10

Die scharfen Klingen des Winters, an den zackigen Klippen des Nordens geschliffen, schnitten in den großen Wald der Spinnweb-Berge. Flüsternde Stimmen trugen nachts ruhelos die Erinnerungen an lang vergessene Orte mit sich, während die profanen Worte eines weiteren Zeitalters einmal mehr in den Herzen der Elfen brannten, den verdrehten Nachkommen derer, die von den Göttern für ihre Rebellion verflucht wurden. Dunkle Handel wurden geschlossen, schon bevor die Seher ein silbernes Licht ankündigten, das von Westen her scheinen würde. Die ersten verschlagenen Gestalten kehrten in Siedlungen zurück, aus denen die Farlan sie vor Jahrzehnten vertrieben hatten.
Als sich die Elfen vor ihren Peinigern zurückgezogen hatten, hatte das Fest der Schwerter allmählich die gnadenlosen Jagden ersetzt, die noch vor fünfzig Jahren abgehalten worden waren. Es herrschte Prunk statt Grausamkeit. Nun kehrten die Elfen zurück und fanden die Wachtürme und Festungen der Farlan zerstört oder leer vor, ersetzt durch Farmen und Dörfer, die näher an den kalten Tiefen des Waldes errichtet standen als jemals zuvor. Sie waren dem harten Herbstlicht schutzlos ausgesetzt.
Als ihre ersten Angriffe auf nur geringen Widerstand trafen, wurden sie mutiger und wilder. Der Wind fegte durch zerstörte Heime und trug den Rauch der Feuer meilenweit. Selbst in den Städten, wo sich die Leute in der begrenzten Sicherheit ihrer Steinmauern versteckten, konnte man die Trommeln durch die Nacht schallen und ihre gutturalen Stimmen von Schmerz und Vorherbestimmung singen hören, davon, dass ihre Zeit erneut kommen würde. Der Wind trug den Geschmack von Rache weit ins Land.
»Was meint Ihr mit bestrafen? General Elierl ist kein Kind, das man erziehen muss!« Die Wände erzitterten, als Bahl den Mann anbrüllte, der mitten im Zimmer ruhig vor ihm saß. Isak wurde von der schieren Wucht von Bahls Wut zurückgetrieben, aber das Zentrum der Schelte zuckte nicht einmal. Auf einem niedrigen Stuhl sprach der Mund des Magiers die Worte seines Lords nach und sein haarloser Kopf wippte vor und zurück, als folge er einer Melodie in seinem Innern. Die Bewegung setzte sich noch fort, als der Magier verstummte, den Kopf schräg legte und auf eine Antwort wartete.
»General Elierl wurde der Befehl über Lomins Streitkräfte entzogen«, sagte der Magier nach einer langen Pause. Seine Stimme klang abwesend, ein Echo aus weiter Ferne. Isak lehnte sich wieder vor und musterte den Mann, folgte dessen faszinierenden Bewegungen und versuchte ihren Anteil an dem Ritual zu ergründen. Der Magier fuhr fort, ohne die Leute um sich herum zu bemerken.
Lesarl hatte, als Isak ihn drängte, erklärt, dass die Bewegungen den Magierzwillingen dabei halfen, miteinander in Verbindung zu bleiben. Aber als diese Erklärung nur noch mehr Fragen nach sich zog, hatte es der Haushofmeister aufgegeben. Isak hatte von so etwas noch nie gehört, geschweige denn es gesehen. Und er fragte sich auch, was sonst noch alles hinter den abweisenden Mauern der Akademie der Magie liegen mochte, vor den Augen der allermeisten verborgen und nur denen offenbart, die sich ein solches Wunder leisten konnten.
»Er wurde für seine Verfehlungen bestraft«, lautete die entfernte Antwort des Erben Lomin. Jeder Satz kam stockend, wurde in Stücke gerissen, während ein Magier sie seinem Bruder zuflüsterte. Isak konnte sich ein Gesicht wie dieses vorstellen, bleich und haarlos, das im hohen Turm von Lomin saß und die Worte leise formte, sobald er sie hörte. Vielleicht trugen sie sogar die gleiche Kleidung: eine Tunika mit weitem Ausschnitt, der eine haarlose Brust offenbarte, und die rot-goldene Schärpe der Akademie der Magie um die Taille.
»Ihr habt einen der ältesten und angesehendsten Generäle des Stammes hingerichtet?«
Die Verzögerung bei der Antwort machte Bahl nur noch wütender. Es war kaum zu glauben, dass der junge Mann in Lomin – noch immer nicht der Herzog, gleichgültig wie krank sein Vater sein mochte – wirklich gewagt hatte zu tun, was er gerade andeutet hatte. Bahl lief um den abwesenden Magier herum, bis Lesarl die Hand ausstreckte, um ihn aufzuhalten.
»Mein Lord, die Verbindung wird nicht mehr lange bestehen. Wir brauchen jetzt Neuigkeiten. Was der Junge auch getan hat, es kann warten, bis Ihr vor Ort seid.«
»Das habe ich nicht getan«, unterbrach der Magier langsam und eintönig. »Der General wurde seines Postens enthoben und beging heute Abend in seiner Kammer Selbstmord. Wir betrauern seinen Verlust ebenso wie Ihr.«
Bahl öffnete den Mund, um eine Antwort zu brüllen, aber als Lesarl ihn am Arm berührte, klappte er ihn wieder zu. Er wandte sich an den Begleiter des Magiers, einen in reiche Kleidung gehüllten Mann, der, obwohl er erst in mittleren Jahren stand, auf eine bestimmte Art älter wirkte, so wie die meisten Magier.
Isak bemerkte, dass sein Gesicht eingefallen wirkte. Vielleicht war dies der erste Schritt dahin, so ein verwittertes Wrack zu werden, wie es Hohepriester Wetlen gewesen war. Der Magier nickte Lesarl zustimmend zu und blickte dann ängstlich auf seinen Schützling, während er auf das Zusammenbrechen der Verbindung wartete.
»Erbe Lomin, welche Truppen bleiben Euch noch?«
»Vier Legionen Speerträger und eine Legion Leibwachen in Lomin. Teile von ihnen stehen offensichtlich unter Belagerung in Kohm, bei Burg Shaidec, Vitil und dem Berggipfeltor. Wir haben seit drei Wochen nichts mehr vom Tor gehört.«
»Wo steht der Feind?«
»Der Haupteil hier, soweit wir es sagen können. Sie können noch keine Zeit gehabt haben, die Garnisonen zu überrennen, nicht bei der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegen. Bauern, die hier Zuflucht suchen, berichten von einem Kampf am Geborstenen Fluss vor einer Woche. Unsere Kavallerie muss dort in einen Hinterhalt geraten sein. Seitdem haben wir nichts mehr von ihnen gehört.«
Bahl schüttelte finster den Kopf. Einer Farlan-Armee ohne Kavallerie fehlte ihre größte Waffe. Wenn die Elfen Lomins Reiterei vernichtet hatten, würden sie sich wegen der kleinen Infanterie-Garnisonen hinter ihren Linien keine großen Sorgen machen.
