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Isak war dankbar, dass die Seidenmaske sein Gesicht verdeckte, als der Strom von Reitern durch die Straßen von Tirah zog. Die Massen trotzten einem kalten Wind und Schneewehen, um an den Seiten der Straßen zum Palast zu stehen. Unter den Schals und Kappen zeigte sich gerötete Haut, die sich jedoch im Lächeln und Jubeln verzog, mit dem sie die Truppen begrüßten. Eine Siegesparade zog die Leute immer auf die Straße, und wenn es nur geschah, um die Farlan-Kavallerie in ganzer Pracht zu sehen. Sogar die Geister hatten sich Mühe gegeben, besonders gut auszusehen, und auch die Ritter waren so herausgeputzt wie immer. Und doch war es Isak, der alle Blicke auf sich zog.

Auf Bahls Wunsch hin trug der Krann volle Rüstung und nur eine Bärenhaut um seine Schulter zollte der Kälte Tribut. Es gelang ihm, nicht zu offensichtlich zu zittern. Ausgesprochen unbequem war es schon, doch es zeigte zweifellos große Wirkung auf das Volk – sein Volk. Obwohl sie womöglich noch Angst davor hatten, was hinter diesen besonderen Gaben stecken mochte, war doch der Anblick von Siulents und Eolis und des stolzen smaragdfarbenen Drachens, der die Flanken von Isaks Streitross zierte, unwiderstehlich.

Die Bürger von Tirah jubelten ihrem Heer und Isak an seiner Spitze zu. Bahl ritt neben ihm, Isak spürte jedoch die Augen noch lange, nachdem er das Tor der Vorburg durchritten hatte, auf seinem Rücken. Flackernde Ölfeuer erleuchteten den dreißig Meter langen feuchten Steintunnel, dann erreichte der Zug die vertraute Umgebung des Palasthofes, wo er formell vom gesamten Personal und den Bewohnern des Palastes und der Kaserne empfangen wurde. Wachen und Rekruten, alle in voller Gardeuniform, standen ihm in sauberer Reihe zur Linken, das Palastgesinde zur Rechten. Dahinter drängten sich ängstliche Frauen und Kinder, die noch nicht wussten, wer überlebt hatte und wer gestorben war.

Schwertmeister Kerin stand vor seinen Schülern und salutierte lächelnd, als die Truppen an seinen jubelnden Männern vorbeimarschierten. Selbst die Adligen und Beamten, hinter dem Palastgesinde versammelt, stimmten in den lautstarken Empfang ein. Bahl nahm seinen Schwertmeister zur Kenntnis und achtete nicht auf den Rest. Er stieg vom Pferd, sobald er die Stufen erreichte. Lesarl hatte sich bereits mit zwei Schreibern im Schlepptau aus der Gruppe der Beamten gelöst und gesellte sich zu Bahl, während dieser in den Palast ging. Man überließ es Isak, die Begrüßung entgegenzunehmen und jeder Gruppe ein huldvolles Winken oder Lächeln zu schenken, bevor er absteigen konnte.

Der Schwertmeister nahm dies als Zeichen dafür, die Versammlung aufzulösen – und dann wurde sein scharfer Befehl von seinen Sergeanten wiederholt. Die gerade Reihe löste sich auf und ein Strom müder Ritter zog sich in die Kaserne zurück, zu den Ställen beidseits des Südtors — oder jedenfalls zu ihren Pflichten.

Isak klopfte seinem Pferd ein letztes Mal den Hals und lächelte Kerin an, der ihn auf seinem Weg zu Sir Cerse erneut grüßte. Der Hauptmann der Geister drehte sich ihm mit einem Lächeln zu, als ihm Kerin auf die Schulter klopfte, dann wurde Isaks Aufmerksamkeit auf das zahlreiche Wiedersehen von Freunden, Familien und Geliebten um ihn herum gelenkt. Ein Hauch von Traurigkeit berührte sein Herz, während er einige tränenüberströmt zusammenbrechen und andere vor Erleichertung lachen sah.

Er wollte sich eben zu seinen Räumen aufmachen, da fiel ihm aus dem Augenwinkel eine reglose Gestalt in der bewegten Menge auf. Der Mann starrte ihn unverwandt an, obwohl gleich neben ihm eine Frau den Verlust ihres Ehemannes beklagte. Mit einem Schrei zog sich Isak die Maske vom Gesicht und lief auf ihn zu. Auch der Mann lächelte nun und ging dem stürmenden Riesen entgegen.

»Götter, Junge, bist du groß geworden. Für einen Augenblick war ich nicht sicher, ob du es wirklich bist«, rief Carel, als Isak ihn erreichte.

Isak wartete keine formelle Begrüßung ab, sondern streifte die Panzerhandschuhe ab und umarmte ihn. Carel war jetzt deutlich kleiner als er. Isak hob ihn mit seiner wilden Zuneigung von den Füßen.

»Aargh, lass mich runter, du Ochse!«, rief Carel, als Isak ihm die Luft aus dem Leib presste. Er nahm Isaks Hand und betastete die starken Muskeln unter seiner Handfläche. Carel musterte ihn von Kopf bis Fuß, voller Verwunderung. »Isak, Junge, du bist fast einen halben Meter gewachsen, seit ich dich das letzte Mal sah. Und wenn du diese Rüstung so ausfüllst, wie es scheint … Eine solche Veränderung in einem halben Jahr! Gnädiger Nartis, deine Hand fühlt sich an, als wäre sie aus Eiche geschnitzt.«

»Und du siehst noch kleiner aus als früher«, gab Isak breit grinsend zurück.

Graf Vesna kam mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen von seinem Pferd herüber und beobachtete das Treffen. So sah er seinen Krann zum ersten Mal.

