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»Also beginnt es.« Seine Gedanken glitten langsam dahin, als müssten sie gegen eine starke Strömung anschwimmen.

»Was meinst du damit?«

»Die Verbannten sind zurückgekehrt. Bald wirst du ein Heer der Geweihten anführen. Die Prophezeiungen regen sich, und sie drehen sich um dich.«

»Ich habe das nie gewollt.«

»Was willst du? Kannst du dich gegen das wehren, was geschehen muss?«

»Ich weiß es nicht, aber ich will keinen Krieg, der das Land spalten könnte. Wer weiß schon, welcher Schaden entstehen kann, wenn die Prophezeiungen dieses Zeitalters aufeinandertreffen?«

»Manchmal kann es Frieden nur … durch Krieg geben. Du kannst nicht einfach dasitzen und nichts tun, wenn andere erobern und zerstören wollen.«

»Das ist nicht das Gleiche, wie der Erlöser zu sein, den die Leute erwarten.«

»Das Leben, in dem ich gefangen bin, ist eines voller Vorahnungen und Möglichkeiten. Ich kann die Zukunft spüren, weil es eine Zukunft ist, an der ich teilhaben werde. Dunkle Wolken ziehen auf, Kräfte, die du nicht kontrollieren kannst. Ich sah dich tot – und ein Schrecken nimmt deinen Platz ein und lässt dich geistlos zurück, wie ein Tier lebend und an den Dunklen Ort verbannt, während das Land zugrunde geht.«

»Was kann ich also tun? Soll ich den Treueschwur der Geweihten entgegennehmen, wenn ich sie in Llehden treffe?«

»Llehden? Wer hat ein Treffen dort vorgeschlagen? Es ist ein Ort von großer Macht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Geweihten dort willkommen sind. Sie müssen dieses Treffen unbedingt geheim halten wollen. Wenn du dorthin gehst, triffst du auf die Hexe von Llehden. Vielleicht kann sie dir helfen.«

»Welche Hilfe könnte eine Dorfhexe mir schon anbieten?«

»Das Land gerät aus dem Gleichgewicht, von Kräften getrieben, die ohne Gedanken an die Folgen verliehen wurden. Ich denke, sie wird nicht beiseitetreten und erlauben, dass es zerstört wird, und ich glaube auch, dass sie dein eigenes Bedürfnis nach Gleichgewicht erkennen wird. Ich spüre, dass sie dir einen Pfad durch das Dunkel zeigen wird.«

Die Dunkelheit lichtete sich. Isak spürte seine müden und schmerzenden Glieder und die von Tränen verklebten Augen. Das Erwachen kündigte sich scharf und aufdringlich an, obwohl er doch so gerne wieder in die Ruhe des Schlafes geglitten wäre. Er spürte ein Bett unter sich, feucht und kalt nach der angenehmen Wiege aus reiner Luft. Das Summen von Unterhaltungen traf auf seine Ohren, bevor es zu Worten wurde, zu Stimmen, die er kannte. Langsam kehrte er zu dem Land und zu dessen Sorgen zurück.

 

»Wir sollten ihn schlafen lassen.«

»Er muss wach sein, damit ihn die Leute sehen können.«

»Wie hat er das überlebt?«

»Was glaubst du wohl? Seine ersten Stunden als Lord der Farlan … Nartis kann da wohl kaum auf ihn aufpassen, vor allem in einem Sturm. Ich will wissen, wie er das getan hat – und was er getan hat. Er hat nicht einfach nur Blitze mit Magie erzeugt, er hat wirklich den Sturm zu sich gerufen. Die Magier hatten deswegen schon Angst bekommen, und dann …«

»Aber was ist mit seinem Arm?«

»Das kann ich mir nicht erklären. Schätze, wir brauchen einen Magier oder vielleicht auch einen Priester, der es uns entschlüsselt.«

Isak schnappte mit einem Mal nach Luft, als tauche er aus dem Wasser auf. Die Leute um ihn herum zuckten erschrocken zusammen. Er hatte so ruhig wie ein Toter dagelegen. Jetzt klangen seine tiefen Atemzüge wie eine Rückkehr zu den Lebenden.