»Könnt Ihr die Mauern halten?«
»Ich überwache die Verteidigung höchstselbst.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
Diesmal war die Pause etwas länger.
»Ja, das kann ich. Sie bereiten Belagerungswaffen vor, aber im Augenblick setzen sie die Trolle noch nicht ein. Unsere Kampfmagier sagen, sie haben jetzt ein gutes Bild vom Feind und können die Mauern aufrechterhalten.«
»Gut. Die Armee reitet in zwei Tagen unter dem Kommando von Lordprotektor Anvee los. Tut nicht noch etwas Dummes, bevor sie eintreffen.«
Als der Magier diese Worte sprach, riss er plötzlich die Augen auf und schnappte nach Luft, dann sank er rückwärts in die Arme seines wartenden Begleiters. Zwei Wachen kamen mit einer Trage herein und brachten den Mann fort, wobei sein Kollege ihnen auf den Fersen blieb. Auf Isak wirkte es so, als hätte man diese Ohnmacht erwartet. Ein seltsames Lebenswerk: in Trance zu fallen, bis man ohnmächtig wird – und doch unbezahlbar für ein verstreutes Volk zu sein.
Erst als sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten, nahm Bahl Platz und sah die anderen Männer im Raum an.
Die Lordprotektoren Tebran und Fordan waren zu dieser Versammlung gerufen worden. Kehed Tebran war ein regelmäßiger Gast im Palast, da seine Ländereien diejenigen Tirahs umgaben. Er wohnte zu gleichen Teilen in seiner Familienresidenz und in den Kammern, die man im Palast für ihn unterhielt. Die besten Ärzte fand man in der Stadt, und Lord Bahl hatte klargemacht, dass seine loyalsten Unterstützer stets auf seine Gastfreundschaft zählen konnten.
Neben Tebran saß aufrecht auf dem Stuhl sein bester Freund Fordan, ein streitlustiger alter Soldat, der vor unterdrückter Wut kochte. In einer Ecke hockten noch auf unbequemen Stühlen sein ältester Sohn und der Nachkomme von Lordprotektor Volah, beide siebzehn Sommer alt, die mit großem Interesse die Vorgänge beobachteten.
»Erbe Tebran, traft Ihr Karlat Lomin im letzten Jahr beim Fest der Schwerter?« Lesarls Stimme durchbrach die brütende Stille und ließ den jungen Mann erschrocken zusammenzucken. Er war hinzugebeten worden, eine sorgfältig berechnete Ehre. Sein Vater hatte sehr deutlich gemacht, dass er und der Erbe Volah, sein bester Freund, ruhig dasitzen und nichts sagen sollten.
»Ich, äh, ich traf ihn kurz, Herr«, sagte er und versuchte sicher und flüssig zu sprechen. »Er sprach länger mit Soh… äh, Erbe Volah, meine ich. Er war mir gegenüber natürlich zu misstrauisch.« Der junge Mann versuchte sich unter Bahls gnadenlosem Blick nicht zu winden und wirkte erleichtert, als der Lord zu seinem Freund hinsah.
»Erbe Volah?«
»Ich ging zu seiner Feier, ja, Haushofmeister. Er gab einen Ball, als sein Vater ihm offiziell die Fackel Lomins übergab.«
»Ein gelungener Ball?«
Isak kannte Lesarl gut genug, um die Schärfe in dieser unschuldigen Frage zu erkennen. Er lehnte sich vor und starrte den Erben weiter an, um ihn noch mehr zu verunsichern. Der Krann und der Haushofmeister waren sicher keine Freunde, aber beide hatten gleichermaßen wenig Zeit für die geckenhaften Adligen der hohen Gesellschaft.
»Ja, hervorragend. Der beste des ganzen Festes.«
»Ich freue mich, dass Ihr Herzog Lomins Eingeständnis seiner tödlichen Krankheit so genossen habt. Ich bin sicher, er tut es nicht. Sagt mir, tatet Ihr auf dem Ball etwas anderes, als zu trinken und zu huren?«
»Ich … wir nahmen an der Jagd teil, Herr, wie alle anderen auch.«
»Also saßt Ihr auf einem Pferd und unterhieltet Euch mit hübschen jungen Mädchen, während Ihr Brandy trankt. Habt Ihr den Wald überhaupt betreten?«
»Lesarl, dafür ist jetzt keine Zeit«, unterbrach ihn Bahl. Er wusste, dass sich Lesarls Fragen in Ewigkeiten so fortsetzen konnten, ohne zu einem sinnvollen Ende zu führen. Isak konnte den erleichterten Ausdruck auf dem Gesicht des Erben Volah nicht übersehen. »Mich interessiert der Tod General Elierls deutlich mehr.«
»Die Herzogin, diese Hexe, muss dahinterstecken!«, platzte es aus Lordprotektor Fordan heraus. »Ich kannte Elierl seit dreißig Jahren. Er hätte sich nicht umgebracht. Dieser kleine Bastard hat ihn vermutlich umbringen lassen, damit er …«
»Genug, Fordan. Ich glaube nicht, dass der Erbe dumm genug wäre, ihn umbringen zu lassen, aber du hast vielleicht recht: den General in den Selbstmord zu treiben, dies bedarf der Mithilfe der Herzogin. Wir werden deswegen jedoch nichts unternehmen.«
»Was?«
»Es gibt andere Dinge, die es zu bedenken gilt. Bitte vertraut mir. Erbe Volah, wenn Ihr eine Gelegenheit findet, Euch mit dem Erben Lomin wieder anzufreunden, dann tut es. Er wird ohne Zweifel einen weiteren Ball feiern wollen, wenn die Armee eintrifft – immerhin reisen selten so viele Adelige so weit nach Osten.
Isak, du wirst dich von Lomin fernhalten. Ich will kein Duell zwischen euch beiden und offen gesagt weiß ich auch nicht, wer von euch der Ungestümere ist.«
Teilweise war das als Witz gedacht, aber Isak verzog nur das Gesicht und sah zu Boden. Seit er vor einigen Wochen versehentlich den Hohepriester getötet hatte, war das Leben so anders geworden. Die Leute bewegten sich jetzt vorsichtiger um ihn herum und fragten sich – wie Isak selbst –, wie gefährlich er wohl wirklich war. Es blieb allen, sogar Isak selbst, der sich nicht mehr an das Ereignis erinnerte, ein Rätsel, was tatsächlich geschehen war. Er erinnerte sich an die Gegenwart des alten Mannes, eine raue, ruhige Stimme in seinem Kopf, und dann nur noch an Schmerz und Licht – und in dem Durcheinander, das darauf folgte, war der Hohepriester gestorben.