»Ha, und das Alter hat mich weich werden lassen. Umarme mich bitte nicht noch einmal so, ich würde sicher entzweigehen. Ich glaube auch nicht, dass du meinen Handrücken jetzt noch spüren wirst – dein Schädel war schon mehr als dick, bevor du erwählt wurdest. Götter, selbst jetzt kann ich es kaum glauben. Du, einer der Erwählten …«

»Ich weiß, aber du kannst dir deine Witze für später aufsparen.«

»Mit denen warte ich lieber noch.« Carel hob die Hände weit und fasste Isak bei den Schultern. »Ich mache jetzt keine Scherze, Junge. Ich hoffe, du weißt, was für eine Ehre man dir erweist.«

»Die Ehre, dass mir das halbe Land nach dem Leben trachtet?« Isak lachte über Carels Gesichtsausdruck und streckte ihm die Zunge in vorgespieltem Übermut heraus. »Ach, jetzt schau nicht so tadelnd, ich weiß, was du meinst. Ich bin nur froh, dass du hier bist. Ich hatte schon befürchtet, du wärest bereits zu weiteren Reisen aufgebrochen.«

»Nein, nach dem Angriff auf Lomin gab es keine Arbeit mehr. Ich währe ohnehin nicht gegangen, habe meinen Posten aufgegeben und mich als Leibwache bei einem Händler verdingt. Man braucht nur den weißen Kragen, um dies ohne Furcht tun zu können, und ich wusste, dass du früher oder später meine Hilfe brauchen würdest.«

Isak blickte zu Boden und fühlte sich wegen der langen Zeit, die seit seinem letzten Treffen mit seinem Freund vergangen war, geradezu schuldig. »Es tut mir leid, ich …«

Carel brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen. »Junge, ich kenne dich besser als du selbst. Ich hätte dir am ersten Tag schon sagen können, dass du es alleine beginnen würdest. Und jetzt sehe ich dich so wieder … oh Götter, ich bin so stolz auf dich. Du musst dich für nichts entschuldigen, für nichts. Du hast dich eingewöhnt und jetzt hast du erkannt, dass du jemanden brauchst, der dir gelegentlich eine Maulschelle verpasst. Hat eine Weile gedauert, aber schließlich hast du es begriffen.«

Beide Männer wandten sich Vesna zu, als dieser ein Lachen unterdrücken musste. »Ähem, ich bitte um Vergebung, Lord Isak.«

»Bei Tsatachs Eiern! Seid Ihr Graf Vesna?« Carel ergriff die Hand des Mannes und fuhr fort: »Es ist eine Ehre, Euch zu treffen, mein Lord. Augenblick mal …« Er sah von Vesna zu Isak hinüber und dann lächelte er erneut. »Ihr habt Gefolgschaft geschworen, nicht wahr? Wegen der Akademie der Magie. Ihr seid aus … Hah!« Carel lachte plötzlich so laut, dass die Männer hinter ihm erschrocken zusammenzuckten. »Ihr habt Euch diesem großen Holzklotz verschworen?«

»Ich habe diese Ehre, Herr«, antwortete Vesna ohne zu stocken. Seine Augen funkelten, weil er in Carel einen verwandten Geist erkannte. »Aber darf ich vorschlagen, dass wir dieses Gespräch im Innern weiterführen, fernab der Truppen?«

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Isak eilig zu, denn er erkannte, dass sich die beiden sehr gut verstehen würden, und das vielleicht auf seine Kosten. Er legte einen Arm um Carels Schulter und wandte sich dem Hauptflügel zu, wo eine warme Mahlzeit auf sie warten würde. »Es geht dir also gut.«

»So gut, wie man es von einem Mann erwarten kann, der sich unter all den Jungspunden alt fühlt.« Carel wies auf die Soldaten und berührte unbewusst den weißen Kragen seines Hemdes, während er hinübersah. Erst da fiel Isak auf, dass Carel besser gekleidet war als jemals zuvor. Ein feiner Mantel aus kurzem schwarzem Fell reichte bis zu seinen Knien, die Säume mit makellosem weißem Fuchsfell besetzt. Darunter trug er gebleichtes weiches Leder und ein Paar feiner, hoher, grüner Stiefel, was für den ehemaligen Geist alles ungewöhnlich geckenhaft wirkte.

»Du hast also unsere Gastfreundschaft gut genutzt«, sagte Isak und berührte mit dem Finger den Saum des Mantels.

»Ich bin erst seit ein paar Tagen hier, aber deine Magd hat sich um mich gekümmert. Ich dachte mir, da du der Krann bist, sollte ich mir wohl neue Kleidung besorgen. Ich wollte nicht, dass du dich für mich schämen musst.« Carel zeigte auf die herannahende Tila.

»Willkommen zurück, mein Lord«, sagte das Mädchen. Es machte einen sauberen Knicks vor Isak und fügte mit einem Kopfnicken hinzu: »Graf Vesna.«

»Seid ihr beide euch schon einmal begegnet?«, fragte Isak neugierig.

»Nein, mein Lord«, sagte Tila. »Aber die Rüstung des Grafen macht es leicht, ihn zu erkennen – und natürlich eilt ihm sein Ruf voraus.«

Der Graf zögerte einen Augenblick, dann verbeugte er sich tief, um Tilas Hand in einer formellen Begrüßung zu küssen. »Meine Dame.«

Tilas Gesicht blieb ausdruckslos, und da erkannte Isak, dass sie die Begeisterung eines Soldaten für Vesnas Ruf natürlich nicht teilen würde.

Als sie schließlich weitersprach, lag ein eisiger Ton in ihrer Stimme. »Eure Gemächer wurden vorbereitet, doch leider gab es einen Sturmschaden an einem der Grafenzimmer und die anderen beiden sind bereits vergeben. Ich hoffe, es macht Euch nichts aus, stattdessen ein Gästezimmer zu beziehen. Ich habe Eure Habseligkeiten bereits in die Räume, die neben denen von Sergeant Carelfolden liegen, bringen lassen, da ihr beide zu Lord Isaks Gefolge gehört.«

Isak starrte sie an und erkannte das sanftmütige Mädchen kaum wieder. Die Feindseligkeit war nicht deutlich genug, um beleidigend zu wirken, aber sie schien ihm dennoch offensichtlich. In diesem Augenblick betrachtete er sie zum ersten Mal als Farlanfrau, der von Geburt an beigebracht wurde, dass sie einem Mann niemals gleichrangig sein würde. Für die Chetse bedeutete dies, dass Frauen keine Meinung hatten. Sie waren ihren Herren gegenüber friedlich, gehorsam und höflich, erhoben nicht einmal ihre Stimme.

Die Farlan waren anders, denn die Farlanfrauen verwandelten die Schwäche in klassischer Militärmanier in Stärke, indem sie alles aus dem Hintergrund steuerten. Es war für einen Mann keine Schande, wenn seine Freunde wussten, dass seine Frau die Entscheidungen traf, und Mädchen mit Gewitztheit und einem scharfen Verstand wurden sorgfältig ausgebildet. Sie waren begehrte Ehefrauen.

»Wer wohnt in den anderen Zimmerfluchten?«, wollte Isak wissen, als er seine Stimme wiedergefunden hatte.

Zu seiner Überraschung wandte sie den Blick nicht einmal unter dem Ansturm seiner offensichtlichen Verärgerung ab. Sie starrte ihn nieder und antwortete: »Lordprotektor Tebran wohnt genau genommen noch hier und Graf Vilan wurde in dem anderen Raum einquartiert.«

»Aber wir haben Tebran in seinem Anwesen getroffen. Und Vilan? Hol’ sofort Lesarl her«, blaffte Isak.

