12

Ein Licht umspielte seinen Körper, glitt die Rundungen und Linien seiner gestählten Gestalt entlang, beleuchtete längst verblasste Narben und Zeichen von Verletzungen, an die er sich nicht mehr erinnerte. Er bewegte sich mit träumerischer Schwere auf ein leises Lied zu. Die Rüstung war verschwunden, vom Fleisch gerissen, aber Eolis blieb ihm, durch ein Band gehalten, das stärker als der bloße Besitz war. Obwohl es unglaublich schwer war und vom Alter überkrustet, wirkte es doch zerbrechlich und verletzlich. Trotzdem fühlte er sich gestärkt.
Das Plappern und die Stimmen, die seinen Geist bestürmten, klangen gedämpft und schwach. Sein Panzer aus Fleisch und Erinnerungen war gegen ihre Berührung unempfindlich. Trotzdem nagten sie daran, hungerten nach Aufmerksamkeit oder Gedanken, die sie nähren würden. Er hörte jedoch nur auf ein unverständliches Flüstern, eine Frauenstimme, die rief, weil sie im schrecklichen Dunkel der Nacht nach ihm suchte. Er erkannte die Stimme zwar nicht, konnte die Worte auch nicht begreifen, aber doch kannte er die Stimme aus seinem Innern.
Er spürte, wie sich die Erde um ihn schloss, als fiele er in ein Grab, aber er verletzte sich nicht. Er erhob sich als Schatten, von den Gestalten, die in ihr eigenes Leben vertieft waren und unbemerkt an ihm vorbeigingen. Dank Eolis in seiner Hand war er von Ruhe erfüllt. Er ignorierte geduldig die Leere des Todes. Obwohl sie zermalmt und gezeichnet waren, steckte doch noch Entschlossenheit in seinen Knochen, und so ließ er sich von ihnen an den Rand eines ruhigen Sees tragen, an dem eine Gestalt stand, die noch ruhiger war. Der Wind, der vom Wasser her wehte, brachte Stimmen und den Geschmack von Salz und kaltem Blut mit sich. Der Himmel schimmerte silbern und der Geruch von Heidekraut und nassem Stein lag in der Luft. Er lächelte, während sein Blut in der Erde zu seinen Füßen versickerte.
»Mein Lord?«
General Lahks Stimme riss Isak aus seinem Dämmerschlaf. Er öffnete erschrocken die Augen, als ihn die Nachwehen seines Traumes kurz vergessen ließen, wo er sich befand.
»Ihr seid schon wieder im Sattel eingeschlafen, mein Lord.« Obwohl diese Worte einen Tadel enthielten, fehlte dem Tonfall doch jedes Gefühl.
»Und?«
»Nun, ein Sturz vom Pferd wäre kaum ein glorreicher Tod, den ich Lord Bahl berichten müsste. Wenn es plötzlich losliefe …«
»Es wird aber nicht plötzlich loslaufen.« Isak klopfte dem riesigen Ross unter sich den Hals. »Ich weiß sehr sicher, dass dies das beste Streitross im ganzen Land ist, und ich werde nicht herunterfallen.«
Er rieb sich die Augen und versuchte wacher zu werden. Sie waren an diesem Morgen bereits seit einigen Stunden geritten, aber den Schlaf konnte er dennoch nicht abschütteln. Isak hatte sich unter seiner blauen Maske und der aufgesetzten Fellkapuze eine Insel der Wärme geschaffen, obwohl die Temperatur mit jedem Tag weiter fiel. Die Nächte auf der Straße waren alles andere als friedfertig, denn die strahlende Wärme der Geschenke, die Isak stets bei sich behielt, zog in der Nacht einsame Stimmen an. Im Augenblick blieb ihm ein erholsamer Schlaf verwehrt.
Er zog die Kapuze herunter, um sich vom kühlen Wind aufwecken zu lassen. Wenn er müde war, war er immer besonders reizbar, und die monotone Stimme des Generals brachte das Schlechteste in ihm zum Vorschein. Isak seufzte, kratzte die Stoppeln auf seinem Kopf und blickte dann erst zu dem Mann hinüber, der aufrecht und stolz im Sattel saß, das Gesicht so ausdruckslos wie immer. Bisher hatte ihn Isak noch nie Gefühle zeigen sehen – es blieb abzuwarten, wie er sich im Kampf verhielt. Für ein Weißauge war es ungewöhnlich, so durchs Leben zu gehen. Unvorstellbar, so auch auf dem Schlachtfeld zu sein.
»Also, gibt es einen Grund dafür, dass Ihr mich wecktet, oder seid ihr nur um meine Gesundheit besorgt?«, fragte Isak schlecht gelaunt.
»Ich dachte, Ihr wollt bei der Ankunft in der nächsten Stadt vielleicht wach sein. Für den Krann ziemt es sich nicht zu schlafen, wenn seine Untertanen herauskommen, um ihm zuzujubeln. Außerdem habe ich Nachricht von Euren Rittern aus Anvee.«
»Was ist mit ihnen? Habe ich sie beleidigt, indem ich ihnen nicht befahl, mich zu begleiten?« In seinem alten Leben hatte er schon bemerkt, dass die Leute wegen der meisten Dinge beleidigt sein konnten, aber seit er einen höfischen Rang besaß, war die Bandbreite der Möglichkeiten offenbar noch gestiegen, und die Sachen, die er nicht tat, verursachten genauso viele Probleme wie die Dinge, die er tat.
»Sie sind Eure Untertanen. Ihr könnt Sie beleidigen, wenn das Euer Wille ist.«
»Genug getadelt, General. Ich bin zu müde.«
»Ich besitze nicht den nötigen Rang, um Euch zu tadeln …«
»Seid einfach still und berichtet, was sie sagten.«
»Sie lassen anfragen, ob sie bei Euch vorstellig werden dürfen.«
Isak drehte sich im Sattel und verschob Eolis auf seinem Rücken, um es sich bequemer zu machen, während er auf weitere Erklärungen wartete.
»Es sind fünhundert – eine beeindruckende Zahl für Anvee, was ohne Zweifel Absicht sein dürfte. Das Problem ist nur, dass ein gewisser Teil der Ritter und die meisten Teile der Kavallerie eure Leibeigenen sind.« Er wartete auf eine Antwort, aber es kam keine.
Isak saß mit unverständiger Miene da. Als Kind aus dem Wagenzug hatte er nie Grund gehabt, die Gesetze von Männern zu studieren, die ans Land gebunden waren. Sein Vater hatte dieses Gesetz einen Kragen genannt, der Männer in Sklaven verwandelte. Carel hatte darüber gelacht und es nicht für nötig befunden, darüber zu streiten, aber sein Kichern zeigte, dass Hormans Ansicht so närrisch war, dass sie nicht einmal eine Antwort wert schien.
Der General sprach weiter. »Lord Isak, Anvee war lange ohne Lordprotektor. Es war darum günstiger, einen Treueschwur auf den Titel des Lordprotektors von Anvee selbst abzulegen, denn die Vorteile eines solchen Bundes wurden von weniger Pflichten begleitet, als es üblich ist. Darum sind sie nun etwas verärgert, dass ein Lordprotektor ernannt wurde – sie sind Euch verpflichtet und versuchen sich an die Buchstaben des Gesetzes zu halten, bis sie Euer Gemüt einschätzen können.«
»Und?«
Er seufzte. Einen Augenblick lang dachte Isak, er wäre verärgert, aber die Antwort kam so geduldig und ruhig wie zuvor. »Und das Gesetz sieht vor, dass ein Leibeigener die Erlaubnis seines Lehnsherren einholen muss, bevor er die Ländereien verlassen darf. Genau genommen entspricht das der Fahnenflucht. Man könnte sie dafür hängen.«
Isaks Gesichtsausdruck wandelte sich von verwirrt zu ungläubig.
»Und sie fürchten wirklich, dass ich das tun könnte? Meine eigenen Soldaten hinrichten? Und ausgerechnet vor einem Kampf?«
»Sie hielten es für angemessen, dass ich erst mit Euch sprach. Ihr seid ein Weißauge.«
Die Worte des Generals legten sich wie schwere Steine in seinen Magen. Es spielte keine Rolle, dass eine solche Entscheidung Irrsinn wäre. Sie fürchteten das Monster in ihm. Sogar General Lahk hatte die Möglichkeit nicht verworfen, dass Isak so reagieren könnte – es war, als sei Atro noch am Leben und jedes böse Gerücht über ihn wahr.
Isak war zu angewidert, um zu antworten. Er winkte in Richtung des Generals und bedeutete ihm so, dass er weitermachen solle. Dann aber lenkte er das Pferd beiseite, denn er wollte allein sein. General Lahk spornte sein eigenes Tier zum Trott an und verschwand hinter den Bannern der Leibwache des Lordprotektors Tebran.