Im Augenblick sah es nicht danach aus, als könnte diese Frage überhaupt geklärt werden, aber in der Stadt gingen die wildesten Gerüchte darüber um, welche seltsamen und schrecklichen Kräfte der Krann besäße. Das ursprüngliche Ziel, etwas Kontrolle über die Magie zu erlangen, war vollständig fehlgeschlagen. Jetzt gab es etwas anderes, auf das sich seine Frustration und seine Wut konzentrieren konnten. Heimliche Nachforschungen in der Bibliothek des Palastes hatten offenbart, dass das Symbol auf seiner Brust eine Elfenrune war. Elfisch verstanden aber nur die Gelehrten, obwohl es die Grundlage und gemeinsame Wurzel aller Sprachen des Landes war. Das Elfische baute auf einhundertundzwanzig Kernrunen auf, die alle, abhängig vom Zusammenhang, mehrere Bedeutungen besaßen. Für sich genommen waren es einfache eckige Formen, doch wenn es einzelne Worte waren, erschienen sie in einem Kreis. Die Schriftrolle, die Isak am ehesten verstanden hatte, hatte ausgesagt, sie würden ein generelles Konzept oder eine Idee darstellen, im Falle seiner Rune war es »Herz«, aber, so hatte Isak missmutig feststellen müssen, sie konnte auch für den Kern eines Pfirsichs, den Kernpunkt eines Streites oder den Geist einer Nation stehen.
Einen Grund dafür, warum die Rune in seine Brust gebrannt wurde, fand er nicht, und bis er das nicht herausfand, hatte Isak auch nicht vor, irgendjemandem davon zu erzählen. Stattdessen war er zur Palastschmiede gegangen, wo der Meisterschmied gerne bereit gewesen war, dem Krann beizubringen, wie man ein Schwert schmiedete. Eines von elfischer Machart, die viel zu komplex und zeitaufwendig war, um eine Armee damit auszustatten, aber günstig, um den Krann zu beschäftigen und von nervösen Soldaten und Palastangestellten fernzuhalten. Das Ergebnis war eine lange, einschneidige Klinge, die gänzlich anders als ein Rapier ausbalanciert war. Kerin hatte es sofort angenommen und sich darangemacht, die Waffe zu meistern. Er war wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug.
Isak schüttelte die Erinnerungen ab und passte wieder auf, als Bahl sagte: »Lesarl, stelle sicher, dass die Armee in zwei Tagen abmarschbereit ist – nimm alles, was wir bis dahin zusammenbekommen. Und sende Reiter zu jedem Lordprotektoren aus, der noch dazustoßen kann.«
»Ihr reitet nicht mit uns?«, fragte Lordprotektor Fordan. Er war ein Großvater und weit über das Alter hinaus, in dem man von ihm erwarten konnte, zu kämpfen, geschweige denn, sich einem Gewaltmarsch im Winter anzuschließen. Aber dennoch gab es keinen Mann in Tirah, der anzudeuten gewagt hätte, er käme nicht mit.
»Es gibt einen Vampir in der Stadt. Ich habe nicht vor, ihm die Chance zu geben zu fliehen, bevor wir ihn gefangen haben.«
Die Neuigkeit verwunderte Isak und die jungen Erben, aber die älteren Männer hatten all dies früher schon einmal gesehen. Ihre Züge zeigten starkes Interesse. Sie kannten das Katz-und-Maus-Spiel gut, mit dem man einen Vampir fangen musste.
Als inoffizieller Kommandant der Wache stand Kerin auf, um sie alle ins Bild zu setzen. Der Schwertmeister räusperte sich und zog das Schwert an seiner Taille in eine bequemere Position. »Wir hatten seit mehreren Jahren immer wieder einmal Tote zu beklagen«, sagte er, »aber es gibt kein Muster und keine Regelmäßigkeit, darum ist es so lange nicht aufgefallen. Die Wache ist der Aufgabe nicht gewachsen, eine ganze Stadt wirksam zu überwachen.« Er machte eine kleine Pause und warf Lesarl einen Blick zu, den dieser völlig ignorierte. Dann sprach er weiter: »Es ist nicht die gleiche Kreatur wie beim letzten Mal, die uns bedauerlicherweise entwischt ist.«
Tebran nickte. »Nun, was soll ich sagen? Der Mann war ein betrunkener Dummkopf«, murmelte er und hob seinen Krug, um auf seinen Vater zu trinken, der die Neuigkeit eines Abends in der Taverne ausplauderte und das Monster so zur Flucht trieb.
Der Schwertmeister lächelte und fuhr fort: »Ganz sicher, aber diesmal ist der Vampir klüger. Darum haben wir Euch nicht eher davon berichtet, Lord Isak. Der Letzte wäre eine passende Herausforderung für Eure wachsenden Fähigkeiten gewesen, aber es steht zu befürchten, dass dieser mächtiger ist. Lord Bahl ist unser einziger Magier, der in der Lage ist, so einen allein zu jagen.«
Isak nickte und war dankbar dafür, dass Kerin Isaks Unfähigkeit nicht vor Leuten breitgetreten hatte, die er in den Kampf führen sollte.
»Ich bleibe so lange, wie man mich hier braucht, dann folge ich euch«, erklärte Bahl und sah Isak scharf an. »Lass dir nicht einfallen, die Kreatur auf eigene Faust zu suchen, auf dich wartet genug Gefahr in Lomin. Bis dahin darfst du den Palast nicht ohne eine Abordnung Geister verlassen. Ich will nicht, dass du da hineingezogen wirst.«
Zwei Tage später saß Bahl in seinen persönlichen Räumlichkeiten und bemühte sich, die Benommenheit des Schlafes abzuschütteln. Der Versuch, eine Schüssel von mit Honig gesüßtem Hafer zu essen, war zu viel für ihn und er sank zurück an die Stuhllehne, wobei er auf Betriebsamkeit hinabsah. Der durch das offene Fenster wehende Wind half zwar etwas, aber seine Erschöpfung hatte eine unnatürliche Ursache: Er hatte den Großteil der vergangenen Nacht damit verbracht, seine Seele durch den Himmel brausen zu lassen. Ein Sturm hatte über Lomin getobt und Bahl war mit ihm gereist und hatte so viel Kraft, wie er nur aufbringen konnte, gegen die Belagerer gerichtet. Der alte Lord erschauderte bei der Erinnerung an das berauschende Gemisch von Lust und Angst, das er verspürte, als sich seine erhebliche magische Macht mit den gewaltigen elementaren Kräften vereinigte.
Es war unglaublich anstrengend, einen Sturm zu beherrschen, und er konnte nicht einmal sagen, ob es gelungen war – die Entfernung und Stärke des Sturmes waren zu groß, um auch nur mehr als einen notdürftigen Eindruck von dem zu erlangen, was geschehen war. Aber es war immerhin eine nützliche Fähigkeit. Bahl vermutete, dass Isak sogar noch besser darin sein würde als er selbst. Der Jungspund besaß eine Wildheit, die zum Reiten auf dem Sturm passte.
Bahl hatte aus Schuldgefühlen mit diesem Sturm gespielt. Der wirkliche Grund dafür, dass er nicht mit der Armee zog, hatte weniger mit dem vermuteten Vampir zu tun – obwohl das auch stimmte –, sondern mit dem Tod eines Freundes, wie Lesarls wissende Augen erkannt hatten. Die Langlebigkeit eines Weißauges bedingte, dass sie im Allgemeinen wenige Freunde besaßen. Aber die wenigen, die er hatte, hielt Bahl in Ehren. Er war beim Tod derjenigen, die er am meisten geliebt hatte, nicht anwesend gewesen, darum hatte er beschlossen, diejenigen, die ihm am meisten bedeuteten, nicht mehr allein sterben zu lassen. Der Abt eines nahe gelegenen Klosters war ein solcher.