Der Graf hob seine in schwarzen Samt gehüllte Hand. »Mein Lord, ich bin mit dieser Aufteilung sehr zufrieden. Ich glaube, Sir Cerse hat Graf Vilan hierher eingeladen – und da würde ich nur ungern stören.«

Isak sah seinen Gefolgsmann einen Augenblick lang an, dann begriff er. Er nickte Vesna kurz zu, wandte sich dann an Tila und sagte freundlich: »Meine Dame, die Vorkehrungen sind sehr zufriedenstellend. Bitte überbringt dem Haushofmeister meine freundlichsten Grüße. Ich bin sicher, dass er mir den Stall zugewiesen hätte, wenn er es gekonnt hätte.«

Tila knickste erneut und verschwand in Richtung Palast.

Vesna atmete tief ein, als ihn ganz kurz ein Hauch Parfüm traf. »Ich glaube, sie mag mich.«

»Sie hegt bestimmte Ansichten über …« Isak errötete und fuhr leiser fort: »… über geschlechtliche Beziehungen. Ich glaube nicht, dass du ihren Standards entsprichst.«

Vesna lachte rau. »Ich hoffe es. Diese Art von ›Beziehungen‹, wie du sie so damenhaft nanntest, sind nichts für unverheiratete Mädchen.«

»Ich bedauere deine Frau, solltest du jemals heiraten«, sagte Isak lachend.

»Warum? Wenn ich mir die Hörner vor der Ehe ordentlich abstoße, wird sie es sein, die die Früchte meiner harten Arbeit und Übung erntet.« Er lächelte und Isak fragte nicht weiter nach.

Es war offensichtlich, dass Vesna seine Verteidigung schon mehr als einmal vorgebracht hatte, und ob er sie selbst glaubte, war nicht Isaks Problem.

»Doch genug davon«, sagte der Graf. »Ich kann ein anderes Mal überlegen, wie ich das Herz der Dame Tila gewinne. Wichtiger ist, dass sich Graf Vilan auf einer bestimmten Liste in meinem Besitz wiederfindet.«

»Ich weiß. Sei nur nicht zu begierig darauf, seine Räumlichkeiten zu beziehen, verstanden?«

Carel beobachtete Isak. Auch wenn er es selbst nicht zu bemerken schien, er wuchs doch, was seine Einstellung betraf, ebenso sehr in seine neue Stellung hinein, wie auf der körperlichen Seite. Er spürte Stolz und Freude in seinem Herzen aufblühen. Endlich einmal hatte der ungezügelte Junge nicht den üblichen argwöhnischen Ausdruck im Gesicht. Er musste nicht mehr allen aus dem Weg gehen, nach Schlägen, die ihm im Vorbeigehen verpasst wurden, Ausschau halten, und musste auch nicht länger ertragen, dass jeder, den er traf, das Gesicht verzog oder ihm misstraute.

Isak stand aufrecht und stolz da. Er hatte die Krümmung des Rückens abgeschüttelt, mit der er als Kind seine Größe zu verbergen versucht hatte, und er wirkte lebendiger als je zuvor. Isak musste die Gesellschaft nicht länger meiden. Jetzt würde sich das Leben um seine kampfgestählte Gestalt formen. Das war mehr, als sich das Kind hatte erträumen können, das Carel dereinst getroffen hatte. Heute würde ihn jeder Junge des Stammes um die verzauberte Klinge an seiner Hüfte, den Drachen auf seinem Mantel und seine magische Rüstung beneiden.

Carels Blick verharrte auf Eolis und Isaks Kopf fuhr herum. Für einen Augenblick wirkte das Gesicht des Jungen misstrauisch, dann zwang er sich wieder zu einem Lächeln. »Genug von der Arbeit. Wir brauchen Essen und Wein.«

Er scheuchte Carel und Vesna zur großen Halle. Über dem Feuer röstete gerade ein Eber und die ringsum versammelten Männer machten respektvoll Platz. Isak häufte so viel Essen, wie er tragen konnte, in seine Schale und bedeutete Carel dann mit einem Nicken, zum Kopfende des Tisches zu gehen.

Sobald sie es sich bequem gemacht hatten, fragte er Carel: »Also, was gibt es Neues?«

Carel sah von seinem Essen auf und zögerte einen Augenblick, versuchte im Gesicht des Kranns zu lesen, aber da er nichts fand, begann er: »Nun, Valo hat endlich Faean geheiratet, Jedah hat einen Tag vor Mittwinter ein Mädchen geboren …«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Also, dann frag doch einfach. Woher soll ich wissen, ob du von Horman hören willst? Du lebst erst seit einem halben Jahr mit diesen Politikern zusammen und schon ist dir eines ihrer ausdruckslosen Gesichter gewachsen.«

Isak blickte überrascht drein, dann kam der vertraute Ausdruck leichter Anspannung zurück. »Also, ist er froh, dass ich weg bin?«

»Was glaubst du?«

»Ich vermute, dass ihm jemand fehlt, den er herumschubsen kann. Ich vermute, er hat weniger, über das er sich beklagen kann, also wird er eher trinken als reden.«

»Damit liegst du recht nah an der Wahrheit. Aber natürlich vermisst er dich. Immerhin seid ihr trotz allem eine Familie, selbst wenn ihr euch nicht ausstehen könnt. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir – und was für ein Leben das jetzt sein wird! Seines endete, als deine Mutter starb. Du warst seine letzte Verbindung zu ihr, was auch immer er über dich denken mag. Oft wenn ich mit ihm trank, schwieg er und drehte nur fortwährend diesen grünen Ring in den Fingern.«

»Nun, erwarte nur nicht, dass ich ihn besuchen gehe«, knurrte Isak.