Wie kann er so leben? Sie müssen das Gleiche über ihn denken, vielleicht sogar Schlimmeres. Schert er sich denn um gar nichts? Würde er keinen Befehl von Bahl verweigern, egal wie schamlos der auch wäre? Würde er es überhaupt bemerken? Vielleicht stimmte, was man sich erzählte? Dass Nartis seine Seele ausgebrannt hatte.
Der Haushofmeister hatte Isak von den seltsamen Umständen der Geburt des Generals berichtet und wie Bahl ihn in den Tempel des Nartis gebracht hatte, um ihn prüfen zu lassen. Lahk war viel stärker als andere Weißaugen, aber Nartis hatte ihn abgelehnt und seinen Leib mit Blitzen gezeichnet, statt ihn in den Rang eines Erwählten zu erheben. Ihm blieben nur zwei Möglichkeiten: Nartis abzulehnen und zu gehen, oder ein vollendeter Diener des Gottes zu werden. Er hatte den schweren Weg gewählt und jene Teile seiner Seele abgelegt, die Trauer über seine Ablehnung empfanden. Isak bewunderte ihn dafür beinahe, auch wenn ihm der Gedanke daran große Angst machte.
Einige Schneeflocken wirbelten um Isak herum, als er durch die Banner starrte, um zu sehen, wohin der General ging. Doch der unbeschäftigte Blick wurde bald von den Flaggen und Farben selbst abgelenkt. Die Tracht der Palastgarde war in tristem Schwarz und Weiß gehalten – ohne Zweifel um Bahls unnachgiebigen Geist zu symbolisieren. Aber es passte besser zu Lahk, vor allem nachdem der Schmutz und die Strapazen einiger Wochen alles gedämpft erscheinen ließen. Während sie durch die Ländereien gereist waren, um Truppen zu sammeln, von Tebran über Nelbove nach Danva, dann an der Grenze von Ahmah und Vere entlang, hatten sich ihrer Truppe langsam Farbkleckse hinzugesellt. Die Chetse nannten die Farlan-Kavallerie »stählerne Pfauen« – protzig und überheblich, aber auch Furcht einflößend, ganz gleich wie viel Seide und Spitze sie trugen.
Ingesamt acht Lordprotektoren reisten jetzt mit der Armee, einschließlich des Kranns selbst, und elf Grafen, ungefähr fünfzig Marschälle und grob sechshundert Ritter. Die Hunderten von Bannern und Wimpeln, Abzeichen und Tuniken lieferten sich vor dem matten Untergrund des winterlichen Waldes eine Farbenschlacht.
Jeder einzelne Adlige war beim Krann vorstellig geworden – und man hatte seinen Titel verkündet, aber nur an die Lordprotektoren erinnerte sich Isak. Der Rest war ein Schleier aus Prunk und Zeremoniell.
Der alte Haudegen Fordan hatte die Ehre, und zwar noch vor ranghöheren Lordprotektoren, die Vorhut führen zu dürfen – eine Entscheidung, die Sir Cerse, den Hauptmann der Palastwache, hatte zusammenzucken lassen. Aber Fordan hatte sich als angenehme Gesellschaft und vernünftiger Ratgeber erwiesen. Isak war sich bei Sir Cerse weniger sicher, einem jungen und ehrgeizigen Ritter aus Torl, der vor allem dadurch aufgefallen war, dass er kurz nach seinem Beitritt zu den Geistern schon die Adlerklinge eines Schwertmeisters bekommen hatte.
Das Banner Fordans, mit einem roten Bergfried darauf, war zu weit entfernt, um es zu erkennen, ebenso wie die Hunde in Gold und Grün des reichen Lordprotektors Nelbove und der grüne Greif des verhassten Lordprotektor Selsetin. Etwas an diesem Mann brachte Isaks Nackenhaare dazu, sich zu sträuben, schon bevor Fordan etwas davon murmelte, dass Nelbove und Selsetin in den Malich-Skandal verwickelt wären. Ohne genau zu wissen, was das bedeutete, erkannte Isak doch, dass sie ihm deswegen nicht eben wohlgesonnen waren. Die anderen Adligen nickten bei Fordans Worten wissend. Der Skandal war offensichtlich allgemein bekannt.
Der goldene Falke im Sturzflug des vor Kurzem erst aufgestiegenen Lordprotektors Danva flatterte vor ihm. Sein Bruder war erst seit zwei Wochen tot und man wettete bereits auf die Lebensdauer seines Neffen im Säuglingsalter, der den Titel bekäme, wenn er das Erwachsenenalter erreichte. Die herausragende Stimme des Lordprotektors war über den Wind hinweg gut zu hören, und Isak konnte auch eine eindringliche Diskussion zwischen den Lordprotektoren Amah und Ked verstehen. Der weiße Hirsch von Amah schien sich gegen den gelben Löwen gut zu halten, auch wenn er ihm beinahe zwanzig Sommer unterlegen war.
Der letzte anwesende Lordprotektor war zudem der ranghöchste, stammte er doch aus einer der ältesten Familien und einer der reichsten Provinzen. Doch zu Isaks Überraschung hatte sich ihm der mürrische, übermäßig untertänige Lordprotektor Torl nur kurz vorgestellt und war dann mit den Spähern ausgeritten. Sein Symbol, eine Eiskobra, wirkte so ungewöhnlich und seltsam wie der verschwiegene Lordprotektor selbst. Ebenso einmalig war es, dass er einfaches Leder trug, auf dessen Brust das Abzeichen seiner Familie eingenäht war, nach Art der eingeschworenen Soldaten, statt der Rüstung eines Ritters, wie man es erwartet hätte. Sein Plattenpanzer war gut verstaut, ebenso wie die Panzer der Rittereinheit, die als seine Leibwache dienten.
Zuerst hatte Isak den Mann für einen Feigling gehalten, der sich als einfacher Kavallerist kleidete, um sich nicht wie die anderen Edelmänner als Ziel anzubieten. Als er aber mehr über ihn herausgefunden hatte, war er sehr froh, dass er seine Zunge dieses eine Mal im Zaum gehalten hatte. General Lahk, der nicht gerade die Angewohntheit hatte, übermäßiges Lob zu äußern, sagte Isak, dass Lordprotektor Torl im Kampf stets an der Seite der Weißaugen der Garde zu finden sei.
Eine schwere, niedrig hängende Wolke verbarg Tsatachs Auge und ein trockener Wind fegte an den gerüsteten Rittern und Leder tragenden Truppen vorbei zu den Packtieren hin, die hinter ihnen liefen. Ein erster Wirbel von Schneeflocken drohte Schlimmeres an. Wenn das Eis auf der Straße für die Reiter zu gefährlich wurde, würden die Packtiere vorgehen müssen, um den rutschigen Boden aufzurauen.
Isaks scharfes Auge sah rote Eichhörnchen, die das Heer aus sicherer Entfernung mit zitternden buschigen Schwänzen beobachteten, während sie auf der Suche nach Insekten auf die Rinde klopften. Es war beruhigend, dass das Leben um sie herum weiterging, vom Marsch der Armee nach Osten nicht berührt wurde und auch nicht daran interessiert war.
Die Leute in den Städten, durch die sie gekommen waren, waren verstört gewesen und hatten den Soldaten nur zögernd zugejubelt. Die Furcht vor den Elfen hatte sie fest im Griff. Schon bevor sie Danvas Grenzen überschritten hatten, hatten sie bereits echte Angst gesehen.
Isak auf seinem riesigen weißen Streitross zu sehen, lautlos bis auf das leise Klirren der Panzerung und der silbernen Ketten, Ringe und Schellen, die das Tier schmückten, schien den Leuten Mut zu geben – vielleicht war das ja bereits genug. Ihr Vertrauen in ihn schien wichtiger als sein eigenes. Wenn seine Soldaten mutig genug waren, würde seine eigene Angst unbemerkt bleiben.
General Lahk kam nach kurzer Zeit wieder. Neben ihm trabte ein schwarz gekleideter Ritter, der die Brustplatte über seiner Gardeuniform trug, wie es Tradition war. Augenscheinlich war er wohlhabend, denn man hatte ein goldenes Muster in das tiefe Schwarz seiner Rüstung eingelassen. Es wand sich um einen Löwenkopf, der groß und stolz in der Mitte der Brustplatte prangte.
Obwohl Isak so müde war, flackerte kurz ein Erinnern in ihm auf. Er blinzelte einen Schleier weg und sah erneut hin. Diesmal erkannte er ihn. Der brüllende Löwe als Wappen und die extravagante schwarze Rüstung waren eine seltene Kombination, und Isak wusste, dass am Sattel des Mannes ein goldener Helm in der Gestalt eines Löwenkopfes hängen würde.