Isak konzentrierte sich auf das Dach über sich. Er lag im Palast, in der Ecke einer prächtig verzierten Halle. Mit Anstrengung konnte er sich auf einen Gedanken konzentrierten: War dies die Halle der Königin? Es war nicht der Audienzsaal. Dies war ein kleinerer und eleganterer Raum.

»Wie fühlt Ihr Euch?«

Isak musste bei Tilas Frage ein Lachen unterdrücken. Er hatte noch keine Bestandsaufnahme seiner Verletzungen durchgeführt, aber er wusste, dass jeder Knochen und jeder Muskel in seinem Körper wehtat. So hob er den Kopf von der unbekannten Unterlage, aber das rief eine scharfe Schmerzwelle hinter seinen Augen hervor. Seine Sicht verschwamm und schwankte.

Als er die Augen wieder öffnete, knieten Tila und Mihn neben ihm, die Hände auf seiner Brust und Stirn, um ihn ruhig zu halten.

»Vorsichtig«, warnte ihn Tila leise. »Der Wall ist unter Euch zusammengestürzt und Ihr seid ziemlich tief gestürzt.«

»Was ist geschehen?«, röchelte Isak.

»Was geschehen ist?«, wiederholte Carel hinter ihr. Isak zwang seine Augen, sich auf den alten Freund zu konzentrieren. Er sah ein zerschlagenes, müdes Gesicht, mit blauen Flecken und auf der linken Seite noch immer etwas blutend. Carels Arm lag in einer Schlinge und war von schmutzigen Verbänden umhüllt. »Erinnerst du dich daran, dass du den Zorn der Götter auf diese Soldaten herabbeschworen hast?«

»Ich … nein, ich erinnere mich nur an Blitze. Das ist alles.«

»Es gab auch nur Blitze, Junge!« Ein Funkeln erschien in Carels Augen. »Eine ganze verfluchte Menge davon, mehr Blitze, als die Natur jemals an einem Ort einschlagen ließ. Wir wissen noch immer nicht, wie viele du getötet hast, aber es müssen Hunderte gewesen sein. Sie hatten beinahe jeden Mann in die Bresche gestopft. Du hast deinen Schild in die Luft gehalten und damit die Blitze angezogen … und sie dann nach unten in sie weitergeleitet.«

Isak spürte ein dumpfes Pochen in der Hand, aber im Vergleich zu den Schmerzen im Rest seines Körpers fühlte es sich harmlos an. Er hob seinen Schildarm vorsichtig an und musste einen Schrei unterdrücken. Zu seinem Entsetzen hatte sich sein linker Arm völlig verändert. Er fühlte sich noch genauso an wie vorher. Die gleiche Größe und das gleiche Gewicht, aber statt der sonst gesunden Farbe glühte er jetzt in einem unirdischen Weiß, schimmerte in der hellen Morgensonne. Die Haut war völlig glatt und wies nicht den kleinsten Kratzer auf. Es sah aus, als sei alles Blut bis auf den letzten Tropfen und alle Farbe aus seinem Arm gesaugt worden. Voller Angst hob er den anderen Arm, doch dieser sah ganz so wie immer aus, lediglich vom Kampf zerkratzt und mit blauen Flecken übersät. »Es ist nur der linke«, sagte Tila sanft und beruhigend, aber ihr Gesicht verriet ihre Anspannung.

»Wie weit reicht es hinauf?« Er versuchte den Kopf zu drehen, um besser sehen zu können, aber beim Versuch zuckte er vor Schmerz zusammen und ließ den Kopf wieder auf das Kissen fallen.

»Bis zur Schulter«, sagte Mihn und erschien hinter Tila. »Es endet plötzlich. Es sieht aus, als habest du den Arm in Farbe getaucht.« Er zeigte keine Gefühle. Isak erinnerte sich daran, ihn auf dem Wall kämpfen zu sehen, nur mit seinem Stab. Mihn hatte sogar die Männer der Bruderschaft an Geschick und Schnelligkeit übertroffen. Er war nicht verletzt worden, hatte sogar den kleinsten Schnitt vermeiden können, doch seine Tränen waren ungehindert geflossen. Er hatte, nach seinem Scheitern, ein Harlekin zu werden, geschworen, nie wieder ein Schwert zu benutzen, doch diesen Schwur hatte er gebrochen, um Isak vor dem Weißen Zirkel zu retten. Eine weitere Schande lastete nun auf seiner Seele.