»Tu ich nicht.«

Isak sah bei Carels Zustimmung verblüfft auf. Der schnaubte kräftig und schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Das überrascht dich? Mein Junge, du bist nicht das einzige Weißauge, das ich kenne – und ich kenne dich verdammt noch mal besser als sonst jemand. Du bist ebenso stolz, wie du manchmal gemein sein kannst. Zudem hat Horman, mag er auch immer noch mein Freund sein, wenig getan, um deine Liebe zu verdienen.«

»Wenig?«

Carel hob warnend den Finger. »Er hat sich besser um dich gekümmert, als ich es schon von vielen anderen hörte. Was du auch sonst anführen kannst, hungrig warst du nie, auch wenn er nur widerstrebend gab. Wenn du das leugnest, fängst du eine, dass du aus der Rüstung fällst. Viele wollten dir nur eine Kinderportion geben und nicht so viel, dass noch nicht mal Valo alles geschafft hätte. Aber niemand wagte es, dies deinem Vater zu sagen.«

»Warum?«

»Nun, zuerst einmal, weil man nur über dich sprach, wenn es nötig war. Sie waren vom Volk deiner Mutter und damit eine abergläubische Meute. Und sind es noch heute! Du siehst deiner Mutter ähnlich, und alle wussten, was sie Horman bedeutete. Deswegen hat er seine Einsamkeit und Verzweiflung an dir ausgelassen, aber er hätte nicht zugesehen, wie du verhungerst, wenn er auch aus Wut manchmal anderes behauptete.«

»Vielleicht. Aber ich werde noch einsamer sein, als er es jemals war – immerhin hatte er einmal jemanden. Er hatte ein Kind, selbst wenn es eines mit weißen Augen war.«

»Und sieh dir nur an, was der Verlust bei ihm anrichtete.«

Isak antwortete zwar nicht, aber Carel konnte an seinen angespannten Zügen ablesen, dass der Junge mehr begriffen hatte, als er zugeben wollte. Bevor sie weitersprechen konnten, brachte Tila eine zweite Schüssel mit Essen für Isak.

Vesna stand bei Tilas Erscheinen lächelnd auf, aber Tila, die den Eindruck bekam, er verspotte sie, ignorierte ihn demonstrativ und setzte sich neben Carel, der grüßend mit dem Löffel winkte. Sie hatte den alternden Soldaten sofort gemocht. Er war so großzügig und warmherzig, wirkte auch so verlässlich und bestätigend, vielleicht wie ein liebender Onkel – ganz anders als der charmante, gut aussehende Graf Vesna, dessen funkelnde Augen nicht wirklich ungebührend, aber ganz sicher die eines Jägers waren.

Tila trug ein einfaches, warmes Kleid, doch Vesna schaffte es, ihr mit einem Blick und einem Lächeln das Gefühl zu geben, sie wäre für einen Sommerball passend gekleidet. Sie hatte nicht vor, einem solchen Mann zu vertrauen. Sein Gesicht war zu hübsch, seine Worte klangen zu angenehm, seine Ausstrahlung wirkte zu anziehend.

»Mein Lord, war die Schlacht so erfolgreich, wie man hört?«, fragte sie und löste ihre Gedanken von Vesna.

»Waren das wirklich alle Geister, die heute zurückkehrten?«, fragte Carel, bevor Isak zu Ende gekaut hatte und auf Tilas Frage antworten konnte. Er klang besorgt. Carel war einst selbst ein Geist gewesen. Er wusste, wie ein volles Kontingent aussah und konnte die Verluste einschätzen.

Vesna nickte. »Beinahe. Einige machten auf ihren Ländereien halt, aber durch die Verluste in der Schlacht und durch den Winter, der sich die Verletzten holte, haben wir beinahe vierhundert verloren. Ein Erfolg? Ja, meine Dame, das war es wohl, aber zu einem hohen Preis. Isak hat sie in seinem ersten Kampf dennoch gut geführt – und das ist ein gutes Zeichen für die Zukunft.«

Isak sagte nichts, er fühlte sich immer noch schuldig, sobald der Kampf erwähnt wurde, aber Carel hielt sein Schweigen für Trauer um die Toten. »Denk nicht an die Gefallenen, Isak«, sagte er. »Wie man hört, hätte es ohne dich noch mehr Witwen gegeben. Lord Bahl und der Drache trieben die Trolle zurück, aber wenn die Geister nicht standgehalten hätten, wären sie zu spät gekommen. Und ohne dich wären sie sogar überrannt worden, bevor Lord Bahl eintraf.«

Isak blickte auf und sah seinem Freund in die Augen. Carel war nie ein guter Lügner gewesen, noch hatte er jemals den Gefühlen eines Außenseiters Platz eingeräumt. Er hatte erraten, was geschehen war – und verstand es.

Ein plötzlicher Windzug aus dem Turmgang kündigte die Ankunft des Schwertmeisters an. Kerins ernste Miene erhellte sich, als er den Duft einatmete, der in der großen Halle hing. Der Schwertmeister hatte sich seine Übungskleidung aus Leder noch nicht wieder angezogen. Unter seinem Mantel trug er die Gardeuniform der Geister, einschließlich eines reich verzierten, zweiteiligen Wamses aus schwarzem Leinen, in das goldene Fäden eingeflochten waren.

Er sicherte sich eine Schüssel mit Eintopf aus dem großen Kessel, der auf dem steinernen Herzen des großen Feuers ruhte, und auch noch ein Stück des Ebers am Spieß. Dann gesellte er sich zu Isak und seinen Freunden. Und kam sofort zum Punkt: »Lord Bahl hat mich eingeweiht. Du kannst nun Magie anwenden?«

Isak schluckte. Dem Glitzern in Kerins Augen nach zu urteilen, hatte der Schwertmeister bereits eine ganze Reihe neuer Übungen ausgearbeitet.

»So gerade eben«, sagte Isak schnell. »Nichts Kunstvolles, nur so die grundlegenden Kräfte, nicht mal wirkliche Kampfmagie.«

Kerin lächelte. »So gerade eben, das reicht für meine Zwecke.« »Magie?«, fragte Tila streng. »Was meint Ihr mit grundlegenden Kräften?«

»Weißt du etwas über Magie?«, fragte Isak. Er wusste heute etwas mehr über das Thema als bei seinem Aufbruch aus dem Palast.

»Nur dass sich Weißaugen von Magiern unterscheiden.«

Die anderen beugten sich etwas vor und Isak lächelte. Nur wenige Leute wussten wirklich etwas über Magie – sie blieb wenigen Auserwählten vorbehalten – aber wer würde sich nicht dafür interessieren? »Nun, es ist kompliziert und ich verstehe das meiste selbst nicht. Nach dem, was ich gelesen habe, gibt es drei Arten von Magie, die grundlegenden Kräfte …«

»Wie einen Blitz zu erzeugen?«, unterbrach ihn Vesna mit kindlicher Begeisterung. Jeder, der Bahl im Kampf gesehen hatte, wusste, wie zerstörerisch derlei sein konnte.

»Ja«, sagte Isak. »Auch wenn ich glaube, dass es nicht genau das Gleiche ist wie… echte Blitze. Aber wir sind die Erwählten von Nartis, also wirkt es auf diese Weise. Auch Feuer kann erschaffen werden, aber das benötigt mehr Kraft. Lord Chalat oder sein Krann wären wegen ihres Schutzherren deutlich leichter dazu in der Lage.«

»Es ist immer die gleiche Energie, aber unterschiedliche Leute formen sie zu unterschiedlichen Dingen, zu Blitzen, Feuer und dergleichen mehr«, sagte Kerin, der die Fähigkeiten seines Lords wesentlich besser kannte.