Als die Reiter näher kamen, konnte Isak zwei goldene Ohrringe erkennen, das Zeichen eines Grafen. Wenn seine Haut nicht so schnell heilen würde, trüge Isak selbst drei solcher Ringe als Zeichen eines Lordprotektors. Dies war nicht irgendein Adliger, sondern der berühmte Graf Vesna.
Vesnas Ruf eilte ihm voraus. Jedes Kind, gleichgültig ob adlig oder im Wagenzug geboren, hatte die Geschichten seiner romantischen Eroberungen gehört. Davon, wie er einer ganzen Armee von Adligen Hörner aufgesetzt hatte, von den Duellen und den Verfolgungen über die Dächer … Carel hatte immer gesagt, Vesna sei einer der besten Soldaten des Stammes, aber das Können sei aus der Not geboren. Es hieß, Vesna habe diversen Adelshäusern Nachkommen geschenkt, die nur deswegen anerkannt wurden, weil die meisten es nicht wagten, einen der geübtesten Duellisten des Landes herauszufordern. Vesna hatte zweiundzwanzig Duelle ausgefochten – und alle gewonnen. Einige wenige hatten mehrfach versucht, ihn zu töten, oder wollten ihn meucheln lassen, aber Vesna hatte eine Elfenklinge geerbt, wenn auch eine niedere, und hatte seine gesamten Ländereien beliehen, um der Akademie für Magie diese Rüstung abzukaufen.
Ein einzelner Rubin schimmerte im Auge des brüllenden Löwen und glitzerte im spärlichen Tageslicht auf. Das schwarze Haar war zurück- und aus dem Gesicht gebunden, wodurch sich gut aussehende Züge offenbarten, von Freud und Leid gleichermaßen geformt. Obwohl er unbestreitbar hübsch war, mit Lachfalten um die Augen, besaß er einen entschlossenen Zug und in seinem wissenden Gesicht lag Stärke.
»Graf Vesna«, rief Isak, als der Mann abstieg und näher trat. Der Herold, der Isak auf Schritt und Tritt begleitete, öffnete den Mund und schloss ihn dann mit einem beleidigten Gesichtsausdruck wieder.
»Lord Isak.« Vesnas Stimme war wie sein Gesicht: Die Gaben eines Soldaten schienen mit einem großen Witz verbunden. Als er sich zu Isaks Füßen niederkniete und verbeugte, konnte Isak blaue Tätowierungen an den Seiten seines Halses sehen. Er trug die gezeichnete Haut eines Mannes, der auf dem Feld für seine Tapferkeit geehrt worden war. Den Titel hatte er geerbt, aber dies hatte Vesna sich selbst erarbeitet.
»Man sagte mir, Anvee brächte Kohl und Ziegen hervor, keine Helden.« Eine Gruppe Geister stellte sich hinter Isaks still dastehendem Pferd auf. Die Köpfe der restlichen Soldaten der vorbeiziehenden Armee wandten sich den beiden Männern zu. Sergeanten beschimpften ihre Soldaten, als sich die ordentlichen Reihen verzogen.
»Ihr ehrt mich, mein Lord.« Isak lachte beinahe auf, als er Graf Vesnas sorgfältig gesetzte Worte hörte. Wie oft kniet schon der Held aus Kindheitstagen vor einem? »Ich kann nur hoffen, dass ich mich dessen als würdig erweise, indem ich an Eurer Seite kämpfe.«
»Genug. Das Erste, was Ihr meinen Gefolgsleuten sagen könnt, ist, dass die einzigen Leute, die ich zu meinen Füßen sehen will, jene sind, die ich selbst dorthin geschickt habe. Und ich danke Euch für den Respekt, den Ihr mir erwiesen habt. Ich bin sicher, dass sich die Männer aus Anvee auf dem Feld beweisen werden.«
Der Graf erhob sich erleichtert und ein Lächeln funkelte in seinen Augen. Isak sah es und war beinahe zu sehr erfreut darüber, dass der Mann so ungezwungen mit ihm umging. Er wies auf das Pferd des Grafen. »Kommt, wir halten die Armee auf. Wir können im Sattel reden.«
Vesna verbeugte sich kurz, sofort wieder voller Selbstsicherheit, nun, da er Isaks Gemüt einschätzen konnte. Dann ergriff der den Sattelknauf und zog sich mit geübter Eleganz hinauf. Eine kurze Berührung mit der Hacke führte sein Pferd herum und auf den rechten Weg.
»Darf ich fragen, was mein Lord über den Feind gehört hat?«
Isak nickte dem General zu, als er sein massiges Streitross neben das schwarz belegte Jagdpferd des Grafen führte. Das Pferd wirkte ruhig und friedlich – es war nicht unbedingt das Reittier, das Isak bei einem berühmten Tunichtgut erwartet hätte. Er nahm es als gutes Zeichen dafür, dass hinter den Geschichten und dem Ruf ein scharfer Verstand steckte. Ein feuriger Hengst, der dahingaloppierte, wäre sicher eindrucksvoller, aber dieser ruhigen Mähre konnte man im Chaos des Kampfes leichter trauen.
Er wandte die Aufmerksamkeit vom Pferd wieder auf den Reiter. »Für die Hellsicht der Magier sind wir noch zu weit entfernt, aber wir wissen genug.« Er gab dem General ein Zeichen, der Graf Vesna gerne berichtete, was sie wussten. Isak lehnte sich zurück und ließ die Worte an sich vorbeiziehen. General Lahk würde die Strategie festlegen, wenn es so weit war, und Bahl und Lesarl waren sich einig gewesen, dass Isak abwesend erscheinen sollte, statt Fragen stellen zu wollen, denn er würde sich Lahk ohnehin unterordnen müssen.
»Der Feind hat sich in drei Lager aufgeteilt, die alle nördlich von Lomin liegen«, sagte der General. »Eines belagert die Tore der Stadt, das zweite liegt weiter westlich und das dritte befindet sich auf halber Strecke zwischen Gipfeltor und Lomin. Vitil und Kohm sind niedergebrannt worden.«
Es war nun immer der Feind, wenn die Soldaten sprachen, nicht die Elfen. Der Feind war ein gesichtsloses Wesen, eines, das man zerstören musste. Es brauchte keinen Namen.
»Und die Leute dort?«
»Wir verloren dreihundert Infanteristen bei Vitil, aber ihr Tod hat den anderen Zeit für die Flucht erkauft. Die Kavallerie bei Lomin ist wohl aufgerieben …«
»Was? Alle?« Unter Vesnas Ruhe zeigten sich Wut und Unglaube.
»Das vermuten wir. Die stehende Wache von dreitausend Mann rückte zum jährlichen Aufmarsch aus. Sie kehrten nicht zurück.«
»Ich dachte, man wollte damit aufhören.«
»Das wollte man ja auch, aber da der Tag mit dem letzten Tag der Jagdsaison zusammenfiel, beschloss der Erbe von Lomin, dass es im letzten Jahr etwas Besonderes sein sollte.«
»Schicksal hat wirklich Sinn für Humor.« Vesna sprach mit müder, eintöniger Stimme, die ihn plötzlich wie den General klingen ließ. Es war die Stimme eines alten Soldaten, der das alles schon einmal erlebt hatte.
Für eine Meile ritten sie in verbitterter Stille. Isak blieb sehr ruhig, wie ein Kind, das nicht gesehen werden wollte. Der Graf starrte ins Nichts und seine Lippen bewegten sich beinahe unmerklich. Isak konnte die Bewegung aus dem Augenwinkel gerade so wahrnehmen, wusste aber nicht, was sie bedeutete. War sein neuer Lehnsmann eine Art religiöser Fanatiker? War da denn noch mehr an ihm, als man sah? Und wenn ja, konnte er überhaupt noch irgendjemandem trauen? Als er das dachte, tadelte Isak sich selbst, so wie es Carel getan hätte.
Götter, Lesarl hat dich mit seinem Verfolgungswahn angesteckt. Vesna betet nur. Der Mann ist ein Soldat, der um Tote trauert, weil ihn das gleiche Los treffen kann.
»Ich habe Gerüchte über Trolle gehört. Sind sie wahr?«
Isak zuckte zusammen, als Vesna wieder sprach. Vielleicht lag es nur am Verlust so vieler Männer, doch der Graf klang nervös. Möglicherweise hatte er aber auch bereits einmal gegen Trolle gekämpft.