In Farbe getaucht: das war eine sehr passende Beschreibung, dachte Isak. Das Stück, das er sehen konnte, war nicht durchsichtig, nicht der Farbe beraubt, sondern in reinem Weiß. Er erinnerte sich daran, wie sich die Blitze liebevoll um seinen Arm gelegt hatten. Das gleißend helle Licht hatte erst seine Haut erwärmt, dann war es bis in seine Knochen eingedrungen. Als er nun genauer hinsah, konnte er die feinen Haare sehen und zwei Muttermale, die noch immer da waren, aber schneefarben. Obwohl er außerordentlich schnell und beinahe unmenschlich gut heilte, hatte er eine Narbe. Sie stammte von einem Sturz von einem Baum, bei dem er beinahe den Arm verloren hatte. Jetzt war sie kaum noch zu sehen. Isak starrte sie gebannt an. Blaue Adern waren unter der Haut gerade eben erkennbar. Der Arm war nicht verletzt, nur vom Göttlichen berührt worden.

Er griff nach Eolis, das neben ihm lag, und berührte dann mit seinem Unterarm die Schneide der Klinge. Trotz der Schlacht war sie so scharf wie eh und je. Er beobachtete fasziniert einen roten Blutsfaden, der seinen Arm entlangkroch. Der Kontrast zu seiner Haut war geradezu erschreckend.

»Seid Ihr dann bald fertig damit?« Tila klang verärgert. »Ich habe gerade jeden vermaledeiten Schnitt an Eurem Körper verbunden, und Ihr sehnt Euch schon nach weiteren? Beachtet mich gar nicht.«

Isak sah das Mädchen an und grinste breiter, als sich ein widerstrebendes Lächeln auf ihren Lippen zeigte. Ihr einst elegantes grünes Seidenkleid war nun zerrissen und mit Blut befleckt. Die Ränder waren ausgefranst, wo sie Stoff für die Verbände abgerissen hatte und mit einem Messer einen Schlitz von der Wade bis zum Oberschenkel hineingeschnitten hatte, um genug Freiraum für die Beine zu haben.

Als er sie betrachtete, bemerkte er mit Schrecken, dass seine Brust nackt war. Die Hand zuckte sofort zur Narbe darauf.

»Ach ja«, sagte Carel ruhig. »Und dann das da. Was in Nartis’ Namen ist das, Junge? Warum hast du mir verdammt noch mal nichts darüber gesagt?« Seine Worte waren zwar grob, aber seine Stimme klang nach einem vertrauten Gespräch.

»König Emin sah sie ebenfalls«, kommentierte Vesna und trat in Isaks Blickfeld. Isak war sicher, dass der gequälte Gesichtsausdruck nicht mit der Krücke zusammenhing, auf die er sich stützte.

»Sagte er etwas?«

»Das tat er, mein Lord, und ich hoffe, es ergibt für Euch einen Sinn.«

Isak kniff bei dem distanzierten Ton die Augen zusammen. Der Graf war offensichtlich verletzt, dass er ihn nicht als vertrauenswürdig genug erachtet hatte, um ihm davon zu erzählen.

»Er sagte, er fragt sich, warum du sie ausgewählt hast.«

»Das ist alles?«

Er nickte.

Isak fühlte sich plötzlich völlig kraftlos. Er sank wieder auf das Bett zurück. Er besaß nicht einmal mehr die Kraft, sich schuldig zu fühlen.

»Nun?«, fragte Carel.

»Bitte, nicht heute. Es gibt zu viel zu tun, auch zu viel zu betrauern.« Isak hustete schwach und brauchte einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen. »Könnt ihr mich eine Weile allein lassen?«

Sie waren nicht glücklich darüber, aber Isaks Erschöpfung war offensichtlich nicht nur vorgeschoben, um dieser unangenehmen Unterhaltung zu entgehen. Sie gingen schweigend durch die Halle zur Dame Daran, die die Versorgung der dort liegenden verwundeten Geister überwachte.

