hat man mir doch gesagt, das Recht würde in diesen Gebieten besonders geehrt werden. Oder erwartet der König bestimmte Schwierigkeiten?«, fragte Isak.
»Natürlich nicht, mein Lord. Doch ich trage das Zeichen des Königs und habe damit das Recht, Vorräte oder Unterkunft für Eure Gruppe in seinem Namen einzufordern. Manch einer könnte auch sagen, dass unsere Gesetze lockerer sind als die der Farlan. Es gibt diverse, machnmal miteinander streitende Parteien, die dieses Land ihr Zuhause nennen.« Er machte eine Pause. »Die Ritter der Tempel beispielsweise.«
»Nun, dann vertraue ich darauf, dass die Reise ohne Unannehmlichkeiten verläuft«, grollte Isak.
»Ich bin sicher, dies wird der Fall sein. Der Ritter-Kardinal lässt über den König die Bitte um ein informelles Treffen ausrichten, aber als solches kann es ohne große Beleidigung abgelehnt werden. Meine offensichtliche Anwesenheit wird zumindest teilweise dafür sorgen, dass die Leute, die Ihr trefft, nicht vorgeben können, jemand anders zu sein, ohne dass Ihr es wisst.«
»Sind die Spione des Königs so gut?«
»Sie sind mehr als kompetent. Unsere Feinde können nicht sicher sein, was wir wissen … das allein schränkt sie schon ein.«
Isak stand auf und nahm die drachenverzierte Tunika von Mihn entgegen. Als er sie sich überwarf und die Schnallen schloss, behielt er den Mann des Königs im Auge.
»Ihr habt einen ungewöhnlichen Diener, mein Lord.«
Über Mihns Gesicht huschte kurz ein unbehaglicher Ausdruck.
»Ist das so?«
»Und Graf Vesna reitete ebenfalls mit Euch. Ich bin sicher, er wird bei den Ehemännern der Stadt ebenso beliebt sein wie die junge Dame bei den Frauen.«
Isak antwortete nicht, sondern legte seinen langen weißen Mantel um die Schultern und schloss die Drachenfibel. Der Abend würde noch lang genug werden, auch ohne dass er sich jetzt auf ein Wortgefecht einließ. Er wandte sich dem Spiegel zu, um zu sehen, wie ihn das Land nun wahrnehmen würde. Seine kräftigen Muskeln und die kompakte Gestalt konnte man nicht verbergen, aber das Spiegelbild sah so zivilisiert aus, wie es bei Isak nur möglich war. Er lächelte.
Abgesehen von der Anpassung der Kleidung damals im Palast von Tirah, trug er sein Wappen nun zum ersten Mal so. Er verbrachte eine Minute schweigend damit, jede Linie des Drachenbildes zu verfolgen, die goldenen Kurven seiner Klauen und die wilde, stolze Haltung.
»Berichtet mir über Morghien. Man sagt, es stecke mehr hinter ihm, als das Auge sieht?«
Doranei kicherte und kratzte sich lächelnd im frisch rasierten Gesicht. »Wenn ich Euch von Morghien berichten soll, würde ich mit genau dieser Aussage beginnen. Bedauerlicherweise würde ich allerdings auch schon damit enden enden. Hat der Seher Euch von ihm erzählt?«
»Nein, er hat mich auf dem Weg erwartet.« Isak betrachtete Doranei im Spiegel, aber er sah nur eine leichte Überraschung im Gesicht des Mannes.
»Ich habe lediglich ein wenig über Morghien – und Euch – vom Seher erfahren, aber ich vermute, dass es nicht reichen wird. Ich fand es interessant, dass mir Morghien einen Brief für den König gab.«
»Habt Ihr ihn gelesen?«
»Ich kann kaum glauben, dass dies nicht die Absicht gewesen sein soll. Dort ist er, in der Tasche bei Siulents.«
Isak wies daraufhin und Mihn holte die Rolle. Doranei öffnete sie und las die ersten paar Zeilen. »Veleres Fall«, murmelte er vor sich hin.
»Vor einem Jahr hätte ich dies für eine Gespenstergeschichte gehalten, aber seit ich von der Malich-Affäre und dem Azaer-Kult erfahren habe …« Der kampferprobte Soldat zuckte bei seinen Worten zusammen – und er wusste, dass er einen Treffer gelandet hatte.
»Bitte, mein Lord, dies ist nicht die richtige Zeit. Und ich bin nicht der Mann, mit dem Ihr darüber sprechen solltet …« Er ließ die Worte verklingen, als Isak eine Hand hob.
In seinen Augen lag Wut. »Lasst mich raten. Ich sollte mit dem König sprechen. Das habe ich schon öfter gehört, und allmählich wird es langweilig.« Das Weißauge trat vor, aber Doranei schaffte es, vor der hoch aufragenden Gestalt nicht zurückzuweichen.
»Dann kann ich nur um Verzeihung bitten. Ich bin ein Diener des Königs und weiß nur, was ich wissen muss, um meine jeweilige Aufgabe zu erfüllen. Wie Ihr sicher erkennt ist König Emin ein Mann, der viel für sich behält. Aber aus diesem Brief und meiner Anwesenheit kann ich nur schließen, dass er vorhat, Euch Antworten zu geben. Ich verstehe zwar Eure Verärgerung, aber bitte, übt Euch in Geduld und genießt unsere Gastfreundschaft, bis wir Narkang erreichen.«
Isak verzog das Gesicht, sagte aber nichts mehr. Er nahm Eolis in der Scheide vom Bettpfosten und band sich den Schwertgurt um. Mit einer Hand auf dem Smaragdgriff sah er Doranei an und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Nun dann, so zeigt mir nun die Gastfreundschaft.«