»Sie sind wahr«, bestätigte General Lahk. »Wir sollten herausfinden können wie viele, sobald wir die Hellsicht einzusetzen vermögen, aber wir müssen das Schlimmste annehmen und etwa einhundert erwarten.«
»Und unsere schwere Reiterei?«
Der Ruf von Trollen flößte solche Furcht ein, dass nur die schwere Kavallerie es wagen konnte, sie anzugreifen. Das war der Preis der Ritter- oder Adelswürde: In Zeiten wie diesen mussten sie sich den schlimmsten Feinden der Farlan stellen. Es hieß, Trolle spürten keinen Schmerz, nicht einmal bei einer tödlichen Wunde. Am wirksamsten bekämpfte man sie vom Sattel aus mit langen Lanzen. Fußsoldaten kämen kaum an den Kopf heran und könnten ihn darüber hinaus ohnehin nicht hart genug treffen, um einen wirklichen Schaden zu verursachen. Am besten tötete man Trolle, indem man ihnen den Schädel einschlug. Bei allem anderen blieb der Angreifer schrecklich verletzlich zurück.
»Achthundert Geister und weitere siebenhundert Adelige und Leibwachen. Das sind alle Jäger, die wir ins Feld führen können. Die Infanterie-Legion der Geister kann sie zwar unterstützen, aber die Verluste werden dennoch schwer sein.«
Das Gespräch wandte sich der Logistik, dem Nachschub und den Truppenbewegungen zu. Isak hatte in den letzten Wochen genug Zählungen von ganzen und halben Tagen gehört. Wie schnell sie Lomin erreichen konnten, wie bald die Infanterie vom Gipfeltor und Lomin einträfe … Er schloss die Augen wieder und ließ das Land an sich vorbeiziehen.
Der Tag verging langsam, kühl und langweilig. Pagen, Herolde und Quartiermeister eilten ständig hin und her, um mit General Lahk zu sprechen, aber nichts von dem, was sie sagten, schien ihn zu interessieren oder gar zu überraschen. Seine Antworten waren kurz und knapp. Als die Armee aufgebrochen war, waren einige der Pagen General Lahk eine Weile nachgelaufen, weil sie nicht sicher waren, ob sie sich wieder entfernen durften. Dann drehte er sich um und schickte sie weg, woraufhin sie erbleichten und davoneilten.
Vesna stellte endlose Fragen, besprach noch die kleinste Einzelheit mit dem General, nur um in Isaks Nähe zu bleiben. Isak war zu seiner eigenen Verwunderung darüber nicht erzürnt. Die volle, edle Stimme klang interessanter als das Klatschen der Hufe im Schlamm. Träge bemerkte er, dass diese Tatsache über Vesnas Zukunft entscheiden könnte, ganz gleich ob seine Ziele politisch, habsüchtig oder beides zugleich waren. Das reichte, um das Wagenzugkind, das noch in ihm lebte, vor Wut speien zu lassen. Er riss die Augen auf und grollte die tropfenden Bäume am Wegesrand an.
Gegen Mittag standen immer mehr Leute neben der Straße. Hungrige, eingefallene Gesichter starrten in stummem Neid auf die reiche Kleidung, die gesunden Pferde und die bunten Farben der Banner. In voller Kampfmontur wäre der Zug noch eindrucksvoller – Leibwachen mit den Flaggen auf dem Rücken und Ritter mit seidenen Bändern an den Schultern, Helmen, Ellbogen und am Rücken. Im vollen Sturm zeigten sie die Banner des Luxus.
Der Wettstreit um den meisten Eindruck verfehlte seine Wirkung bei den Bauern nicht, die sich mit heruntergekommenen Wagen weiterkämpften, auf denen all ihre weltlichen Güter lagen. Isak konnte Abscheu ebenso deutlich erkennen wie Erleichterung, doch über beidem lagen Dreck und Erschöpfung. Die Armee linderte die Furcht vor dem Feind, unterstrich aber, wie breit die Kluft zwischen Bauern und dem Adel war. Ihre Mühe auf den Feldern war mit dem Glanz der Ritterehre nicht zu vergleichen. Die meisten Adeligen ritten teilnahmslos und ohne sie zu bemerken vorbei.
»Warum sind all diese Leute hier?«
»Es sind Flüchtlinge, mein Lord. Bauern, die von ihrem Land um Lomin geflohen sind. Sie wissen, was es bedeutet, vom Feind gefangen zu werden.« Der General klang beinahe, als habe er Mitleid mit den eingeschüchterten, verhungernden Gestalten, die von der Straße treten mussten, damit die Reiter passieren konnten. Beinahe. Wie alles andere auch waren die Bauern dem Weißauge gleich. Sie bedeuteten nur noch mehr Hintergrundgeräusche in seinem ohnehin schon leeren Leben.
Während Isak sie ansah, gelegentlich auch einen Blick auffing, spürte er eine Veränderung in der Luft. Es wurden mehr. Vor ihnen bildeten die versprengten Gruppen an der Straße allmählich eine größere Menge. Er bewegte sich im Sattel, denn er spürte eine Mischung aus Verachtung dafür, dass er erst jetzt zu ihrer Rettung eilte, und Furcht, Ehrfurcht und Erleichterung. Die Farlan waren ein abergläubisches Volk, und die Legenden von Aryn Bwr lebten in den Herzen seiner ärgsten Feinde weiter. Aber die Zeit stellt seltsame Dinge an und die Götter ehrten ihn, auch wenn sie ihn nach Ghenna verdammten. Durch seinen Mut und seine Genialität hatte Aryn Bwr einen merkwürdigen Platz in den Geschichten des Volkes errungen. Er war nie wirklich beliebt gewesen, aber zu wunderbar, um ihn wirklich zu verabscheuen. Jetzt standen die Leute erneut vor dieser Zerrissenheit und niemand fühlte sich wirklich wohl dabei.
»Wie helfen wir ihnen?«, murmelte Isak. Er drehte sich im Sattel, um General Lahk einen Blick zuzuwerfen.
»Mein Lord?«
»Vorräte? Nahrung? Larat hole Euch, es ist Winter! Hat man nichts für sie getan? Sollen sie hier draußen einfach sterben, während sie darauf warten, dass wir ihre Heimat zurückerobern?«
»Bisher hat man noch nichts getan, mein Lord.«
Wieder gab seine Stimme nichts preis. Isak hätte sich mit offener Ablehnung besser gefühlt, mit irgendeinem Zeichen dafür, dass der General am Leben war.
»Nun, warum nicht?«
»Haushofmeister Lesarl war in diesem Punkt sehr klar, mein Lord. Wir sollten nichts unternehmen, bis sie sehen würden, dass Ihr den Befehl dazu gebt. Euer Volk sollte Euch für Eure Befehle lieben und nicht nur wegen Eurer Stärke fürchten.«
Er überging Isaks ungläubigen Blick und rief mit donnernder Stimme nach dem Hauptmann der Palastgarde: »Sir Cerse, mein Lord wünscht, dass unser Essen an seine Untertanen verteilt wird.«
Wütend sah Isak den Ritter scharf salutieren und dann seine Lieutenants ausschicken, den Befehl zu befolgen. Die Wagen mit den Vorräten kamen wundersam schnell vom Ende des Zuges herüber und eine Gruppe von Männern ritt daneben und reichte alles, was da war, an jeden Farlan heraus, der nur eifrig die Hand ausstreckte.
Isak war sprachlos. Erneut hatte man seine Handlung vorausgeahnt und ihn entsprechend gelenkt. Er schloss die Faust im silbernen Kettenhandschuh um den Griff seiner Klinge und war innerlich wütend auf sich selbst, dass er zu Lesarls Spielzeug geworden war.
»Mein Lord ist nicht beeindruckt.«
»Fickt Euch, Lahk. Wenn Ihr oder Lesarl glaubt, ich nehme es hin, derart manipuliert zu werden … Nur weil ich Euch für den Kampf noch brauchen könnte, töte ich Euch jetzt nicht.«
»Ich verstehe, mein Lord. Zu unserer Art passt ein solches Verhalten nicht …«
»Und Ihr wisst, wie es ist, ich zu sein? Habt Ihr meine Träume? Oder spielen die Götter selbst mit Euch Spiele, an denen sich nicht einmal Lesarl zu beteiligen wagt?«
»Wir sind alle Marionetten, mein Lord. Der einzige Unterschied ist, dass die Götter bemerken, was mit Euch geschieht. Der Rest von uns ist nicht so wichtig.«
Isak fühlte einen Stich seines Gewissens, als der gezeichnete General instinktiv einen Finger über den Nacken gleiten ließ. Das zackige Durcheinander aus Narben begann hinter seinem Ohr und verschwand unter dem Kettenhemd. Isak fand dazu keine Worte. Er wandte sich wieder dem Grübeln über die Frage zu, welche Pläne die Götter mit ihm haben mochten. Seit er ein Erwählter geworden war, fühlte er sich noch eingeschränkter, als zu der Zeit, in der sein Vater sein Leben bestimmt hatte. Das Gefühl, eine einfache Spielfigur zu sein, hasste er sogar noch mehr als die Hilflosigkeit während seiner Kindheit als Diener. Das rieb heftig an ihm, ganz im Gegensatz zu seiner Rüstung.