Isak legte sich wieder hin und versuchte, die schmerzenden Stellen an seinem Körper zu finden. Nachdem sich seine Kopfschmerzen etwas gelegt hatten, war es leichter, mit Hilfe seiner übernatürlichen Wahrnehmung festzustellen, dass er keinen großen Schaden erlitten hatte. Keine gebrochenen Knochen, nichts hatte Siulents durchstoßen. Es gab große blaue Flecken, wo Äxte und Schwerter auf seine Rüstung geprasselt waren, aber seine Schwäche erwuchs hauptsächlich aus der übermäßigen Nutzung der Magie.

Er lächelte matt, als er sich daran erinnerte, wie er die Kraft des Sturms gelenkt hatte. Ein Nachklang dieser Macht vibrierte noch immer in seinen Knochen, ein Echo der Göttlichkeit.

Er starrte einige Minuten auf die wunderschön bemalte Decke und lauschte auf die entfernten Stimmen, dann fühlte er sich langsam wieder etwas kräftiger. Zögernd stemmte er sich auf die Ellbogen. Der Schmerz hatte etwas nachgelassen, jetzt fühlte es sich wie ein schrecklicher Kater an – wenn auch wie einer, der ebenfalls die Seele betraf. Sein großer Körper wirkte schwer und ungelenk. Sogar die kleinste Bewegung bedeutete eine Anstrengung.

Endlich schaffte er es, sich aus dem Bett zu erheben. Er stand dort schwankend, während Mihn einen Stuhl heranholte, damit er sich mit etwas mehr Würde setzen konnte. Isak bemerkte, dass ihn Tila, Carel und Vesna aus geringer Entfernung beobachteten und Mihn erlaubten, seinem Lord zu helfen. Tila schickte jemanden nach Essen aus und einige Minuten später kam ein Diener mit einem Teller und einem dampfenden Becher Tee. Isak legte die Hände darum und beugte sich darüber, um die warmen Dämpfe einzuatmen.

»Wo befindet sich der Körper meines Bruders?« Die durch die Halle donnernde Stimme ließ Isak zusammenzucken. Ein breit gebauter Mann stürmte am anderen Ende der Halle vor einer kleinen Gruppe von Leuten herein. Hinter ihm lief – das war ein krasser Gegensatz – ein kleiner Mann, seiner Kleidung nach ein Palastbeamter, und versuchte den Anschluss nicht zu verlieren. Er rang nervös die Hände, während er den größeren Mann verfolgte.

»Mein Lord, Lordprotektor Toquin, wenn ich Euch bitte unter vier Augen sprechen dürfte …«

»Verflucht, Mann, nein, das dürft Ihr nicht!«, blaffte der andere und warf dem Diener einen verächtlichen Blick zu. Sein rotweißes Wams schien makellos und erlesen. Das Gesicht Lordprotektor Toquins wurde rot vor Wut, als er in die Halle sah, Isak entdeckte und an den Frauen in seiner Gruppe vorbeiging, die versuchten, ihn zu beruhigen. Am Rocksaum einer von ihnen hing ein kleiner Junge.

Der Adlige blickte wütend auf das Weißauge hinab, als wolle er es herausfordern, sich über sein Eindringen zu beschweren. Isak erinnerte sich an den Namen. Es war Hauptmann Brandts Bruder, und er erinnerte sich auch an Brandts Heldentaten auf der Mauer und an sein Opfer. Man konnte Lordprotektor Toquin kaum einen Vorwurf für seine Wut machen.

Isak richtete sich so weit auf, wie er nur konnte, und sagte: »Mein Lord, Ihr müsst Hauptmann Brandts Bruder sein. Meine Entschuldigung, dass ich mich nicht erhebe, um Euch zu begrüßen, aber ich habe so ein … ein wenig gekämpft.«

Der Mann starrte ihn an, wurde aber von Isaks repektvollem Ton etwas besänftigt.

»Ihr müsst die Herzoginwitwe Toquin sein?«, fuhr Isak mit dem Blick auf die ältere der beiden Frauen im Gefolge des Lordprotektors fort.

Sie machte einen kleinen Knicks. Dabei hafteten ihre tränenschweren Augen weiter auf Isaks Gesicht.