»Darauf läuft es hinaus«, stimmte Isak zu. »Warum das so ist, wissen die Magier der Akademie. Ich verstehe das meiste von dem, was sie sagen, überhaupt nicht, aber das muss ich offenbar auch nicht. Verzauberungen sind sehr einfache Zauber, so einfach, dass sogar ein Weißauge sie ausführen kann. Man nutzt die Kraft nur vorsichtiger, gibt ihr einen Zweck und bindet sie dann, statt sie in einem einzelnen Ausbruch loszulassen.«

Isak erkannte, dass sein Publikum seinen Ausführungen nicht mehr recht folgen konnte, darum versuchte er es mit einem Beispiel: »Erinnert ihr euch an die Geschichte vom Juwelier und der Seilschlange?«

»Die Kindergeschichte?«, fragte Tila und begriff langsam. »Das Seil war also verzaubert?«

Als sie den fragenden Ausdruck auf den Gesichtern der drei Männer sah, lächelte sie und erklärte: »Ein Juwelier bittet einen Zauberer, ihn vor Einbrechern zu schützen. Ich habe vergessen, was genau geschah, aber der Zauberer gab ihm ein Stück Seil, das er des Nachts in seinem Laden lassen sollte. Es würde durch die Räume kriechen, und wenn jemand außer dem Juwelier hereinkäme, so würde er gefesselt werden.«

»Genau«, sagte Isak. »Dahinter steckt natürlich noch mehr, aber so weit bin ich gekommen. Die meisten Weißaugen können solche Zauber wohl nicht wirken. Es gibt da etwas, das sich das Gesetz der Verpflichtung nennt, aber das habe ich nicht verstanden.«

Alle öffneten gleichzeitig den Mund, um zu sprechen, aber da wurde Isaks Name von der Tür herübergerufen. Man wandte sich um und fand den Haushofmeister nebst seiner Schreiber vor.

Lesarl senkte die Stimme, als er sich ihrer Aufmerksamkeit sicher war: »Lord Isak, der Herr wünscht Euch zu sehen. Allein. Kerin, es gibt zu tun.«

Er wartete nicht auf eine Antwort. Lesarl war nun ganz im Bilde über die Ereignisse der letzten Wochen – und es gab einen Berg von Arbeit zu erledigen. Im Gegensatz zu seiner üblichen Pflicht, Bahls Länderein geschickt zu verwalten, war es seine Aufgabe, all das zu besorgen und zu zahlen, was Bahl für die Armee für nötig hielt. Er musste das Problem fehlender Pferde lösen, das Netzwerk seiner Spione hatte in Kenntnis gesetzt zu werden, und er musste aus ökonomischer Sicht einen Weg finden, um die Loyalität des Farlan-Adelsstandes zu sichern. Er hatte viele Angestellte, aber so viele Fäden gleichzeitig zu spinnen war eine derart schwierige Aufgabe, dass nur wenige Männer sie bewältigen konnten.

»In der Tat«, sagte Kerin in die Runde hinein und erhob sich. »Mit Eurer Erlaubnis, mein Lord.«

Isak winkte zustimmend. Der grauhaarige Mann schwang die Beine über die Bank und ging wieder an die Arbeit. Isak aß das letzte Stück Brot und stand ebenfalls auf, um zu gehen. »Vesna, ich glaube nicht, dass es lange dauert. Sammelt ein paar Männer, Rekruten oder so, mit Übungswaffen und in Rüstung. Kerin wird für Übungen im Kampf Mann gegen Mann dabei sein müssen, aber ich will meine Glieder ein wenig lockern. Ich treffe euch bei den Übungspfählen – Tila, kannst du ihn herumführen?« Er lächelte sie an.

Tila wirkte von der Bitte nicht sehr begeistert, aber der Graf und sie würden miteinander auskommen müssen, was sie auch immer von ihm hielt. Isak bemerkte mit einem Mal, dass sich seine Gefühle für Tila gewandelt hatten. Er verspürte noch immer eine große Zuneigung und Wertschätzung für sie, denn sie war wunderschön, aber jetzt war sie doch nicht mehr als eine Freundin. Ob sie ebenso fühlte, würde man sehen müssen, aber für Isak war die Zofe zu der Schwester geworden, die er nie besessen hatte.

Diese Erkenntnis war von der ausbleibenden Eifersucht auf Vesnas Interesse an Tila hervorgerufen worden, der sich auch von ihrer offensichtlichen Abneigung gegen den berühmten – berüchtigten — Grafen nicht abschrecken ließ. Die Dinge hatten sich seit der Schlacht geändert, und jetzt wollte er Tila nur noch glücklich sehen. Niemand konnte sich mit ihm messen, aber andererseits, Vesna …

Carel beobachtete lächelnd, wie der Krann zur Tür ging. Er fragte sich, ob er bemerkte hatte, dass er beim Gehen stets einen Finger auf Eolis ruhen ließ.

Er hoffte, dass der Junge seine Rüstung bald ablegen würde. In ihr wirkte er nicht gerade menschlich. Wenn er Waffenübungen machen wollte, so müsste er es tun – Kerin hatte die Rüstung, die er für Isak hatte anfertigen lassen, stolz herumgezeigt.

Der Schwertmeister hatte sie als das Gegenteil von Siulents beschrieben. Dicker Stahl, bei dem jedes Teil noch einmal in Blei gehüllt war, um das ohnehin gewaltige Gewicht noch zu erhöhen. Dieses Gewicht sollte den Körper so weit verlangsamen, dass er das Augenmerk stärker auf seine Technik richten musste. Kerin war noch immer nicht davon beeindruckt, dass Isak ihn am ersten Tag besiegt hatte. Er freute sich auf eine kleine freundschaftliche Rache.

Als Carel beim Gedanken an Isak in einem Bleianzug kicherte, brach Tila das Schweigen. »Graf Vesna, wie kommt es, dass Ihr Euren Herrn Isak nennt, und er Euch noch immer beim Nachnamen ruft?«

Vesna senkte beschämt den Blick, plötzlich ganz ohne seine charmante Maske. »Ich … äh …, nun, um ehrlich zu sein, Lord Isak muss das erst noch auffallen. Er hat nur einen Namen und der ist gut genug für ihn, darum denkt er, dass dies auch für alle anderen gut genug ist.«

»Aber Ihr besitzt einen Vornamen?« Ein bösartiges Grinsen verzerrte Tilas sonst so sanfte Züge. Sie spürte eine Schwachstelle in der Aura des berühmten Grafen Vesna.

»Ja, aber ich benutze ihn nicht …«

»Ihr werdet ihn mir nennen«, forderte Tila von dem sich windenden Krieger.