Isak strich über die Brustplatte und verlor sich in Gedanken, während er über Siulents nachdachte. Sie war fehlerlos gefügt und es gab keine zweite Rüstung dieser Art im ganzen Land. Indem er mit einem Finger über die vollkommen glatte Oberfläche fuhr, konnte er das Echo der Runen spüren, die Aryn Bwr in das Silber graviert hatte. Jede dieser Runen trug einen Zauber in sich. Er schätzte die Zahl auf mehr als einhundert, und das obwohl höchstens ein Dutzend existierender Rüstungen mehr als zwanzig Runen trugen. Lesarl hatte gesagt, dass man nur mit den Fingern schnippen musste, um zwanzig Männer herbeizurufen, die den Rest ihres Lebens damit verbringen würden, Siulents zu untersuchen, und dass doppelt so viele doppelt so lang dafür brauchen würden, es zu vollenden.
Obwohl seine Rebellion grausam gewesen war, hieß es über den letzten König in den Geschichten, dass er nobel und gerecht gewesen sei. Solange er ihnen diente, war er der Liebling der Götter. Es war das größte Geheimnis der Geschichte, warum sich Aryn Bwr gegen die Götter gewendet hatte.
Isak lernte langsam eine andere Seite des Mannes kennen, denn indem er in seine Fußstapfen trat, erfuhr er eine andere Geschichte, als sie die Harlekine erzählten: Siulents passte zu einem Mörder, unmenschlich und über alle Maßen gefährlich. Es fühlte sich an wie etwas, das ein Weißauge hergestellt hatte, nicht ein Elf, dessen Gedichte Leitah, die Göttin der Weisheit und des Lernens, dazu gebracht hatte, ihm nur noch ihren eigenen Bruder Larat vorzuziehen. Und dann war Leitah im Kampf niedergestreckt worden, getötet durch einen Kristallschädel, den Aryn Bwr gefertigt hatte.
Der Helm, das einzige Stück, das er noch nicht angelegt hatte, beunruhigte Isak am meisten. Die Tradition wollte es, dass er nur für den Kampf aufgesetzt wurde – und damit war er auch völlig einverstanden. Diese spitzen Kämme und das ausdruckslose Gesicht versprachen etwas, das er nicht allzu bald kennenlernen wollte.
Die seltsamen Träume, die außergewöhnlichen Geschenke, die ›Herz‹-Rune, die Stimme einer jungen Frau, die seinen Namen durch die Dunkelheit rief – es bildete sich langsam so etwas wie ein Teppich, und hinter jeder Ecke wartete ein weiterer Faden auf ihn, der ihn fester daran band. Auf die Bauern, die Isak betrachteten, während sie sich das Brot in die knurrenden Mägen stopften, wirkte er ruhig und ohne Sorgen. Sein Pferd bewegte sich mit selbstsicherer Überheblichkeit, zog die Hufe weit hoch und die silbernen Ringe und Schellen schlugen aneinander und sangen in einen düsteren Tag hinaus.
Vesna, der die zunehmende Beunruhigung in Isaks Gesicht sah, räusperte sich, um die Aufmerksamkeit seines neuen Lords zu erregen.
Isak warf seinem Lehnsmann einen scharfen Blick zu, doch der Graf beachtete ihn gar nicht und lenkte das Pferd näher heran. Jetzt wurde Isak ein wenig neugierig und beugte sich herunter, um die Worte des Mannes zu hören.
»Mein Lord, ich bin Euer Lehnsmann und gehorche Euren Befehlen. Mein Eid und das Gesetz verlangen, dass ich Eure Interessen schütze. Ich kenne die politischen Spiele gut und beherrsche sie noch besser, wenn Euch dies zum Nutzen gereichen kann.«
»Und warum solltet Ihr das tun?«, murmelte Isak unhöflich. »Warum sollte ich einem Mann mit Eurem Ruf trauen, den ich zudem kaum kenne?«
Der Graf wirkte überrascht. »Mein Ruf, mein Lordprotektor, besagte noch nie, dass ich ein Eidbrecher sei.« In der Stimme lag eine schneidende Kälte, und Isak glaubte, dass der Mann sich wirklich beleidigt fühlte. Selbst wenn dem so war, würde sich Isak nicht entschuldigen. Einen Lehnsmann, selbst einen Grafen, konnte er bedenkenlos verärgern.
»Ich bin Euer Gefolgsmann. Mein Schicksal ist an das Eure gekettet, darum ist Euer Erfolg auch sehr wichtig für mich. Und mein guter Ruf ist alles, was ich besitze. Gäbe ich mich dem Verrat hin, ich verlöre ihn.«
Isak lehnte sich, von der Inbrunst in Vesnas Stimme beeindruckt, zurück. »Was würdet Ihr mir also raten?«
»Der General ist nicht Euer Feind. Ihn für einen solchen zu halten, wäre ein Fehler.«
»Er ist nicht eben freundlich.«
Vesna zuckte die Achseln. »General Lahk steht treu zu seinem Stamm. Er respektiert die Autorität von Lord Bahl und seiner loyalsten Diener. Er vertraut vollkommen darauf, dass ihre Befehle zum Besten des Stammes sind. Behandelt ihn wie einen zuverlässigen Diener – und er wird sich auch so verhalten.«
»Und Lesarl?«
»Der Haushofmeister ist ein Sadist, der die Macht liebt, aber er ist auch ein treuer Untergebener Lord Bahls, der weiß, dass er seinen Freuden nachgehen kann, indem er die Interessen des Stammes vertritt. Spione und Meuchelmörder sind seine Spielzeuge. Seine Loyalität ist gesichert, weil sie ihn mit dem versorgt, was er am meisten liebt. Sogar Lesarls Feinde müssen zugeben, dass er ein Genie von Verwalter ist. Ich glaube, er wird Euch ehren, wenn Ihr Lord seid. Bis dahin denkt er vermutlich, dass Ihr lernen müsst, ein Lord zu sein, der die Ehre verdient.«
Isak blickte erneut auf General Lahk und dachte über Vesnas Worte nach. Sie ergaben einen Sinn – und auch wenn das nicht bedeutete, dass sie wahr sein mussten, es würde ihm doch nicht schaden, sich nach ihnen zu richten. »Wer sind dann meine Feinde?«, fragte er sanft.
»Im Augenblick lagern Eure Feinde vor Lomin. Das zu vergessen wäre tödlich.«
Die Tage vergingen schnell. Isak erinnerte sich nur an weniges aus seinen Träumen, lediglich der Lärm von Kämpfen, die er nicht bestritten hatte, und die immer gleiche suchende Stimme blieben ihm im Gedächtnis. Auch von den Tagen blieb wenig zurück. Der Schlafmangel erschöpfte ihn und das stete Grau des Himmels sowie die Bewegungen des Pferdes lullten ihn ein. Bahl hatte ihm gesagt, er solle sich in sich selbst zurückziehen und auf den Kampf vorbereiten, aber Isak hätte ohnehin nicht viel anderes zu tun gehabt.
Das nagende Gefühl des Feindes, der irgendwo vor ihnen lag, war als ein leichtes Prickeln an seinem Hinterkopf stets wahrnehmbar, während er einfache Kontrollübungen in seinem Geist durchführte. Noch konnte er keine Magie heraufbeschwören, aber schon das erlernbare Wissen um die Verteidigung dagegen konnte ihm das Leben retten. General Lahk zuckte ein halbes Dutzend Mal im Sattel zusammen, wenn er einen Energieimpuls vom übenden Krann ausgehen spürte.
Eine Woche später bot sich eine Abwechslung vom gewöhnlichen Einerlei des Marsches, als Späher berichteten, der Feind sei von Lomin weg auf offenes Gelände gezogen. Erst als Vesna es ihm erklärte, begriff Isak, dass die Elfen durch diesen frühen Rückzug das Schlachtfeld wählten. So konnten sie genug Platz für ihre Überzahl sicherstellen und verhindern, dass isolierte Gruppen nach und nach von der Farlan-Reiterei aufgerieben wurden.
Karlat Lomin ritt mit seiner Leibwache ins Lager, vor den Fußsoldaten, die sich bemühten, die Reiter einzuholen, um dann gemeinsam widerwillige Ehrbezeugungen durchzuführen. Als Vesna ihn fand, rührte Isak lustlos in einer fetten Brühe, und er machte so lange ein Getue um seine Erscheinung, bis Isak schlau – und aufmerksam – genug war, um den Erben von Lomin zu treffen. Es zeigte kaum Wirkung, als er Isak auf die Füße zog und seine Tunika zuknöpfte, aber als Vesna ganz kurz die Scheide berührte, in der Eolis steckte, erntete er dafür einen scharfen Blick von Isak, der bewies, dass er endlich ganz wach war.