»Und Ihr, meine edle Dame, müsst die Dame Brandt sein.« Er lächelte die jüngere Frau freundlich an und wandte sich an den Jungen. »Und du bist der Sohn, von dem Hauptmann Brandt so stolz sprach.« Die Frau nickte und zog den Jungen an sich. Ihre Trauer war zwar deutlich, aber es sah nicht so aus, als habe der Junge bereits begriffen, dass sein Vater nie mehr nach Hause käme. Er war erst neun, dachte Isak, wohl zu jung, um ganz zu verstehen, was geschehen war.

»Kommt her«, sagte er leise und bedeutete dem Jungen, zu ihm zu treten.

Seine Mutter drückte ihn noch einmal, dann ließ sie ihn gehen und schob ihn leicht vor. Brandts Sohn ging einige Schritte auf Isak zu. Er hatte keine Angst vor dem Weißauge, bis er näher kam und erkannte, wie groß er war – sogar auf seinem Stuhl zusammengesunken überragte Isak den Jungen um einiges.

In einer langsamen Bewegung, damit der Junge keine Angst bekam, wies er auf den Ring, der an einem Lederband um den Hals des Jungen hing. Er hatte keine Ahnung, ob man Jungen dieses Alters so behandelte, aber der Junge schien bereit, beim geringsten Anlass zu seiner Mutter zu fliehen. Er war ein dünnes Kind, ähnelte in Isaks Augen eher der Mutter als dem Vater.

»Gab ihn dir dein Vater?«

Der Junge nickte.

»Sagte er dir, dass er mir gehörte?«

Wieder ein Nicken, dann hob der Junge eine zitternde Hand und berührte den Ring an seinem Hals. »Wollt Ihr ihn zurück?« Der Junge klang verständlicherweise aufgeregt darüber, dass er das letzte Geschenk seines Vaters zurückgeben sollte.

Isak kicherte, aber dieser Laut wurde zu einem schmerzerfüllten Keuchen, das den Jungen beinahe in die Flucht schlug. »Nein, du sollst ihn behalten und vielleicht eines Tages sogar an deinen eigenen Sohn weitergeben. Erinnerst du dich an das, was dein Vater sagte, als er dir den Ring gab?«

»Er sagte, wir sind alle nur Menschen, mehr nicht. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen sollten, so gut zu sein wie möglich.« Der Junge gab die Zeilen sorgfältig wieder, versuchte sich an jedes Wort zu erinnern.

»Gut. Du sollst dich immer an deinen Vater erinnern, wenn du den Ring ansiehst, und daran, dass er starb, um andere zu schützen. Dein Vater rettete mein Leben – und vermutlich auch das des Königs, der Königin und aller anderen im Palast. Erinnere dich stets daran, dass dein Vater ein Held war, und zwar einer, der des Zeitalters der Mythen würdig gewesen wäre.«

Der Junge nickte traurig. Langsam erkannte er die Wahrheit und seine Lippen zitterten. Er kniff gegen die aufsteigenden Tränen die Augen zusammen.

Isak schob den Jungen sanft wieder zu seiner Mutter hinüber. Sie kniete sich hin und weinte ohne Scham in das Haar ihres Sohnes, als dieser das Gesicht in ihre Halsbeuge legte und die kleinen Hände in ihrem Schal ballte.

Isak stand auf, verzog ein wenig das Gesicht, konnte aber einfach nicht mehr ruhig sitzen bleiben. »Ich weiß nicht, ob Ihr eigene Traditionen pflegt, aber … der Körper des Hauptmannes wäre im Tempel des Nartis willkommen, wenn Ihr es wünscht. Er verdient ein Heldengrab.«

Lordprotektor Toquin blinzelte einige Male, während er das Angebot annahm. Aus seiner Reaktion schloss Isak, dass hier nur wenigen die Bestattung im Tempel erlaubt wurde. Isak war es gleich, welche Einwände die Priester haben könnten – er konnte sich nicht vorstellen, dass sogar der senilste sich dem Lord der Farlan widersetzen wollte. Es mochte noch immer umstritten sein, ob der Erwählte des Nartis tatsächlich der Kopf des gesamten Kultes war, aber selbst der eifrigste Sezessionist könnte König Emins Standpunkt in dieser Angelegenheit erahnen.