»Und doch stört es meine Pflichten meinem Volk gegenüber«, murmelte Bahl vor sich hin. »Die Zeiten sind noch immer so unsicher, was werden sie denken, wenn ich nicht mit in den Kampf ziehe?« Wie als Antwort auf seine Frage stiegen die Schriften eines Kampfmönchs, der schon seit Jahrhunderten tot war, in seinem Geist auf: Zweifel vernebeln die Ziele, im Kampf wie im Leben. Kein Schwertmeister ist ohne Entschlossenheit und gezielte Bewegungen ganz und gar ein Schwertmeister.
Bahl nickte müde. Sein Geist wollte sich nicht von diesem Punkt lösen, also musste er die Schuld abwerfen. Es würde ihm nichts nützen, seine eigenen Taten anzuzweifeln, dafür gab es genug andere.
Ihn beunruhigte die seltsame Strategie der Elfenarmee. Es war doch unverständlich, dass sie mit Beginn des Winters angriffen. Ihre Eile, Lomin zu belagern, vertiefte das Rätsel noch weiter. Gab es da etwas in Lomin, das sie haben wollten, oder war der Grund für ihren Angriff viel weniger greifbar? War die Belagerung vielleicht durch eine undeutliche Prophezeiung oder eine Fehde zwischen Elfenhäusern oder doch durch etwas, das noch mehr Besorgnis erregte, ausgelöst worden?
»Verdammt, Isak, warum kommen diese Elfen? Hast du das auf uns herabbeschworen?« Jetzt fühlte er sich wegen seiner Gedanken schuldig. Zum ersten Mal hatte er die Worte ausgesprochen, von denen er wusste, dass auch Lesarl sie dachte. Es war vielleicht eine ungerechte Anschuldigung, aber eine sehr wahrscheinliche Möglichkeit.
Bahl kämpfte sich auf die Füße und trat zu dem langen Tisch in der Raummitte hinüber. Der Schlaf würde noch warten müssen. Auf dem Tisch lagen zwei säuberlich gefaltete und geglättete Lederunterkleider, eines nach Isaks jetzigen Maßen geschneidert und das andere nach einer Schätzung davon, wie groß der Krann in einigen Wochen sein würde – was zwischen Bahls Größe und Isaks augenblicklicher Gestalt lag.
Der Schneider war zwar überwältigt gewesen, als Lord Bahl in seinem Laden eines Abends selbst auftauchte, aber es war eben notwendig. Isak wuchs in erstaunlicher Geschwindigkeit. Er war bereits deutlich größer und schwerer als zu dem Zeitpunkt, als er hier angekommen war, und der Schub hörte nicht mehr auf. Die Wachstumsschmerzen verbesserten die Laune des jungen Mannes nicht, aber der Nutzen war offensichtlich.
Was die Rüstung anging, die auf dieses Leder gehörte, so würde sich das schon fügen, vermutete Bahl. Die Elfen der alten Zeit waren von Kasi Farlan begeistert gewesen, der Modell für alle Weißaugen gestanden hatte, weil er ihnen in Größe und Können ebenbürtig gewesen war.
Bahl nahm die Bündel auf und steckte sie unter den Arm. Er ging auf die Tür zu, zögerte und nahm sein gewaltiges Breitschwert aus dem Ständer neben der Feuerstelle. Beim Anblick der Waffe, die von ihrem Erschaffer Weißer Blitz genannt worden war, fragte er sich, ob es vielleicht noch nicht einmal Eolis schaffen würde, ihn von seinem brutalen und uneleganten Schwert wegzulocken. Die breite, beidseitige Schneide bildete am Griff Spitzen aus, die es eigentlich zu schwer hätten werden lassen sollen, aber die Magie darin verhinderte dies. Er besaß es schon so lange, dass er sich nicht vorstellen konnte, mit einer anderen Waffe in den Kampf zu ziehen.
Er ging zu Isaks Räumlichkeiten hinunter, wo er die Wache im Gang einmal anklopfen ließ, um ihn anzukündigen. Und dann trat er ein.
Als Bahl hereinkam, erhob sich Isak hinter seinem Schreibtisch, auf dem eine Vielzahl aufgeschlagener Bücher lag. Lady Tila saß auf der Seite und sprang unmittelbar nach Isak auf. Bahl bemerkte ihren Gesichtsausdruck und seufzte innerlich. Es sah so aus, als würde sie sich schnell mit dem Krann anfreunden. Vielleicht war da auch mehr, daran gemessen, wie nah sie sich saßen. Er bemerkte, dass sich ihre Finger fest um das Emaille-Wappen geschlossen hatten, das ihre Schärpe am Gürtel hielt. Offenbar erstreckte sich die Zuneigung des Mädchens nicht auf alle Weißaugen.
Bahl warf Isak das Bündel zu, der es wie ein Hund, der einen Knochen fing, aus der Luft fischte. Die gemeinsamen Wochen hatten eine Art unsicherer Vertrautheit entstehen lassen. Beide achteten darauf, sich dem anderen nicht aufzudrängen, doch es war allmählich eine unausgesprochene Sympathie zwischen ihnen entstanden.
Isak vergaß seine Bücher, legte das Bündel darauf und riss mit glänzenden Augen die Leinenverpackung auf. Er hielt die Unterkleidung hoch, um sie zu begutachten.
»Es wird Zeit, dass du deine Geschenke in Empfang nimmst.« Lord Bahls Stimme klang ungewöhnlich volltönend, darum blickte Isak eilig auf.
»Also ist es eine Rüstung?« Er wirkte, als wollte er weitere Fragen stellen, hielt sich aber im Zaum.
»Eine Rüstung«, bestätigte Bahl. »Und obwohl ich vermute, dass du dich fragst, warum du deine Geschenke erst jetzt bekommst, wird die einzige Antwort, die du von mir darauf bekommst ein ›Darum‹ sein.« Er lächelte etwas über Isaks Gesichtsausdruck. »Sicher nicht die Antwort, die du erhofft hast, das verstehe ich schon, aber an solche Dinge wirst du dich bald gewöhnen. Die Handlungen der Götter sind nicht zu bezweifeln. Manchmal ist es einfach nur eine Frage des Glaubens.«
Er sah keinen Anlass, dem Jungen mitzuteilen, dass Lesarl und er sich mehr Zeit hatten verschaffen wollen, um ihn auf seine Geschenke vorzubereiten.
»Es gibt die Unterkleidung zwei Mal. Die andere ist größer, du kannst hineinwachsen. Wenn du zurückkehrst, wirst du sicher schon wieder eine neue brauchen. In einer Stunde führst du die Armee aus der Stadt, also komm schnell.«
Ohne ein weiteres Wort rollte Isak die Unterkleidung wieder auf und reichte das andere Paket Tila. »Kannst du dies zu meinem Gepäck legen und sicherstellen, dass alles bereit ist, wenn ich wiederkomme?«
Bahl sah, wie sich ihre geröteten Lippen leicht öffneten. Sie wollte schon etwas darüber sagen, traute sich in seiner Anwesenheit aber nicht. Wären sie allein gewesen, sie hätte vermutlich gebeten, Isak begleiten zu dürfen. Das war ein schlechtes Zeichen. Der ansteckende Humor des Jungen hatte das Mädchen stärker angezogen, als es für sie beide gut war.