»Ich …«

»Sonst empfinde ich es als meine Pflicht, Isak diesen Gedanken in den Kopf zu setzen, vielleicht während des Banketts heute Abend …«

»Nein! Das ist nicht nötig, Dame Tila. Ich nenne ihn Euch gern.« Er hielt inne und atmete tief durch. »Mein Name ist Evanelial, Evanelial Vesna.« Tila brach plötzlich in Gelächter aus und er betrachtete sie grimmig.

»Ihr meint: wie in der Geschichte?« Tila lachte erneut, verlor ihre gewohnte Ruhe und versuchte ihr Gekicher in den ausladenden Ärmeln zu ersticken.

»Genau jener Name. Diese Geschichte wurde für meine Großmutter geschrieben, aber meinen Eltern zufolge war es einmal ein Männername.«

»O ja, sehr männlich … ach du meine Güte, jetzt sehe sich das einer an«, rief Tila, die plötzlich merkte, dass alle Augen im Saal auf sie gerichtet waren. »Es tut mir leid. Ich sollte nicht lachen, aber bei Eurem Ruf … Jeder Junge im Stamm will Euch nacheifern, will der vollendete, mutige Ritter werden, der verwegene Schalk …«

»Ich weiß. Und genau aus diesem Grund verrate ich den Leuten meinen Vornamen nicht … auch wenn die meisten nicht zugeben würden, ihn wiederzuerkennen.«

Der flehende Tonfall des Grafen zeigte Wirkung, sodass der Mann Tila leidtat. Sie hatte zwei Brüder und wusste, wie grausam Jungen ihren Freunden gegenüber sein konnten. Das kriegerische Leben verzieh wenig, und noch weniger bei denen, die am hellsten strahlten.

»Ihr habt recht, ich bitte um Entschuldigung. Ich werde kein Wort darüber verlieren. Bitte vergebt mir, dass ich lachte.« Noch immer lächelte sie und Vesna nickte eifrig.

»Vergeben, Dame Tila, sofern Ihr mir im Gegenzug meinen Ruf vergebt.«

Das Lächeln verschwand von Tilas Gesicht, aber sie konnte nichts finden, um ihre frühere Abneigung neu zu entfachen. Also nickte sie kurz und stand auf.

»Vielleicht sollte ich nichts auf die Erzählungen geben. Ihr scheint Isak treu ergeben zu sein, darum will ich Euch noch nicht verurteilen. Unterdessen sollte ich Euch die Kaserne zeigen.«

Sie verspürte Isak gegenüber einen Stich der Schuld, weil sie so freundlich zu Vesna war, doch nur für einen Augenblick. Als Isak sie begrüßt hatte, hatte sie eine große Zuneigung in seinen Augen gesehen, aber nicht mehr. Sie war nicht sicher, wie sie selbst fühlte, aber wenn da etwas gewesen war, so hatte Isak es bereits hinter sich gelassen. Irgendwann würden sie unter vier Augen darüber sprechen müssen, doch damit hatte es keine Eile. Sie lächelte traurig. Lord Bahl würde sehr zufrieden sein.

Sie verabschiedeten sich von dem Geisterveteranen, und dann führte Graf Vesna sie mit einer leichten Verbeugung und der Eleganz eines erfahrenen Höflings aus dem Raum. Carel sah den nebeneinander Gehenden nach und fühlte sich sehr alt, so abseits von allem. Dieser Gedanke brachte ihn in Bewegung, also stand er auf, um das Arbeitszimmer des Haushofmeisters zu suchen. Sicher gab es etwas, das sogar ein alter Mann tun konnte.

 

Die Wachen an der Tür vor Lord Bahls Schreibzimmer nickten Isak zu und schoben die Tür auf. Der alte Lord hatte die Maske abgenommen und Isak konnte in seinem Gesicht die Sorge deutlich erkennen. Es drang nur schwaches Licht durch die Fenster aus farbigem Glas, eine ganze Reihe von Kerzen brannte bereits. Ihre Flammen warfen seltsame Schatten auf Bahls gefurchte Stirn. Er saß am Schreibtisch. »Bist du froh, dass dein Freund nun im Palast ist?«

Isak lächelte in sich hinein. Bahl lag das Plaudern nicht, aber Isak war nicht der Einzige, der seine gesteigerten Bemühungen in dieser Richtung bemerkt hatte. Es war zwar nur eine Kleinigkeit, aber sie ließ Bahl weniger distanziert wirken. Die Leute von Tirah hatten alle vom letzten Witz gehört, den Bahl auf Kosten seines Krann gemacht hatte, und das hatte einen Teil ihrer Ängste zerstreut.

»Ich habe hier mehr Freunde als jemals zuvor in meinem Leben, aber es tut gut, Carel wiederzusehen«, stimmte er zu.

»Er war ein Geist, nicht war? Nun, dann kann er vielleicht nicht nur als Freund von Nutzen sein.«

Isak versuchte, seinen Lord aufzuhalten: »Ich möchte das nicht von ihm verlangen. Er hat sich nicht ohne Grund in ein ruhigeres Leben zurückgezogen. Ich will ihm nicht befehlen, für mich zu töten oder zu spionieren.«

»Das verstehe ich, aber vergiss niemals, dass er ein Geist war. Ich habe gehört, er betrachtet dich als seinen Sohn.«

Natürlich würde Lesarl über jedes neue Gesicht Bericht erstatten, doch es wurmte Isak trotzdem, dass Carel, sein Freund, vom Haushofmeister unter die Lupe genommen wurde. Doch er sagte nichts und nickte nur leicht, um zu zeigen, dass er verstanden hatte.

»Ich vermute, dass er sehr bald verlangen wird, etwas zu tun zu bekommen«, fuhr Bahl fort, nur um dann gewohnt plötzlich das Thema zu wechseln: »Du weißt, dass Graf Vilan im Palast weilt, um seinen alten Freund Sir Cerse zu besuchen?«

»Ja, aber ich habe Vesna gesagt, er soll sich beim Warten auf höfische Gemächer gedulden«, sagte Isak ernst. »Ich werde mich früh genug um Vilan kümmern.«

»Gut. Wenn du einen Mann – oder eine Frau, er hat einige ganz erstaunliche – haben willst, der das tut, so frag Lesarl. Ich weiß, dass du ihn nicht magst, aber du willst deine Kleidung doch nicht mit Blut besudeln lassen.«

»Ich werde vorsichtig sein. Wolltet Ihr mich deswegen sehen?« Er war verblüfft, dass Bahl seinen Krann zu sich bestellen sollte, nur um etwas zu besprechen, das sie längst geklärt hatten.