»Ich danke Euch, mein Lord«, sagte der Mann steif. »Mein Orden verlangt, dass die Beerdigung vor dem Sonnenuntergang durchgeführt wird. Dagegen haben die Priester vielleicht Einwände, aber wenn dies möglich ist, so nehmen wir Euer Angebot mit Freuden an.«

»Sie wird heute Nachmittag stattfinden, wenn ich mit dem König in den Tempel gehe, um ein Opfer zu bringen. Die Beerdigung im Mondlicht ist vorzuziehen, weil Nartis dann anwesend ist, aber ich muss mich ohnehin daran gewöhnen, sein Repräsentant im Land zu sein. Es wird so geschehen, wie Ihr wünscht. Bis dahin entschuldigt mich bitte – wir haben hier viel zu tun.«

»Natürlich, mein Lord. Ihr erweist meinem Bruder große Ehre. Danke.« Der Lordprotektor verneigte sich und wirkte wie eingefallen, nun, da sein Zorn verraucht war. Der Mann, der ging, um zu trauern, war deutlich weniger beeindruckend. Er stützte mit dem einen Arm seine zitternde Mutter, den anderen hatte er um seinen Neffen gelegt, der sich eng an seine Mutter presste.

»Der Körper des Hauptmannes wurde gefunden, nehme ich an?«, murmelte Isak dem kleinen Palastbeamten zu, nachdem Lordprotektor Toquin die Tür der Halle passiert hatte.

»Ich, äh … Das wurde er durchaus, mein Lord, aber er wurde, nun ja, stark verbrannt.«

»Dann holt einen Sarg und nagelt ihn zu, damit niemand die Leiche sieht. Mihn wird Euch begleiten. Bereitet den Körper vor und bringt ihn zum Tempel. Erklärt den Priestern, was vor sich geht und stellt sicher, dass sie auf die Beerdigung des Hauptmannes heute Nachmittag vorbereitet sind. Mihn wird jedem wehtun, der sich Euch in den Weg stellt, und zwar so lange, bis sie ihre Hilfe zusichern. Wenn sie nicht zustimmen, werdet Ihr den Sarg über ihre toten Leiber tragen. Verstanden?«

Wegen der Kälte in seiner Stimme starrte der Diener Isak leicht zitternd an, bis Mihn ihn fest am Arm packte und wegführte.

 

Es wurde später Nachmittag, bis sich Isak und der König aus dem Chaos der Nachwehen der Schlacht befreien konnten. Die Schatten waren bereits länger geworden, als sich eine Reihe von Sänften vom Tempelviertel zum Palast aufmachte, durch die Schreckensstille der Straßen. Soldaten ritten zu beiden Seiten neben den leicht schwankenden Sänften. Isak blickte in die Gesichter derer, an denen sie vorbeikamen: blutverschmiert und ängstlich, müde und verwirrt.

König Emins Herrschaft hatte mehr als ein Jahrzehnt des Friedens für das ganze Königreich bedeutet. Ein stehendes Seeheer hatte sogar die Überfälle der Piraten von den westlichen Inseln abgehalten. Krieg war etwas, das in andern Ländern stattfand.

Jetzt hatten das Gerede vom Erlöser und die Gerüchte über seltsame Vorkommnisse in Ralan, bei denen ein Teil der Stadt abgebrannt war, Narkang wieder eine grimmige Unsicherheit beschert, von der alle inständig gehofft hatten, sie wäre ein Ding der Vergangenheit.

Emin hatte darauf bestanden, dass sie die Sänften für den Weg zum Tempel benutzten, um damit dem Rest der Stadt zu zeigen, dass das ursprüngliche Leben weiterging. Es schien auch zu gelingen, denn die Prozession lockte die Leute trotz ihrer Angst und der Gefahr weiterer Kämpfe aus den Häusern. Selbst mit den Toten im Palast – die Fysthrall, die nicht in der Bresche gestorben waren, waren ihren Schwertern zum Opfer gefallen – blieben noch immer Hunderte verschollen.

Fliehende Söldner versuchten sich in den Gassen und Abwasserkanälen zu verstecken, aber Narkangs Verbrecher, angeleitet von der Bruderschaft, hatten sich ihrer angenommen und ließen die Leichen überall in der Stadt herumliegen. Bisher war Herolen Jex nicht unter ihnen gewesen, aber König Emin blieb zuversichtlich.