Nach einer winzigen Pause senkte Tila zustimmend den Kopf, brachte einen schnellen Knicks zustande und floh aus dem Raum. Es war offensichtlich, dass sie um Isak bangte, weil er in seinen ersten Kampf zog, und sie tat recht daran. Der Junge war übermütig und unerfahren, aber jeder Soldat musste nun einmal seinen ersten Kampf durchstehen, und auch bei Isak würde es nicht anders sein. Auch er mochte, wie jeder Soldat, als ein veränderter Mann zurückkehren. Bahl aber war etwas besorgt über die Art der Veränderungen.
»Gehen wir unter die Erde?«
»Ja. Lass Kerins Adlerklinge hier. Ich denke, wir finden etwas Besseres für dich.«
Isak grinste. Er wirkte nervös und aufgeregt, und hatte auch guten Grund dazu, denn durch die Veränderungen, die Nartis in den letzten Wochen in ihm hervorgerufen hatte, war er größer und stärker geworden. Er war nun so groß wie General Lahk, schon zwanzig Stein schwer und stark genug, um einen ausgewachsenen Mann mit den bloßen Händen zu töten. Seine Geschenke würden ihn auf ein Niveau heben, das kein gewöhnlicher Soldat jemals erreichen konnte. Seine Schnelligkeit und Stärke würden sogar die Kräfte eines normalen Weißauges übersteigen – und das schon ohne die Zauber, die in das Metall eingearbeitet waren.
»Dein Schild?«
Isak lehnte sich über den Schreibtisch und zog den Schild aus dem Fußraum. Bahl zog die Stirn kraus, als er ihn sah und griff mit den Sinnen erneut nach dem glänzenden Silber. Er konnte den Zauber darin noch immer nicht deuten, obwohl er gar nicht komplex war. Aber genau diese Einfachheit verwirrte ihn.
»Kannst du irgendeine der Runen darauf lesen?«
»Da sind keine.« Isak hielt den Schild hoch, damit Bahl es selbst sah, hielt ihn dabei aber fest. Bahl machte keine Anstalten, ihn zu berühren, während er die Oberfläche untersuchte.
»Auf beiden Seiten nicht?«
Isak drehte ihn, um seinem Meister die Innenseite zu zeigen. Da stand nichts geschrieben, nicht einmal auf die Lederriemen für die Arme.
»Ich habe in der Nacht, als ich ihn bekam, von einer Rune geträumt. Tila brachte mir ein Buch, in dem man die Runen nachschlagen kann.«
»Die Runen?«
»Es … es war von vielen Runen in dem Buch die Rede. Es war eine Kernrune, die so etwas wie ›Vereinigung‹ oder ›Verbindung‹ bedeutete.«
»Ah.« Bahl zog sich vom Schild zurück und mit einem Mal dämmerte es ihm, als er sich an den magischen Faden erinnerte, der an jenem Tag durch die Kacheln der großen Halle gesickert war. »Das ergibt einen Sinn – auch wenn ich annehme, dass machnes darin ein Rätsel bleiben wird.«
»Warum? Was ergibt einen Sinn?«
»Am besten siehst du es selbst. Komm.«
Die beiden stiegen nebeneinander die Haupttreppe hinab. Das Chaos der Vorbereitungen für den Abmarsch der Armee fehlte hier seltsamerweise. Die schnellen Schritte und gerufenen Befehle klangen weit entfernt, hinter dicken Steinwänden.
Als sie sich dem Fuß der Treppe näherten, begegnete ihnen ein eiliger Soldat in der Uniform Tirahs, der sich gerade auf dem Weg zu den Kammern seines Lords befand. Von den beiden Weißaugen überrascht rannte er versehentlich gegen eine Wand und drückte sich dann ganz eng daran, um ihnen Platz zu machen. Sobald sie vorbei waren, lief er wieder los und sie hörten seine Schritte auf der Treppe pochen, als er sich auf den Weg zu den Räumlichkeiten seines Lordprotektors machte.
Im Keller des Turms war es kalt und feucht. Da keine Feuer brannten, fühlte es sich wie ein Verlies an. Seit man die Elfenarmee bemerkt hatte, war der Ruf der Geschenke Isaks noch lauter geworden. Bahl war sicher, dass auch Isak es gefühlt hatte. Mehr als einmal hatte er am Fuß des Turms herumgelungert, statt in der großen Halle zu frühstücken.
Isak zog in der klammen Luft sein Hemd enger um sich, wodurch die Drachenbrosche in einen seltsamen Winkel gedreht wurde, mit dem Kopf nach unten, als wühle er sich durch den Boden. Es erinnerte Bahl daran, dass er schon seit sechs Monaten nicht mehr mit der Kreatur gesprochen hatte. Er hatte also keine Ahnung, wie sie auf Isaks Anwesenheit reagieren würde.
Der Zyklus eines Drachens bestand aus langen Zeiträumen der Ruhe und des Schlafens und dann – während der Paarungsrituale – aus etwa einem halben Jahrhundert der Zerstörung und des Schreckens. Im Austausch für einen sicheren Unterschlupf hatte Bahl das Versprechen bekommen, im Kampf Unterstützung zu erhalten, und dass die Zerstörung weit jenseits aller Farlan-Gebiete stattfand. Es war ein seltsamer Handel, aber die Kosten, einen Drachen zu ernähren, waren deutlich geringer als die, eine stehende Truppe zu unterhalten, die ihm gewachsen war.
Sie stiegen weiter nach unten, tief in den Schoß der Erde hinein, weit entfernt von neugierigen Augen. Da Isak nun an die Magie des Turms gewöhnt war, schätzte er die Entfernung auf die halbe Turmhöhe – ein langer Weg für eine Schatzkammer. Als er dies laut aussprach, erntete er nur ein freudloses Schnauben als Antwort.
Es war jetzt stockduster und Isak konnte gar nichts sehen, nicht einmal die Hand vor Augen, bis Bahl einige Worte murmelte. Isak nahm den schmutzig-sauren Geruch von Magie wahr und dann erschien ein Feuerball in Bahls Hand. Obwohl die Worte zu leise gesprochen worden waren, als dass Isak sie überhaupt hätte verstehen können, stiegen sie nun aus seinem Gedächtnis auf. Es war einer der vielen Zauber, die sich Isak in den letzten Wochen eingeprägt hatte, die ihm aber einfach nicht gelangen.
Sie befanden sich in einer Höhle, einem ausgehöhlten Bereich etwa drei Meter hoch und breit. Die unfertigen Wände wiesen auf die Werkzeuge hin, die man zum Ausheben benutzt hatte. Die Flamme spendete gerade genug Licht um zu sehen, dass nicht einmal ein Fackelhalter an der Wand hing. Bahl führte ihn durch ein Loch in der Wand in einen sich windenden Tunnel, in dem sie hintereinander gehen mussten. Isak folgte Bahl und fragte sich, wo man ihn hinbringen würde.