»Nein. Es gibt zwei andere Dinge. Zum einen habe ich beschlossen, dass du Tirah verlassen wirst.«

»Verlassen?«, rief Isak ungläubig. »Aber ich bin doch gerade erst zurückgekommen. Warum sollte ich schon jetzt wieder aufbrechen wollen?«

Bahl hob eine Hand, um Isak zum Schweigen zu bringen. »Du wirst mir erst zuhören. Ich werde dich nicht zwingen zu gehen, aber ich halte es für das Beste.«

»War das Lesarls Idee?«, fauchte Isak, bevor er sich besann.

»Ich sagte hör zu!«, bellte Bahl und erhob sich halb. Er umfasste mit seinen großen Händen den Mahagonischreibtisch und beugte sich zu Isak hinunter, das Gesicht plötzlich zu einem Knurren verzogen. Isak tat es ihm gleich und stand ebenfalls auf. Die Schatten im Zimmer wurden dunkler und die Kupfernote von Magie füllte mit einem Mal die Luft, als Bahls Zorn wuchs. Isaks Wut zog nach, seine Augen blitzten, und bevor er etwas anderes tun konnte, spürte er von Eolis einen beinahe unwiderstehlichen Sog ausgehen. Seine Hand zuckte wie von allein hinunter, dann riss er sie erschrocken zurück.

Der Schreck ließ ihn wieder zu Sinnen kommen und er musste sich schwer auf den Schreibtisch lehnen, als ihn seine Kräfte verließen. Kaum bemerkte er, dass der Weiße Blitz nun in Bahls Hand ruhte. Die Augen des alten Lords verengten sich. Er hatte einen Angriff erwartet, aber Isak schien von dem, was gerade geschehen war, so überwältigt, dass ihn schon ein einziger Lufthauch hätte zu Boden schicken können.

Isak blickte auf und erkannte langsam Bahls Anspannung. Die große Klinge bewegte sich vor und zurück und schien bereit zuzuschlagen. Der jüngere Mann sank auf ein Knie, als ihm bewusst wurde, wie nah sie einem Schlagabtausch gekommen waren, nur weil er so ungeduldig war. In seiner Stimme lag echte Reue, als er endlich Worte fand: »Mein Lord, vergebt mir. Ich … ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

Langsam löste Isak seinen Schwertgürtel aus gebleichtem Leder, ein Geschenk des neuen Lordprotektors Fordan, und ließ ihn auf den Boden fallen. Erst dann wagte er, den Kopf wieder zu heben.

Bahl zögerte, befürchtete eine Finte. Es dauerte eine Weile, bis seine über Jahrhunderte gereiften Instinkte erlaubten, dass er sich wieder entspannte.

Erst dann stand Isak auf und zog den Stuhl heran, wartete aber noch auf Bahls Erlaubnis, bevor er sich erneut setzte.

»Das ist einer der Gründe, warum du für eine Weile fortgehen solltest. Wir waren uns lang genug nahe. Und wegen dieser Shalstik-Angelegenheit müssen wir wohl vermuten, dass sie es noch einmal versuchen werden. Ich möchte, dass du nach Westen gehst, nach Narkang. Es ist ein langer Weg dorthin, und wenn dir die Ärgernisse folgen, so wirst du sie bemerken. Außerdem wäre König Emin ein wertvoller Verbündeter.«

Isak dachte über Bahls Worte nach. Er wusste nur wenig über Narkang, das aufstrebende Königreich im Westen, wo alle Städte von Menschen mit gemischtem Blut bevölkert wurden und nicht von den reinblütigen Mitgliedern eines der sieben Stämme. Die Stämme hatten stets auf die Halbblute hinabgesehen, aber König Emin hatte ein bemerkenswertes Reich geschmiedet.

»Emin Thonal ergriff die Krone im Alter von einundzwanzig, und drei Jahre später hat er Aroth erobert, den Größten seiner Nachbarn«, sagte Lord Bahl. »Zwei Jahre danach ergaben sich die berühmten Krieger von Canar Fell lieber auf dem Schlachtfeld, als sich der vollständigen Vernichtung zu stellen. Und wieder fünf Jahre später ergab sich Canar Thrit dem wirtschaftlichen Druck und wurde Teil von Thonals Königreich. Innerhalb von zwanzig Jahren ist Narkang zu einer der größsten und reichsten Städte des ganzen Landes geworden.

König Emin könnte ein lohnender Verbündeter sein. Unser Mann dort ist sicher, dass der König seine Grenzen nicht weiter ausweiten will und nun Platz für Freundschaft ist. Wenn sich weiterer Verdruss am Horizont zeigt, so könnte er wichtig werden, und in Narkang wirst du mehr über Hofpolitik lernen können, als dir hier selbst Lesarl vermitteln dürfte.«

»Ich tue, was Ihr befehlt«, sagte Isak leise und senkte erneut den Kopf.

»Ich will nicht, dass du meinen Befehlen folgst«, antwortete Bahl, und dann sagte er, etwas sanfter: »Ich will, dass du verstehst, warum das eine gute Idee ist. Wir haben auf dem Rückweg zu viel Zeit miteinander verbracht. Ich möchte nicht, dass es zwischen uns böses Blut gibt. Du bist noch immer jung und heißblütig, ich aber bin wohl etwas zu festgefahren in meinen Ansichten.«

Isak blickte weiter auf den Boden, um sein Lächeln zu verbergen, für den Fall, dass dem alten Lord das Komische in seinen Worten verborgen geblieben war. Der Krann wusste ja, dass er aufbrausend war, aber Bahls Temperament war für die Leute, die ihn umgaben, eine mindestens ebenso große Gefahr.

»Dann stimme ich zu, mein Lord. Ich möchte kein Gefangener in diesem Palast sein, ständig auf der Hut vor dem nächsten Estashanti-Meuchler. Und wer würde schon die Möglichkeit ausschlagen, Narkang zu besuchen?« Er zwang sich zu einem Lächeln, um den letzten Rest Anspannung zu vertreiben.

»Wir werden später noch weiter darüber sprechen, aber es gibt eine dringendere Angelegenheit, eine nämlich, die in gewissem Maße deine Reizbarkeit erklärt. Fühlst du, dass etwas anders ist? Dass etwas nicht stimmt?«

Isak warf seinem Herrn einen fragenden Blick zu, denn er wusste nicht, was Bahl von ihm erwartete. Der Lord seufzte.