Die Ankunft der Verstärkung, die von Magierinnen des Weißen Zirkels aufgehalten worden war, erleichterte die Angelegenheit, aber noch immer waren zu viele Fragen offen. Die erste hatte sich Emin gestellt, als er mit Isak durch den leichenübersäten Garten ging: Warum ist dies geschehen? Heimlich eine Abordnung von Männern zusammenzubekommen, das bewies Organisationstalent und Entschlossenheit. Es musste ein Zweck hinter dem Angriff auf eine so mächtige Nation stecken, aber zu vieles ergab doch keinen Sinn. Emin schloss – weil er keine andere Erklärung fand –, dass der gewaltige Aufwand nur durch Pech fehlgeschlagen war.

Isak entschied sich, nicht zu erwähnen, dass der Sinn seiner Meinung nach keine allzu große Rolle gespielt hatte. Insgeheim dachte er, dass die Prophezeiung die Gedanken an Durchführbarkeit bei der Planung der Fysthrall verdrängt hatte. Vielleicht sogar noch schlimmer: Die Prophezeiung selbst war verdrängt – oder wohl eher pervertiert – worden.

Vor ihnen gab es Unruhe. Isak lehnte sich an den Trägern vorbei, um zu sehen, um was es sich handelte.

Vesna, der neben ihm ging, trat zur Seite, um besser sehen zu können. »Da vorn ist eine Kutsche«, berichtete er.

»Kannst du sehen, wer darin sitzt?«

Eine magische Erschütterung kam aus der Richtung der Kutsche  – nicht angriffslustig, aber es war genug, um eine gewisse Ausstrahlung zu verkünden.

»Eine Frau«, sagte Vesna. »Eine Kapuze verdeckt ihr Gesicht.«

Isak glitt aus der Sänfte und ging wortlos auf die hohe schwarze Kutsche zu, die den Weg versperrte. Anfangs bewegte er sich ungelenk, die Muskeln steif und schmerzend. Er konnte Soldaten sehen, die sich um die Kutsche scharten, mit dem Kutscher und der Dame gestikulierend, die sich aus der offenen Tür lehnte. Ein junger Lieutenant hockte neben der Sänfte des Königs und sprach eindringlich hinein, als Isak vorbeikam.

»Eine Freundin von Euch?« Emin kletterte aus seiner Sänfte, drückte sich am Lieutenant vorbei und gesellte sich zu Isak.

»Ich glaube, ich traf sie gestern in der Arena.«

»Wirklich? Nun, dann könnte ihre Abreise schneller erfolgen, als sie vermutet.«

»Das bezweifle ich. Sie ist mächtiger als ich. Sie hat jedoch beim Palast nicht mitgekämpft. Sie hatte ihre eigenen Gründe, um sich dem Weißen Zirkel anzuschließen.«

Für einen Augenblick zeigte sich eine selten gesehene Überraschung im Gesicht des Königs. Er stellte keine weiteren Fragen, während sie auf die Kutsche zugingen. Die Wachen traten schnell beiseite, froh darüber, dass man ihnen dieses Problem abnahm.

»Ostia.« Ein schmales Lächeln antwortete ihm, Emins extravagante Verneigung hingegen wurde deutlich freundlicher entgegengenommen.

Zhia Vukotic lächelte dem König unter der dunklen Kapuze kokett zu. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme voll und sanft, die Vokale ihrer Silben wirkten in ihrer Rundung kultiviert, geradezu vollkommen. »König Emin, es ist eine Schande, dass wir uns nicht schon früher trafen. Ich hege große Bewunderung für die Art, wie Ihr Eure Stadt regiert.«

»Und doch scheint Ihr sie verlassen zu wollen«, antwortete der König.

Zhias Lächeln wurde unter dem Vorsprung ihrer seidenen Kapuze noch breiter, so breit sogar, dass Emin alles sehen konnte, was er brauchte, um sie zu erkennen.

»Ich würde Euch ja mit Eurem angemessenen Titel ansprechen, aber ich bezweifle, dass Ihr im Augenblick ›Prinzessin‹ verwendet. Darum hoffe ich, dass Ihr mir die Vertraulichkeit verzeiht«, sagte er.