Er versuchte erneut eine Unterhaltung über etwas anzustoßen, das ihm schon lange im Kopf herumging. »Mein Lord?«
»Hmm?«
»Was werde ich tun, wenn wir aus Lomin zurückkehren?«
»Du bist der Krann, tu was du willst.«
»Das meine ich nicht. Wenn ich mich im Kampf bewiesen habe, wenn ich Gaben wie die Euren besitze, was soll ich dann mit meinem Leben anfangen?«
Isak wusste, dass dies eine seltsame Frage war, aber in einer Nation voller festgelegter Rollen konnte er einfach keine finden, die er zu erfüllen vermochte. Zumindest nicht bis er der Lord der Farlan wurde, und das dauerte noch lange.
Bahl blieb stehen, aber seine Miene verbarg sich unter der Maske. »Was sollst du mit deinem Leben anfangen? Eine gute Frage, schätze ich.« Er ging gleich wieder los. »Du bist ein Lordprotektor. Du hast Ländereien und Besitztümer zu verwalten. Allein diese in Ordnung zu bringen kann Jahre dauern. Lesarl wird dir Listen aushändigen, die zum Besitz des Lordprotektors in Anvee gehören. Ich vermute, dass du eine ganze Reihe von Vertreibungen, Mietforderungen und Absprachen durchzuführen haben wirst. Das Getreide, das auf deinem Land wächst, gehört nun dir, wer es auch immer angepflanzt haben mag, deine Adeligen werden die Grenzen neu gezogen haben, dein Herrschaftssitz wird verfallen sein, deine Leibeigenen müssen gezählt werden …«
»Oh, mit Papierschnipseln herumspielen, Land vermessen, Geld zählen.« Isak konnte die Langeweile nicht verbergen.
»Jagen, Beizjagd betreiben, deine Magie üben, Pferde züchten, alte Aristokraten herumschubsen und ihre unschuldigen Töchter verführen. Ich vermute, du wirst es genießen. Man kann einen Büttel für die Verwaltungsarbeit einstellen. Hast du mehr erwartet?«
»Ich glaube …« Isak klang nun etwas schüchtern. »Nun, ich habe mich gefragt, ob Ihr mich auf diplomatische Missionen schicken würdet.«
»Du? Ein Diplomat? Was für ein interessanter Gedanke.« Isak lächelte bei Bahls Tonfall und war für jede Ungezwungenheit zwischen ihnen dankbar.
»Es wird hier sicher viel geben, womit du dich beschäftigen kannst, wenn du es willst, aber unsere Beziehungen zu anderen Staaten sind sehr begrenzt. Wir sind schlichtweg zu mächtig, als dass sie uns angreifen könnten – und die Handelsvereinbarungen stehen bereits. Darum wäre deine hauptsächliche offizielle Aufgabe, an den Grenzen zu patrouillieren und Plünderer abzuhalten.
»Und wenn …«
Weiter kam Isak nicht, denn Bahl unterbrach ihn: »Ein anderes Mal. Wir sind jetzt da.«
Isak bemerkte, dass er seine Schritte nicht wie geplant gezählt hatte, aber sie mussten wohl mehr als einhundert Meter hinter sich gebracht haben. Nach weiteren zwanzig Schritten blieb Bahl vor einem Türrahmen stehen, der in den Fels geschlagen worden war: scharfe, unregelmäßige Kanten mit einem kaum wahrnehmbaren grünen Schimmer.
Unterwegs war sich Isak mehr und mehr der Gegenwart von Magie bewusst geworden, den Geruch erkannte er aber nicht wieder. Der Gestank von feuchtem Stroh, Tierdung sowie ein stechender scharfer Geruch wurden stärker, als er Bahl hinein folgte, ebenso wie die Magie in der Luft. Hier gab es mächtige Ströme von Energie, aber sie bauten sich nicht auf, sie wurden aus irgendeinem Grund von diesem Ort angezogen, vermutlich von seinen Geschenken. Der Geruch von Dung jedoch verwunderte ihn; er war nicht ganz wie in einem Stall oder einem Schlachthaus, aber doch ähnlich durchdringend.
Als Isak die Größe des Raumes bemerkte, blieb er stehen. Dies war eine gewaltige Höhle, die sich tief in die Dunkelheit erstreckte, nicht die Schatzkammer, die er erwartet hatte. Der matte grüne Schimmer, der die Wände und den unebenen Boden beleuchtete, wies auf keine erkennbare Quelle hin, mit Ausnahme der überall herumschwirrenden Magie. Die Höhle war nicht gleichmäßig, die Decke senkte und hob sich nach Belieben und der Boden hob sich zur Mitte hin zu einer Gruppe von dicken, quarzbesetzten Säulen. In die Seitenwand waren zwei große Löcher geschlagen worden, vermutlich Tunnel, die zu weiteren Kammern führten. In einem Durchgang lagen große Gesteinsbrocken.
»Wo sind wir? Was ist das für ein Ort?«, fragte er flüsternd.
»Hier verwahre ich einige der Artefakte, die Atro über die Jahre gesammelt hat. Wir können sie nicht im Palast aufbewahren, aber auch nicht zerstören, denn sonst müssten wir fürchten, die darin gefangene Magie zu befreien – aus diesem Grund ist die Elfenbrache tatsächlich eine Brache: Dort fand der Große Krieg statt und gewaltige Mengen unkontrollierter Magie vergifteten den Boden.«
»Das ist alles? Aber dies ist eine Höhle, und ich kann dort unten etwas spüren. Götter, lebt dort unten etwas? Was spüre ich da nur?«
Isak verstummte und versuchte einen Sinn in die Dinge zu bringen, die er riechen und fühlen konnte, dann schnappte er nach Luft, als er das uralte Gefühl erkannte, das in einigen Teilen des Palastes verharrte, wie die Anwesenheit von Äonen, aber lebendig und vernunftbegabt und auch erschreckend mächtig.
Bahl antwortete nicht, sondern wies auf den erhobenen Teil des Bodens, wo Isak im dunklen Bereich zwischen den Säulen einen länglichen Felsbrocken erkennen konnte. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er einen glatten Bogen auf dem unebenen Stein, der zu einem Schwanz wurde, einem großen und geschuppten Schwanz mit einer dicken säbelartigen Spitze. Isak fiel die Kinnlade herunter. Ohne Vorankündigung wurde der Schwanz ins Dunkel gezogen und dann erklang ein kaltes Kratzen von dem länglichen Fels her, auf den Bahl gezeigt hatte. Er bewegte sich vorwärts, und dabei bewies das Klackern von Klauen auf Stein und das Scharren des Schuppenschwanzes auf der rauen Oberfläche, dass er lebendig war.
Willkommen, Lord Isak.
Die Worte erzeugten ein Echo in seinem Kopf und schlugen aneinander, wurden mächtiger, bis Isak überrascht zurückwich.