»Schon gut, ich war nicht sicher, ob du es erkennen könntest, aber ich glaube, es beeinflusst dich dennoch. Du wirst es gewiss bemerken, sobald du seine Anwesenheit stärker gespürt hast.«

Isaks Gesicht blieb ausdruckslos. Bahl stand auf und breitete verzeifelt die Arme aus. »Wir haben einen Besucher. Ich habe ihn erst bemerkt, nachdem wir die Elfen vertrieben hatten, aber jetzt ist er in der Stadt und kurz davor, an unserem Tor anzukommen. Nimm dein Schwert auf und komm mit mir. Wir wollen ihn empfangen. Aber halte dein Gemüt im Zaum. Er neigt nicht so zum Verzeihen, wie andere das tun.«

Isak wartete auf einen Namen, aber Bahl beachtete ihn nicht, sondern trat mit einem kleinen Lächeln um ihn herum und öffnete die Tür.

Das Hauptgebäude war vier Stockwerke hoch und unter ihm erstreckten sich weitläufige Keller. Bahls Räumlichkeiten, die den Großteil des kleinen obersten Stocks einnahmen, waren von einem Balkon umgeben, von dem man über das spitze Dach der großen Halle hinweg auf die Stadt blicken konnte. Der Palast war wesentlich praktischer angelegt, als der Name glauben machte, denn ihm fehlte all der Schmuck, durch den sich die Häuser der reichsten Adligen in der Stadt auszeichneten. Nur in Kleinigkeiten, wie der Anzahl der Glasfenster, offenbarte sich der Festungscharakter des Tirah-Palastes.

Beide Männer trugen weiche Lederstiefel. Trotz ihrer Größe schritten sie die Haupttreppe so leise wie Panther herunter und erschreckten einen Soldaten und eine Magd, die an ihrem Ende verschwörerisch miteinander sprachen. Beide zuckten zusammen, als sich Isak unmittelbar hinter ihnen räusperte. Isak schmunzelte, als sie sich verbeugten und dann rasch aus dem Weg sprangen, weil Bahl unaufhaltsam weiterging.

In der Großen Halle zogen sie einige neugierige Blicke auf sich, doch sie wurden abgelenkt, als das Warnhorn durch die klare Winterluft hallte. Die Männer sprangen so schnell auf die Füße und griffen nach ihren Waffen, dass Schüsseln, Gläser, Krüge und Besteck durch die Luft flogen. Zwei Wachen waren gerade hereingekommen, als das Horn erklungen war. Als das lautere eiserne Klingen des Angriffsalarms erklang, hatten sie ihre Waffen schon gezogen und waren bereit.

Bahl ging, unerschütterlich ruhig, durch die offene Tür, und Isak folgte ihm noch immer auf dem Fuße. Die Stufen, die zum Übungsplatz hinabführten, waren vereist und rutschig, aber er schritt eilig hinunter und hielt geradewegs auf die Vorburg zu. Isak bemerkte ein helles Licht, das aus dem sonst dunklen Tunnel strahlte.

Er beeilte sich, mit Bahl Schritt zu halten, da traf ihn eine Welle der Erkenntnis und erschütterte ihn bis ins Innerste. Er konnte den Nachhall von Magie spüren, ein seltsames Gefühl, bei dem ihn all seine Nerven schreiend vor Gefahr warnten. Er griff so plötzlich nach Eolis, dass die an ihm vorbeieilenden Geister überrascht zurückwichen.

Die Klinge hatte er bereits halb gezogen, als ihm auffiel, dass der alte Lord noch immer völlig sorglos erschien. Er konnte es mit Sicherheit auch spüren, aber es schien ihn nicht zu scheren. Isak steckte Eolis wieder in die Scheide, lief los und holte ihn ein. Jetzt erkannte er den Unterschied, den Bahl erwähnt hatte, das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Im Tunnel sahen sie sechs Männer mit gezogenen Waffen, die wie erstarrt vor einer riesigen Figur standen. Ein tiefes, bellendes Lachen hallte ihnen entgegen. Dichte Flammen züngelten aus der vorgestreckten Hand des monströsen Besuchers. Isak fühlte, dass Bahl selbst Magie in sich sammelte und tat es ihm gleich, kämpfte gegen das Verlangen an, Eolis zu ziehen und anzugreifen.

Als er näher kam, konnte Isak den Neuankömmling besser sehen und erkannte überrascht, dass es ein Chetse-Weißauge war, ein großer Mann, dessen ausladender Brustkorb beinahe jeder Beschreibung spottete. Der Chetse war kleiner als Isak, nur eine Hand größer als die Wachen, die mit gespannten Bögen auf ihn zielten. Die mangelnde Größe täuschte aber nicht über seine unglaubliche Masse hinweg.

Im Vergleich zu den Farlan waren alle Chetse muskulös, doch dieser Mann hätte eine Karikatur sein können, wäre da nicht die Aura reiner, ungezügelter Stärke gewesen, die ihn umgab. Er lachte vor Freude, während Flammenzungen über die Decke strichen und seine Arme in Kreisen umspielten.

»Lord Bahl«, donnerte der Mann, als er das herankommende Paar entdeckte. Die Geister sanken vor Erleichterung beinahe in sich zusammen, als Bahl ihnen bedeutete, die Waffen zu senken.

»Lord Chalat, willkommen in meinem Palast«, antwortere Bahl freundlich — und der Chetse ließ die Magie versiegen. »Darf ich Euch meinen Krann vorstellen? Lord Isak – Lord Chalat, der Erwählte Tsatachs.«

Isak verneigte sich befangen, doch sein offensichtliches Unwohlsein verstärkte das Grinsen des Chetse nur noch. Bahl legte den Kopf auf eine Seite und Isak riss seinen Blick von dem Weißauge los und sah hinter dem Chetse etwas Seltsames: Eine vollständig gerüstete Wache stand gegen die Wand gedrückt, seine Waffen waren zu seinen Füßen auf dem Boden verteilt. Ein Fremder von kleinem Wuchs hielt den Fuß fest auf die Kehle der Wache gedrückt. Der kleine Mann hielt einen eisenbeschlagenen Kampfstab in der Hand und schien nicht gewillt, die Waffe abzugeben. Hinter den anderen Geistern sah Isak, wie sich einer von ihnen verlegen Blut vom Mund wischte und ein anderer schwankte, den Helm schief auf dem Kopf.

»Und Euer Begleiter?«, fuhr Bahl nach einer Pause fort. »Und warum versucht er, meine Wachen zu töten?«

Unter dem Blick des Lords beugte der Mann sein Bein, blieb einen Augenblick so stehen und setzte den Fuß dann ab. Er trat zurück und nahm eine weniger angreifende Pose ein, wirkte aber im Angesicht eines Weißauges, das mehr als einen halben Meter größer war als er, beeindruckend stolz.

»Ah, das ist nun wirklich ein Mann mit einer interessanten Geschichte«, antwortete Chalat in akzentschwerem Farlan, noch immer gut gelaunt. »Bietet uns Essen und Trinken an, und wir erzählen Euch alles.«