»Mit Freuden. Solchen Schmuck habe ich hinter mir gelassen und die Namen, die man mir heutzutage gibt, sind alles andere als freundlich.«

»Meine Dame, es war der Wille der Götter, Euch so zu schaffen. In dieser Gesellschaft werde ich mich hüten, auf die Natur der Anwesenden zu schimpfen.«

Isak schnaubte über den Vergleich, wurde aber von beiden nicht beachtet.

»Nun, Ihr wart bei der Gestaltung Eures Tagwerks sehr diskret«, fuhr Emin fort. »Ich hatte gar keine Ahnung, dass Ihr in der Stadt seid. Es ehrt mich, dass Ihr meine Politik zu schätzen wisst. Euer Ruf eilt Euch voraus.«

»So wie Euch der Eure. Während ich monatelang die kindischen Spiele des Weißen Zirkels erduldete, wünschte ich mir stets, ich könnte Euch kennenlernen. Ich habe schon seit Jahren keinen lohnenden Xeliache-Gegner mehr getroffen, niemanden, der wirklich etwas von Strategie verstünde. Bedenkt man Euren Aufstieg zur Macht, so solltet Ihr mir eine wirkliche Kurzweil bescheren können, zumindest für eine Weile.«

»Xeliache?«, fragte Isak. Das Wort klang ihm verstörend vertraut.

»Xeliache, der genauere Name für Herzland.« Emin hielt den Blick auf Zhia gerichtet. »Er stammt von den Kernrunen Xeliath, was Herz bedeutet, und Eache, die für das Land steht.«

Die Vampirin lächelte, und dabei lag so etwas wie Sehnsucht in ihren Augen. Isak blickte von ihr zu ihm hinüber, aber sie waren sich seiner Anwesenheit schon nicht mehr bewusst, waren zu sehr von der Aussicht auf einen anspruchsvollen Wettstreit des Geistes gefangen genommen. Darüber war er froh. Die Verbindung von »Xeliath« und »Herz« hatte ihn so verblüfft, dass er kein Wort mehr herausbrachte. Er hatte es nicht vermutet, aber es ergab tatsächlich einen Sinn. Die Fäden seines Lebens verbanden sich – das hätte er ahnen müssen.

»Meine Dame, wenn wir uns das nächste Mal treffen, werden wir gewiss Zeit für ein Spiel finden«, versprach der König.

»Und wenn wir verfeindete Heere führen?«

»Ich bin sicher, Ihr könnt dennoch etwas Zeit erübrigen.«

Zhia lachte, es war ein samtiger, verführerischer Laut. »Meinesgleichen kann stets etwas Zeit erübrigen, das ist wahr. Nun gut, Euer Majestät. Wenn wir uns erneut treffen, dann spielen wir. Ich hoffe jedoch, dass wir keine Feinde sein werden.«

»Aber können wir anderes sein? Ihr werdet die Bienen an meinem Kragen bemerkt haben.«

»Tatsächlich habe ich das. Ebenso wie die Tatsache, dass Ihr sie nicht zu bedecken und mir dadurch ein gewisses Unwohlsein zu ersparen versuchtet. Was die Feindschaft betrifft, diese hängt von anderen ab. Meine Familie wünscht nicht, Euch die Krone zu nehmen, aber wir können nicht für das ganze Land sprechen.«

»Welche anderen?«

»Ach, natürlich habt Ihr davon noch nichts erfahren«, schnurrte Zhia.

Emin kniff die Augen zusammen. Er war sich des Vorteils deutlich bewusst, den sie genoss.

Isak hatte kaum noch zugehört, doch jetzt erkannte er die Wichtigkeit der Neuigkeiten, die Zhia Vukotic bereithielt.

»Ich hörte, der Tempel der Sonne stünde in Flammen. Die Menin sind aus dem Osten zurückgekehrt und Lord Charr ist eilig ausgerückt, um sich zum Kampf zu stellen. Sein Heer wurde aufgerieben und in Thotel waren zu wenige Soldaten verblieben, um es zu verteidigen. Die Stadt fiel im ersten Ansturm. Die Chetse sind unterworfen worden.« Zhia lächelte sie an und zog die Kutschentür zu. »Bis zu unserer nächsten Begegnung, Euer Majestät, Euer Lordschaft.« Sie neigte huldvoll den Kopf und klopfte auf die Kutschenwand.