Habt keine Angst. Ich versprach Lord Bahl, keinen seiner Untertanen zu verspeisen. Ich bin Genedel.
Nun schob sich ein Kopf langsam und gemächlich aus den Schatten herunter. Er war fast zwei Meter lang und ein Hornkamm zog sich von der Oberseite des Kopfes nach hinten. Dieser wurde von zwei großen, nach hinten gebogenen Hörnern flankiert, die selbst noch einmal zwei Meter lang waren. In der breiten Schnauze befanden sich mehrere Reihen schimmernder Zähne. Hervorstehende Nüstern durchbrachen die runde Form und ein paar stoßzahnartige Hörner wiesen aus der Gegend hinter dem Knochenkamm nach vorn und reichten beinahe bis zur Schnauzenspitze. Dahinter lagen zwei große Augen, die im Dunkel des Untergrundes tiefrot schimmerten. Vom Rest des Körpers war nur die Silhouette zu erkennen. Isak vermutete auf beiden Seiten zusammengefaltete Flügel und einen recht schlanken Körper auf breiten, krallenbewehrten Beinen.
»Äh …«, antwortete Isak benommen. »Und wie steht es damit, sie zu verbrennen?« Als er die Worte ausgesprochen hatte, bemerkte er, dass er einem Drachen gegenüber gerade schnippisch gewesen war, der sich zudem keine drei Meter von ihm entfernt befand. Er könnte ihn vermutlich verbrennen, ohne sich dazu überhaupt bewegen zu müssen.
Das habe ich nicht versprochen.
»Oh.«
Aber man soll nicht sagen, Drachen hätten keinen Humor.
Isak biss die Zähne aufeinander, aus Angst, dass er weiterplappern und das Monster dadurch verärgern könnte. Das wollte er nicht erleben.
Eure Geschenke, junger Krann. Ihretwegen seid Ihr doch gekommen?
»Ich … ja. Wir reiten noch zur Stunde nach Lomin.«
Euer erster Kampf. Er wird Euren Männern Eure wahre Natur offenbaren. Anhand seiner werden sie Eurer gedenken, obwohl ich kaum glaube, dass Euch jemand vergessen könnte. Nehmt den östlichen Tunnel und Ihr werdet finden, was nach seinem Meister ruft.
Isak blickte in die undurchdringlichen Züge des Drachen und dann auf die beiden Tunneleingänge. Östlich, nicht links oder rechts. Für einen Augenblick versuchte er sich vorzustellen, wo im Palast Osten lag, und dann zu ergründen, in welche Richtung sie gegangen waren. Doch dann erinnerte er sich, wo er war und was er hier suchte. Während er langsam auf die Tunnel zuging, spürte er das Drängen seiner Geschenke stärker als jemals zuvor. Das Knirschen von Steinsplittern und Dreck unter seinen Füßen hallte von den Wänden wider und klang sogar lauter als sein Herz, das in der Brust hämmerte.
Als er den Tunnel erreichte, sah er sich kurz um. Die Last von Genedels Gegenwart erzeugte ein Brennen in seinem Nacken, das er nicht übergehen konnte. Bahl trat näher zu dem Biest, bis er nur noch wenige Meter von einem der Stoßzähne entfernt war und beobachtete ihn. Mit einer einfachen Kopfbewegung könnte der Drache – Genedel – Lord Bahl aufspießen. Es erschien sogar für den berühmten weißäugigen Helden, den Lord der Farlan, unmöglich, eine solche Kreatur töten zu können, trotz all der Sagen, die eine solche Tat weit geringeren Männern zuschrieben.
Isak riss sich von seinem Herrn los und konzentrierte sich auf den Geruch der Magie. Er wandte sich dem linken Tunnel zu und musste sich nach fünf Metern ducken, weil die Decke plötzlich niedriger wurde. Der Tunnel machte einen Schwenk nach rechts und dann öffnete er sich auf einen schalenförmigen Raum. An der Rückseite befand sich auf Hüfthöhe ein flacher Vorsprung. Isak blieb schaudernd im Eingang stehen, gefangen im Anblick der Gegenstände, die sich vor ihm befanden. Man musste ihm nicht sagen, was es war. Man konnte Gegenstände, die fortwährend in Mythen erwähnt wurden und solche Macht ausstrahlten, nicht leicht verwechseln. Er sank beinahe auf die Knie, als er sie erblickte. Nur das Echo dieser Kraft in seinem Schild hielt ihn auf den Beinen.
Die dunklen Linien des Raumes schmolzen dahin. Er sah nur noch die silbernen Rundungen Siulents, traumhaft schön, obwohl sie in ihren Einzelteilen ausgebreitet lag. Jede einzelne Platte, jedes feine Gelenk wäre für einen Handwerker eine Freude gewesen. Die Linien eines jeden Stücks folgten der muskulösen Form eines Kriegerkörpers, aber mit einer leichten Grazie, die beinahe unmenschlich war. Der Helm bestand aus einem Stück. Als er ihn anhob, um ihn zu betrachten, zeigten die fast glatten Züge eine abstrus verzerrte Spiegelung von Isaks Gesicht. Es wirkte wie eine spiegelnde Version von Bahls Maske, doch sie würde sich dem Gesicht des Tragenden nicht anpassen. Zwei Grate liefen bis zur Hinterseite und kalte, leere Augenhöhlen prangten darin, die Isak an den Drachen in der Kammer hinter ihm erinnerten, oder an die Klapperschlange, die er einmal getötet hatte – reptilisch, schmal und elegant, mit tödlicher Absicht.
Isak verdrängte dieses Bild und wandte sich dem Schwert zu. Er legte die Finger um den beidhändigen Griff von Eolis, das fest in blütenweiße Seide gewickelt und mit einem grünen Schmuckfaden umwunden war, der aus dem großen Smaragd im Griff hervorging. Sechs silberne Klauen umfassten den Smaragd sicher. Der Parierschutz war ein rundes Stück Elfenbein, das mit der Klinge selbst verbunden zu sein schien.
Während Isak die Klinge bewunderte, erkannte er, dass seine schlechte Arbeit, die Kerin für sich beansprucht hatte, nichts weiter war als das Echo von Eolis’ Berührung in seinem Geiste. Der Schmied hatte das Schwert zwar aufrichtig gelobt, aber Isak wusste jetzt, wie wenig es dem Vorbild gerecht wurde.
Das Gewicht der Klinge war kaum zu spüren, doch als er Eolis durch eine Reihe von Formen führte und auf das sanfte Zischen lauschte, mit dem es die Luft zerteilte, spürte er eine Stärke in seinem Arm aufwallen. Isak erkannte, dass diese Klinge sogar die Felsstücke auf dem Boden von Genedels Kammer durchtrennen könnte.