Als er sein Pferd vor Isaks Zelt anhielt, gab der junge Wolf in den Bronze- und Rottönen seiner Familie ein eindrucksvolles Bild ab, und der rot gesprenkelte Helm in der Form eines Wolfskopfes glühte gespenstisch im Licht des Feuers. Er trug nur die halbe Rüstung, Harnisch und Kette über teurem Leder mit Gold-und Bronzenähten. Der Wolfskopf hing wie eine blutige Trophäe an seinem Sattel, wie sie Isak einmal an den Wänden einer Chetse-Stadt hatte hängen sehen.
Als Lomin elegant aus dem Sattel glitt, trat Vesna vor seinen Lord, um den Mann zu begrüßen. Ein Mann der Leibwache trat einen halben Schritt vor und ein schmales Lächeln kroch auf Isaks Lippen, als er die Absicht des Mannes erkannte, Unruhe zu stiften. Aber Lomin hob einen Finger und hielt ihn damit auf. Die beiden Männer waren sich offensichtlich schon einmal begegnet.
»Guten Abend, Erbe Lomin«, rief der Graf fröhlich und formte mit nach oben gerichteten Handflächen die traditionelle Willkommensgeste. Er betonte den Titel des jüngeren Mannes besonders, denn er stand im Rang unter ihm.
Der Erbe ließ sich Zeit, bis er Vesnas Gruß entgegennahm. Er reichte einem Pagen die Zügel, schüttelte sorgfältig sein langes schwarzes Haar aus und fingerte an den beiden goldenen Schließen, die den Mantel an den Schultern hielten. Isak erkannte, dass auch diese die Form von Wolfsköpfen hatten. Das war interessant, denn sie hätten eigentlich das Bergfried-Wappen der Familie Lomin zeigen sollen. Als die Schließen zu seiner Zufriedenheit arrangiert waren, sah Lomin den Grafen an und seine Lippen verzogen sich angewidert zu einer schmalen Linie. Dieser eine Blick überzeugte Isak, dass Vesna loyal zu ihm stünde, denn aus ihm sprach reiner Hass.
»Der Abend ist nicht gut, Graf Vesna, und ich bin kein Erbe.«
Vesna zwang sich auf ein Knie, als Lomin gebieterisch auf ihn zuging. »Dann entbiete ich Euch meine Entschuldigung, Herzog Lomin«, sagte er und wollte schon das herzogliche Siegel berühren.
Der Herzog hob einen Finger, um Vesna zu unterbrechen. »Herzog Certinse, Vesna. Ich habe beschlossen, den Familiennamen meiner Mutter zu führen.«
Graf Vesnas Schultern strafften sich. Dass Karlat Lomin – nun Certinse, das musste er im Kopf behalten – sowohl den Namen seiner Familie als auch den der Stadt abgelegt hatte und stattdessen den Namen der mächtigen Familie seiner Mutter vorzog, war eine absichtliche Beleidigung von Lord Bahls Stellung.
Irgendwie brachte es Vesna fertig, den von ihm erwarteten Respekt aufrechtzuerhalten. Er nahm seine Schwertscheide ab und hielt die Waffe seinem Feind mit dem Griff voraus in einer Geste der Unterwerfung hin und murmelte: »Herzog Certinse, ich entschuldige mich und trauere um Euren Vater. Wir haben nicht davon erfahren, dass seine Krankheit gesiegt hat.«
»Das hat sie auch nicht. Obwohl er sehr schwach war, hätte sich mein Vater doch nicht von einer so simplen Krankheit dahinraffen lassen. Eine Gruppe Meuchelmörder überwand vor zwei Nächten die Mauer. Sie ermordeten ihn in seinem Bett, dann zündeten sie den Bergfried an. Nur meine Mutter und ich überlebten. Zehn Elfenassassinen schafften es, meine gesamte Familie sowie fünfzig Wachen zu ermorden und mein Zuhause abzubrennen. Die Wachen auf den Wällen berichteten mir, dass es einige sogar zurück in die eigenen Reihen schafften.«
Um sie herum wurde aufgrund dieser schrecklichen Nachricht das Protokoll vergessen. Hunderte von Stimmen stießen wütende und ungläubige Laute aus, einfache Soldaten und Adlige fluchten gemeinsam. Nur General Lahks Stimme übertönte das Ganze, der anwies, dass die Wachen verdoppelt und die Feuer aufgestockt werden sollten. Der Gedanke, dass diese Mörder mühelos in einen der am besten gesicherten Wohntürme der Farlan hatten gelangen können, war erschreckend. Isak hörte einen Ritter »Zauberei« murmeln, und er dachte das Gleiche.
Vor ihm bewunderte Herzog Certinse die von ihm erzielte Wirkung. Eine Hand ruhte zärtlich auf dem Griff seines Schwertes. Mit dem Tod seines Vaters hatte er Blutlicht und Lomins Fackel geerbt, Waffen, die nur noch durch die der Erwählten übertroffen wurden. Man erzählte sich, dass der junge Mann, erst zwanzig Sommer alt, seinen Vater und seine Geschwister niemals geliebt hatte. Nur seine Mutter hatte einen Platz im Herzen des jungen Wolfes. Er war ihr männliches Ebenbild.
Trotz des Schreckens fragte sich Isak, warum nur diese beiden der Tragödie entkommen waren.
»Ich bin betrübt, das zu hören«, sagte er schwermütig. »Ich habe nur Gutes über Herzog Lomin, Euren Vater, gehört. Ich hatte gehofft, ihn eines Tages zu treffen.«
Es kehrte wieder Stille ein und die Gesichter wandten sich den beiden Männern zu. Herzog Certinse betrachtete Isak, der sogar noch größer war als zu dem Zeitpunkt, da er Tirah verlassen hatte, und nickte knapp. Er war offensichtlich nicht glücklich, vor jemandem zu stehen, dessen Ansehen das seine übertraf. Er trat zu Isak und hielt ihm den Griff von Lomins Fackel ebenso hin, wie es Vesna bei ihm getan hatte. Widerstebend berührte er den Drachenring an Isaks Hand. Certinse mochte ja ein Herzog sein, und damit im Rang über Isak stehen, doch man hatte dem Krann das Kommando über das Heer übertragen, und damit trug er Bahls Befehlsgewalt mit sich.
Hinter Certinse hielt ein Page den Saum des Mantels gerafft in der Hand. Das runde Gesicht des Jungen war vor Schreck erstarrt und Isaks geschärfte Nase nahm den Gestank von Urin wahr. Er konnte dem Jungen keinen Vorwurf machen, zwang man ihn doch, sich einer solch monströsen Gestalt bis auf wenige Fuß zu nähern. Aber er bezweifelte, dass der Herzog es so leicht vergeben würde.
Isak streckte die Hand aus und berührte den Knauf der Waffe. Certinse zuckte zusammen, als Isak ihre Kraft prüfte, einen Finger auf der Figur eines schlafenden Wolfes, der seine Schnauze unter den buschigen Schwanz geschoben hatte. Die Runen fühlten sich stark und schlicht an, bis auf eine, die Isak an Blutdurst erinnerte, an die Gier, etwas zu verbrennen und das Fleisch der verdrehten Kreaturen zu zerschneiden, die jetzt vorrückten.
Es fühlte sich an, als weiche die Rune seiner Berührung aus, und so zog er seine Hand eilig zurück. Er wollte nicht wissen, warum sie das tat. Er mochte zwar noch nicht viel von Magie verstehen, aber er war sich doch sicher, dass diese in einem verbotenen Vorgang entstanden war. Das Schwert kannte tief in seinem Innern den Geschmack der Elfen – es war bereits im Blut eines solchen gebadet worden.
»Erhebt Euch. Für Formalitäten ist später noch Zeit.«
»Wie Ihr wünscht.« Certinses Stimme klang kalt. Er erhob sich. »Ihr habt meine Männer empfangen, die Neuigkeiten über ihre Truppen brachten?«
»Ja«, sagte General Lahk und trat vor, um die Kontrolle über das Gespräch zu übernehmen. Vesna hatte Isak bereits gesagt, dass Certinse bei der geringsten Gelegenheit versuchen würde, die Führung des Kampfes an sich zu reißen.