Eine grobe Lederscheide – nach Farlanart aus einfachem schwarzem Leder – lag daneben, vermutlich von Lord Bahl oder Lesarl für ihn hier hinterlegt. Eilig zog Isak die Stiefel und das Hemd aus, um die Unterkleidung anzulegen, die Bahl ihm gegeben hatte. Er zögerte, bevor er Siulents erneut berührte, aber als er die Rüstung an seinen Körper anpasste, spürte er ein Hochgefühl aufwallen, das größer wurde, je mehr Teile er anlegte. Das Silber wurde irgendwie verführerisch und beinahe flüssig, als er die Glieder bewegte, um die Bewegungsfreiheit zu ergründen. Und noch bemerkenswerter war, dass keine Lücken zwischen den Platten mehr zu sehen waren. Es blieb nur eine ununterbrochene Linie.
Er lächelte. Das hatte er nicht erwartet. Es fühlte sich an, als sei sein Körper von einer zweiten Haut umschlossen und nur leicht eingeschränkt. Das Ganze wurde zudem von einem berauschenden Gefühl der Unverletzlichkeit begleitet. Als nur noch der Helm anzulegen war, zögerte Isak. Es war Tradition, dass man Helme nur im Kampf aufsetzte. Ein alter Glaube besagte, ein verdecktes Gesicht sei Zeichen hinterhältiger Absichten. Wohlhabende Ritter ließen sich ihre Visiere oft mit wilden und grotesken Gesichtern schmücken, um die Unterscheidung des Kriegers von dem Mann im Frieden noch stärker hervorzuheben.
Er wollte ihn sehr gerne anprobieren, aber da brachen Stimmen in der Hauptkammer den Bann und so sammelte Isak seine Kleidung auf, band sie zu einem Bündel und legte sie in den Schild, wo sie ein Kissen für seinen Helm bildeten.
Als Isak die Drachenhöhle betrat, unterbrach Bahl sein Gespräch und starrte ihn an, vor Schreck beinahe schwankend. »Götter, Aryn Bwr trug seinen Namen zu Recht; Quecksilber, in der Tat«, rief er aus. Ein Grollen aus den Tiefen von Genedels Kehle deutete Zustimmung an.
Isak stand nur da, unfähig seine Gefühle auszudrücken. Er hielt Eolis hoch und zog es aus der Scheide, um Bahl das strahlende weiße Licht zu zeigen, das es sogar in den dunklen, grün schimmernden Tiefen von Genedels Höhle noch aussandte. Seine Züge zeigten eine gut gelaunte Hilflosigkeit.
»Das sind wirklich die Waffen des letzten Königs, oder?«
Jetzt weißt du, warum die Elfen kamen. Das Land blickt mit neidischen Augen auf eine solche Pracht.
»Dessen können wir nicht sicher sein«, unterbrach ihn Bahl.
Du bist es ebenso wie ich. Die Nacht von Isaks Erwählung war in entfernten Gegenden ebenso unruhig wie hier. Die Kreaturen der Nacht spürten es. Die Einwohner Ghennas kannten in diesem Augenblick seinen Namen. Magier und Propheten haben die Erschütterung ebenso erspürt, es nur nicht alle erkannt. Die Elfen warten seit dreitausend Jahren darauf. Sie wissen es.
Bahl antwortete nicht. Seine gigantische Gestalt wirkte mit einem Mal klein, sogar zusammengesunken. Seine Augen glitten die schimmernde Klinge entlang, über die glatten Formen Siulents’ – dann nickte er knapp. Isak fasste Eolis fester und fühlte eine Welle von Scham, als Bahl ein Stück blauen Stoff hervorzog.
»Ich habe keine solchen Geschenke zu bieten, aber ich glaube doch, es gibt da etwas …« Er beendete den Satz nicht, sondern streckte Isak eine Maske entgegen, die seiner eigenen glich. »Möge sie dich auf andere Art schützen.«
Isak nickte dankbar und legte den Schild und Eolis vorsichtig auf den Boden. Dann zog er sich die Maske über den geschorenen Kopf. Die Seide hing einen Augenblick locker vor seinem Gesicht, dann zog sie sich um seinen Kopf zusammen, bedeckte Mund und Nase, aber ohne dabei die Atmung zu behindern. Es lag eine so sanfte Verzauberung darauf, dass er sie erst jetzt bemerkte.
»Gib mir deine Hand.«
Isak legte ob dieser seltsamen Anweisung den Kopf schief, hielt aber erst seine rechte Hand hin und dann, als der alte Lord es forderte, doch die linke. Bahl zog seinen Panzerhandschuh aus – das Silber teilte sich ohne Widerstand – und dann den Handschuh darunter.
Er drehte Isaks Handfläche nach oben, untersuchte sie einen Augenblick lang, zog dann seinen Dolch und schnitt hinein. Isak schrie vor Schreck und Schmerz auf, aber Bahl hielt sein Handgelenk fest und zog seinen Krann zu sich heran.
»Dies ist mein Geschenk an dich.« Seine Stimme klang tief und alt, voller Leid und Schmerz. »Dies ist mein Vermächtnis, das du von mir ernten wirst. Dein Blut, dein Schmerz, für Leute und Götter vergossen, die nichts davon wissen und sich nicht darum scheren. Diejenigen, die zu beschützen deine Pflicht ist, werden dich hassen und fürchten, Abscheu dir gegenüber zeigen, keine Dankbarkeit, ganz gleich was du für sie tust. Du wirst der Mann werden, den die Pflicht dem Stamm gegenüber zulässt, der Mann, den sie formt. Wenn du dich dagegen wehrst, wirst du unter ihrem Gewicht zerbrechen.«
Nach einer respektvollen Verbeugung vor dem Drachen kehrten sie schweigend in den Hauptflügel des Palastes zurück. Isak wirbelten zu viele Gedanken durch den Kopf, um sprechen zu können. Bahl hatte auch nichts weiter zu sagen und hing stattdessen seinen eigenen Gedanken nach. Der Haushofmeister empfing sie an der Treppe und verbeugte sich vor beiden tief. Dann hielt er Isak einen weißen Umhang hin und musste sich weit strecken, um ihn dem Krann um die Schultern legen zu können. Als sich der Mantel hinter ihm ausbreitete, sah Isak einen smaragdfarbenen Drachen mit goldenen Linien. Isak befestigte den Umhang selbst mit der Brosche seines Kleiderbündels. Dann nahm er den Schild wieder auf, befestigte ihn sicher am Arm und blickte die beiden Männer an. Als sie bestätigend nickten, machte er sich auf den Weg zu seiner Armee.
Ein ehrfürchtiges Flüstern empfing Isak in der Großen Halle. Es verbreitete sich und wuchs wie eine Flutwelle an. Bahl sah, dass Männer in der Bewegung einfroren und starrten. Männer, die eine Veränderung in der Luft gespürt und sich umgewandt hatten, um Isak auf den Übungsplatz hinausgehen zu sehen, wo sein Pferd wartete. Weitere gesellten sich der Gemeinschaft der flüsternden Stimmen hinzu. Die Laute des Staunens wurden mit jedem Herzschlag lauter, klangen von den umgebenden Wänden wider und schwollen dann im peitschenden Wind und den grollenden Wolken zu einem Brüllen an.
Ein einzelner Blitz durchzuckte den Himmel und die Männer jubelten mit Herz und Seele. Sie machten einen Radau, der die ganze Stadt weckte, und sandten dann ein herausforderndes Heulen über die Bäume hinweg nach Osten.