»Lordprotektor Torl befehligt vier Legionen Reiterei – er ritt vor zwei Tagen vor, um ihre Bewegung zu stören. Wie viel Mann konntet Ihr aus Lomin mitbringen?«
»Die ganze Infanterie, die ich auftreiben konnte: vier Legionen Pikeniere und eine Legion Bogenschützen. Keiner aus den Stadtgarnisonen konnte herkommen, aber mit etwas Glück finden die Waldläufer noch einen sicheren Pfad, sodass einige von ihnen es vor Schlachtbeginn herschaffen.«
»Dann fehlen uns Bogenschützen, zumal ein so großer Teil der leichten Reiterei fort ist. Aber es wird reichen müssen. Soweit wir auskundschaften konnten, ist der Feind in großer Überzahl, doch die meisten sind zu Fuß unterwegs. Die Gruppe, die auf unsere Flanke zu gelangen versucht, besteht vollständig aus Berittenen. Das bedeutet, dass sie den Hauptteil des Heeres nicht sonderlich weit ziehen lassen wollen.«
»Dann werden sie das Nordende der Chir-Ebene nutzen.«
»Das wisst Ihr?« Lahk steckte eine Hand nach hinten und sofort legte einer seiner Leute eine Kartenrolle hinein. Ein anderer Mann brachte einen Tisch, auf dem er die Karte entrollte.
»Hier liegt die Ebene«, sagte Certinse und wies auf die Karte. Isak trat vor, um über Lahks Schulter zu blicken. Mit einem Grunzen trat der General beiseite, um Isak einen besseren Blick zu gewähren. Der Krann konnte aus den Kurven und Linien wenig herauslesen, aber er schwieg. Ein Wagenfahrer kannte das Land von seinen Reisen und aus den Berichten anderer, und nicht vom Papier. Aber das würde er noch lernen müssen.
»Hier liegt eine Anhöhe, die einen Großteil dieser Seite einnimmt. Wir können ungesehen dahinter reiten, doch wenn sie versuchen, sie zu überwinden, stecken sie in Schwierigkeiten. Der Abhang ist zu felsig, um ihn hinabzusteigen. Sie werden warten müssen, bis sie die Lücke erreichen, wo ein kleiner Fluss die Erhöhung durchschneidet. Er ist breit und führt geradewegs auf die andere Seite der Ebene.«
»Was gibt es noch?«
»Den Fluss. Er schneidet die Anhöhe hier und verläuft dort. Allerdings ist er nicht tief. Es gibt da einen steilen Anstieg, der zu einem Plateau führt.« Certinse bewegte den Finger zu einer Stelle nordöstlich des Flusses. Auf der Karte war nichts eingezeichnet, aber weder der Herzog noch der General wirkten davon überrascht. »Einige alte Befestigungen stehen darauf, nichts Großes, aber es ist ein sicherer Ort, von dem aus man einen guten Überblick über das Gelände hat. Davon abgesehen gibt es noch eine leichte Anhöhe nach Osten und eine schöne große Ebene, wo wir sie uns schnappen können.«
»Wie ist der Fluss zu dieser Jahreszeit?«, unterbrach Isak.
Als Kind hatte er oft genug Pferde durch Flüsse gezogen, die vom Herbstregen angeschwollen waren, um zu erahnen, wie schwierig es für eine Armee sein würde.
Certinse blickte hoch und Ärger flammte in seinem Gesicht auf, aber er antwortete: »Nicht bedenklich. Selbst nach dem Regen, den wir hatten, wird es möglich sein, ihn zu überqueren.«
»Gut«, erklärte General Lahk entschlossen. »Dort werden wir angreifen. Wir können die schwere Reiterei durch die Kluft führen und den Gegner in die Flanke treffen.«
»Allein?«
»Nein. Eure Legion Bogenschützen wird auf der felsigen Anhöhe stehen und von einer von Lomins Pikenierlegionen beschützt werden. Wir haben eine Legion leichte Reiterei bei uns und eine Einheit wird vorher ein Scharmützel suchen, um die Trolle von diesem Anstieg wegzulocken …«
»Woher wisst Ihr, dass sie dort sein werden?«, unterbrach der Herzog.
»Hier sind sie vor der Kavallerie geschützt, darum werden die Trolle dorthin gehen, bereit, unsere schwere Reiterei anzugreifen, sobald wir sie ausschicken. Die Einheit wird im gesamten Parfüm- und Duftvorrat gebadet, die unsere schönen Ritter mitgebracht haben. Meine Geister haben bereits jedes Bündel aller unserer Männer danach durchsucht. Eure Leibwache wird sich dem ebenfalls unterziehen, Herzog Certinse.«
Der junge Mann wurde rot vor Zorn, weil ihn ein Weißauge so herumkommandierte, aber Isaks Frage hielt ihn von Weiterem ab: »Parfüm? Seid Ihr verrückt geworden?«
»Zum einen wird es die Pferde erschrecken, Trolle zu wittern«, erklärte der General ruhig. »Das wird hoffentlich ihren Gestank überdecken. Zum anderen verlassen sich Trolle auf ihren Geruch und ihr Gehör. Sie können nur auf kurze Entfernungen etwas sehen. Die Bogenschützen werden auch den ganzen Weihrauch verbrennen, den unsere Priester besitzen. Man hat mir versichert, dass die Windrichtung passend dafür sein wird. Indem wir uns schnell bewegen und die Hilfe der Magier nutzen, können wir die Trolle zumindest ärgern. Sie werden den ungewohnten Geruch ebenso verfolgen wie die Bewegungen der Reiterei, und wenn unsere Pferde nach Süden ausbrechen, also weg vom Feld, sollten sie verwirrt ins Stocken kommen.«
»Das ist Wahnsinn«, rief Certinse.
Der General richtete sich auf und sah den Herzog an, aber noch immer zeigte sich kein Verdruss auf seinem Gesicht, von dem Ärger über diese Beleidigung ganz zu schweigen.
»Nun, dann ist es unglücklich für uns alle, dass Lord Isak den Plan gutheißt, und dass er es ist, dem der Oberbefehl des Heeres übergeben wurde«, sagte er ruhig.
»Lord Bahl wusste nicht, dass ein Herzog anwesend sein würde !«, fauchte Certinse. »Wäre mein Vater noch am Leben, man hätte ihm das Kommando übergeben, sobald er ins Lager geritten wäre. Ich fordere das gleiche Recht, denn es ist ein Privileg meines Ranges.«
Isak sah Vesna an und hob eine Augenbraue, aber der Graf achtete gar nicht darauf. Seine Hand wanderte langsam zu seinem Schwert, während sich die Leibwache Lomins näher heranschob.
Es lag bei Isak. »Verlangt verdammt noch mal, was immer Ihr wollt«, blaffte er. Die Schärfe in seiner Stimme ließ alle erstarren und reichte bis zu den Geistern, die um Isaks Zelt lagerten. Als diese Certinses Leibwache sahen, griffen sie instinktiv nach ihren Waffen und schlossen die respektvolle Lücke zwischen Gefolge und Generälen. General Lahk war ein gefühlloser Bastard, der eine Einheit opfern würde, wenn es nötig war. Aber aus dem gleichen Grund hielt er sie wieder und wieder am Leben. Sie vertrauten ihm ebenso, wie sie Lord Bahl vertrauten, und mochten den Hochmut der Ritter einer Leibgarde nicht.
»Der Erste, der hier ein Schwert zieht, wird der Meuterei angeklagt und von mir durchbohrt. Das gilt auch für den Ersten, der versucht, mir mein Kommando wegzunehmen, unabhängig davon, in welchem Rang er steht«, sprach Isak weiter. »Ich werde mich vor Lord Bahl für meine Taten verantworten, aber niemand sonst hat mir Befehle zu geben.« Er blickte jeden der Männer böse an. »Also, hat irgendjemand etwas gegen diesen Plan?«
Es war einen Augenblick lang still, dann stieß Certinse aus: »Die Überzahl des Gegners ist zu groß. Wir müssten uns durch mehrere Legionen kämpfen, um die Trolle zu erreichen.«
»General Lahk, würdet Ihr bitte weitererklären?« Isaks Stimme klang ruhig und kontrolliert. Worte, die Bahl zu ihm gesagt hatte, kamen ihm in den Kopf: Im Auge des Sturms haben Männer Zeit, die andere Seite zu fürchten. Zeige deine Wut und dann nutze sie nicht weiter. Sie werden erwarten, dass sie zurückkehrt und zögern. Ein kurzes Verharren ist alles, was ein Soldat braucht.
»Natürlich, mein Lord. Im Süden wird der Rest der Fußsoldaten, die Infanterie der Palastgarde zuvorderst, und auch die verbleibende leichte Reiterei stehen. Die Geister und die Kavallerie werden vorrücken, dann beim Anblick des Feindes zögern und in einen chaotischen Rückzuck übergehen. Ich hätte die Geister gerne bei Eurer Gruppe, aber sie sind die Einzigen, die für ein solches Manöver ausgebildet sind.«
»Was für ein Manöver?«
»Geordneter Rückzug. Unser Feind liebt fliehende Widersacher über alles. Ihre Kommandanten werden eine Verfolgung zweifellos nicht verhindern können. Die fliehenden Männer kehren in unsere Reihen zurück und formieren sich neu – vertraut mir, Herzog Certinse, ich habe persönlich dafür gesorgt, dass dies geschieht – und warten auf den Angriff. Das Feld der Gegner wird sich weit genug entzerren, dass wir die Trolle angreifen können, ohne umzingelt zu werden.«
»Aber dann teilen wir unsere Truppen im Angesicht einer Überzahl«, sagte der Herzog. »Das widerspricht einer grundsätzlichen Regel der Kriegsführung.«
»Und bestätigt so Eraliaves Theorie, dass alle Gesetze des Krieges fließend sind und ein guter General in der Lage sein muss, sich an die gegebene Lage anzupassen«, sagte Vesna. Der Herzog funkelte ihn an, nahm jedoch augenscheinlich hin, dass dies nicht die richtige Zeit für weitere Diskussionen war.
»Ganz richtig, Graf Vesna«, sagte der General. »Mit Eurer Erlaubnis, mein Lord, werde ich nun den Hauptmännern der Legionen ihre Befehle erteilen.«
Isak bedeutete Lahk, dass er gehen könne, nickte dem General sogar respektvoll zu. Es fiel ihm schwer, nicht zu schmunzeln, obwohl alle anderen es taten. Certinse hatte, gezwungen durch die Regeln, Gesetze und Traditionen seiner Klasse, keine andere Wahl, als mitzuziehen.
Lordprotektor Fordan räusperte sich und sein Gesicht zeigte eine unschuldige Hilfsbereitschaft. Ein Krug Wein hatte seinen Verstand nicht beeinträchtigt, darum konnte er sehen, dass sich Certinse empfehlen wollte, um der Ausführung des Plans seinen eigenen Willen aufzuzwingen. General Lahk war für seinen unbedingten Gehorsam bekannt. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war, dass er sich einem Ranghöheren stellen musste.
»Herzog Certinse, Lord Bahl schrieb mir und brachte seine Sorge zum Ausdruck, dass nun, da Euer Vater so krank war, das Herzogtum Lomin bald ohne Erbe sein könnte. Da diese unliebsame Lage nun eingetreten ist und wir so viele Euch Ebenbürtige vor Ort haben, wäre dies die geeignete Zeit, um eine Vermählung zu besprechen.«
Der Herzog wand sich für einen Augenblick, dann zuckte er mit den Schultern. Er war schlau genug, um zu erkennen, wann er ausmanövriert war, und zwang sich ein Lächeln für den vierschrötigen alten Mann ab, der zurückstrahlte.
Es dauerte über eine Stunde, bis die Angelegenheit geklärt war. Eine großartige Mitgift würde seine Hochzeit mit der Tochter des Lordprotektors Nelbove begleiten. Nelbove lag nah bei Tirah – und der Lordprotektor wusste, dass man ihn des Verrates verdächtigte, darum wollte er Lord Bahl nicht noch weiter verärgern.
Nachdem die Arbeit des Abends erledigt war, zogen sich die Adeligen zurück, um auf den Morgen zu warten.
»Also, meine Dame, glaubt Ihr nicht, Ihr hättet für eine Woche hier drinnen genug Zeit verbracht?«
Tila zuckte im Stuhl zusammen und griff schon nach den Armlehnen, um sich hochzustemmen, als sie erkannte, dass nur Schwertmeister Kerin vor ihr stand. Er grinste und ließ sich auf dem gegenüberliegenden Sitz nieder, wandte sich dem Feuer zu und seufzte wohlig. Tila hatte es den ganzen Tag brennen lassen. Aus Kerins Reaktion schloss sie, dass es nun, nachdem es Nacht geworden war, bitterlich kalt dort draußen war. Der Schwertmeister trug seine Gardeuniform – wie jeden Tag, seit Lord Bahls Abreise – und die sah nicht ansatzweise so warm aus wie das Leder und die Wolle, die er sonst trug.
»Ich habe wirklich viel Zeit hier drinnen verbracht«, gab Tila zu und rieb sich die müden Augen, um dann den Schwertmeister anzusehen. »Aber ich habe bis zu Lord Isaks Rückkehr keine anderen Pflichten. Und wie Ihr seht, habe ich noch einiges vor mir.« Sie wies mit einem müden Lächeln auf die Bücher und Rollen an den Wänden.
»Ihr wollt sie alle lesen?«
»Ich habe allerdings vor, alles zu lesen, was Lord Isak nutzen kann.« Sie hob das Buch auf ihrem Schoß an, damit Kerin die geschwungene Schrift auf dem Buchdeckel lesen konnte. »Eine Sammlung der Prophezeiungen über den Erlöser.« Sie verzog das Gesicht.
»Glaubt Ihr …«, setzte Kerin an.
Tila unterbrach ihn. »Nein, aber seit Lord Isak seine Geschenke erhalten hat, gab es Gerede. Ihr müsst die Prediger auf dem Palastweg doch gehört haben.«
»Ich habe von ihnen gehört«, sagte Kerin. »Aber ich habe Besseres zu tun, als einer Horde ungekämmter Verrückter zuzuhören. Wie dem auch sei, als Ritter-Verteidiger kann ich den Palast nicht verlassen, bis entweder Lord Bahl oder ein General mich aus meinen Pflichten entlässt. Sonst ist es Desertation und das bedeutet eine Reise zum nächsten Baum und einen kurzen Sturz.« Sie lächelten beide. Die Idee allein, dass Schwertmeister Kerin an Fahnenflucht denken könnte, war schon lächerlich.
»Meine Männer berichten mir von Predigern überall in der Stadt und sie sprechen nicht nur über den Erlöser gern. Doch bisher gab es noch keinen Ärger. Sie sind keine Unruhestifter, nur völlig verrückt.«
Tila schnaubte. »Wenn einer von ihnen sich wirklich als heiliger Mann herausstellt, werdet Ihr Schwierigkeiten bekommen, weil Ihr sie alle als schwachsinnig abgetan habt.«
»O Götter, die wären noch schlimmer!«, rief Kerin und lehnte sich vor, um seinen Punkt zu unterstreichen. »Jeder Mann, der den Frieden erhalten will, wird mir zustimmen, wenn ich sage: Gnädige Götter, schützt uns vor den Religiösen.«
»Und was meint Ihr damit?«
»Ich habe gesehen, wie sich einige, die sich für wirklich religiös ausgeben, verhalten, und ich sage Euch, Lady Tila, keine Kreatur des Dunklen Ortes würde sich aus einem so geringen Anlass gegen die Seinen wenden wie diese Leute. Gläubiges Volk verbrennt oder hängt einen Mann, weil er auf die falsche Weise lächelt.« Kerin lächelte nicht. Er umfasste die Armlehnen und seine Augen funkelten wütend.
Tila versuchte gar nicht erst, ihm den Unterschied zwischen den Fanatikern und den Gläubigen zu erklären. Einige Leute waren einfach nicht daran interessiert, ihn zu sehen. »Nun, wenn die Leute sich so verhalten, so sollte man sich darauf vorbereiten«, sagte sie ruhig. »Wir sollten die Dogmen erkennen können, denen sie folgen.« Sie klopfte auf die offene Seite des Buches. »Lest dies hier und sagt mir, was Ihr davon haltet.«
Sie reichte Kerin das Buch, der die Stirn kraus zog, während er die Textzeilen überflog. Die Prophezeiung, die sie meinte, war vor zweihundert Jahren über einen Stalljungen im Embere gekommen. Niemand, nicht einmal der Gelehrte, der das Buch geschrieben hatte, wusste etwas damit anzufangen. Die Lippen des Schwertmeisters bewegten sich, während er las – Tila sah so etwas oft bei Palastsoldaten, die erst spät eine Ausbildung erhalten hatten – und mit jedem Satz wurde sein Gesicht ernster.
»Also ich verstehe nicht mal die Hälfte davon, aber das ist kein Erlöser, den ich kennenlernen möchte«, knurrte er. »Ein Schatten erhebt sich aus dem treuen Westen und beginnt seine Zwielicht-Herrschaft unter den Erschlagenen.«
»Beruhigend, nicht wahr?« Tila nahm das Buch wieder entgegen, legte es auf den Tisch neben sich und stand auf. Sofort erhob sich auch Kerin. »Aber es ist besser, den Wahn zu kennen, dem unsere Feinde folgen, als in Unwissenheit zu verweilen.« Sie reichte ihm den Arm und nickte zur Tür. »Kommt. Wenn Ihr glaubt, dass ich schon zu lange hier weile, wollen wir uns lieber etwas Unterhaltung suchen.«