34

Durch die Taubheit eines leeren Raumes spürte er eine Hand, die seine Wange sanft streichelte. Bilder erschienen vor seinem geistigen Auge, Leute und Orte, die er nicht erkannte, obwohl Erinnerungen daran in seinem Geist aufstiegen. Nur das geduldige Streicheln der Finger hielt sie ab. Von der beruhigenden Berührung breitete sich seine Wange hinab eine Wärme aus, am Hals und an der Brust entlang und in die Gliedmaßen. Langsam sorgte die Wärme dafür, dass ihm der Rest seines Körpers bewusst wurde, die verdrehten und zerbrochenen Linien seiner Haut. Die Narbe auf seiner Brust glühte blendend weiß und sandte Lichtfäden in die Dunkelheit.
Isak, du musst aufwachen.
Die Stimme erweckte eine Erinnerung, die so tief verwurzelt war wie sein Instinkt, weiter aber nicht reichte. Es scherte ihn nicht. Die Silben, die diese warme Stimme sprach, vertrieben den Schmerz. Und mehr wollte er für den Augenblick gar nicht.
Isak, du musst kämpfen.
Der Name sandte ein Schaudern über seinen Rücken. Er wehrte sich, doch etwas tief in ihm regte sich. Er bemerkte den Geschmack von Blut auf seinen Zähnen.
Isak, wach jetzt auf. Hilfe ist unterwegs.
Unverlangt hob sich sein Brustkorb zu einem tiefen Atemzug. Die feuchte Wärme verließ seine Haut, als das Tageslicht in seine Augen stach. Er erinnerte sich jetzt an seinen Namen – und sogleich kehrte der Schmerz zurück. Der Geschmack von Blut in seinem Mund wurde stärker.
»Ich glaube, die Propheten irren sich.«
Isak, der schlaff in irgendwelchen Armen hing, wimmerte bei der plötzlichen Helligkeit auf. Als seine Sinne zurückkehrten, bemerkte er, dass er den Akzent der Sprecherin nicht einordnen konnte. Ihr Farlan klang beinahe hässlich, als spräche sie jede Silbe mit Widerwillen.
»Warum sagt Ihr das, Herrin?«, wurde weinerlich gefragt.
»Wie könnte es so einfach zu fangen sein, wenn es sich doch um die Waffe handelte, die wir erwartet hatten? Ostia?«
»Ich weiß nicht mehr als Ihr, Meisterin«, sagte eine dritte Stimme. Isak zwang seine Augenlider auf. Herzogin Forell stand auf der einen Seite, die Hände nervös auf die Brust gepresst. Die Frau, die soeben gesprochen hatte, Ostia, stand neben der Herzogin, eine Oase der Ernsthaftigkeit und Ruhe in den verstreuten Trümmern des Pavillons hinter sich. Sie standen in der Arena, dachte Isak, aber es war ruhig, sogar die verbleibenden Soldaten standen bewegungslos da und beobachteten die Vorgänge.
Alle drei Frauen trugen die weißen Mäntel des Weißen Zirkels über prunkvollen Kleidern in Rot und Blau, mit Edelsteinen verziert und mit Silber und Gold bestickt.
»Es ist jung, jung genug, um ausgebildet zu werden.«
Isak konzentrierte sich auf die Sprecherin und blinzelte überrascht, als er ihre bemerkenswerte Größe und die Farbe ihrer Haut bemerkte. Ein weibliches Weißauge. Sie trug die weiße Kapuze, aber Isak konnte erkennen, dass ihre Haut rostrot war. Es erinnerte ihn an Xeliaths glatte Haselnusshaut, allerdings mit einer roten Schicht darüber.
»Lasst es allein stehen«, befahl die Frau. Die Unterstützung an seinen Armen verschwand und er sackte zusammen. Als seine Augen vor ihrem Körper hinabglitten, erstarrte er vor Schreck. Sie hielt einen Kristallschädel in den Händen, die langen Finger auf eine Weise schützend darum geschlossen, dass beide Augenhöhlen verdeckt waren. Der Schädel selbst war klein, unauffällig, die Oberfläche matt, aber Isak konnte das gewaltige Gewicht des Schädels dennoch auf seinen pochenden Schläfen lasten spüren.
Das also hatte ihn besiegt. Der Schädel war mächtiger als alles, was er sich hätte vorstellen können. Und selbst jetzt noch hielt er ihn mit erschreckender Leichtigkeit gefangen.
Isak versuchte, sich heimlich in der Arena umzusehen. Er sah keine Spur von seinen Freunden, nur verstreute Körper, die wohl tot sein mussten. Entfernt konnte er das Klirren von Waffen hören.
»Sie haben dich zurückgelassen.« Das seltsame Weißauge zeigte Isak die Zähne. »Sie sind geflohen, aber sie kommen nicht weit. Sollen wir nachsehen, wer noch lebt?«
Sie sah zu der Frau hin, die Isak für Ostia hielt, und diese nickte. Er konnte spüren, dass sie Magie wirkte. Sie sah mit einem fragenden Gesichtsausdruck zur Stadt, bis ein Stirnrunzeln über ihr Gesicht huschte.
»Was ist …« Plötzlich schrie sie auf und umfasste ihren Kopf. »Bei der Grube von Ghenna, was war das?«, rief sie.
»Nun? Was ist geschehen?«, verlangte das Weißauge wütend zu wissen. Ihre eigenene Fähigkeiten waren offensichtlich begrenzt, gleichgültig wie viel Kraft der Kristallschädel ihr verlieh. Isak konzentrierte sich auf Ostia. Die Stadttore ausspionieren zu können war schon eine beachtliche Leistung. Nah genug heranzukommen, damit der Dämon ihr schaden konnte, war jedoch unglaublich. Isak fragte sich, ob Bahl dazu in der Lage wäre.
»Schlauer Bastard«, sagte Ostia nachdenklich. Sie beachtete die Ungeduld des Weißauges gar nicht, doch einige Augenblicke später sagte sie: »Ich bezweifle, dass es jemand geschaft hat, das Tor vor dem König zu verschließen. Ein Dämon hat gerade das Torhaus bezogen.«
Isak kicherte. »Da seid ihr wohl doch nicht so schlau, wie ihr dachtet, was? Ein solches Pech.«
Eine Schmerzwelle, breit wie eine Straße, brandete durch seinen Körper. Das Weißauge zischte verärgert auf. »Das wirst du nicht mehr denken, wenn man dich erst an mich gebunden hat. Dann wirst du so eifrig wie ein Hund darauf brennen, dich um das Königsproblem zu kümmern.«
Isak wurde bleich und seine Augen weiteten sich vor Angst. Er fühlte sich, als sehe er einen Pfeil auf sich zurasen. Plötzlich krampfte er heftig zusammen und die beiden Wachen ergriffen wieder seine Arme, um seinen Sturz zu verhindern. Mit einem Blick forderte das merkwürdige Weißauge eine Erklärung von Ostia.
»Ich weiß nicht, aber ich würde vorschlagen, Ihr hört mit dem auf, was Ihr mit ihm angefangen habt.«
»Ich habe gar nichts getan«, sagte sie wütend und trat einen Schritt zurück, als Isak auf die Knie fiel und zitterte.
Isak.
Die Welt drehte sich um ihn. Ohne Vorwarnung übergab er sich, verteilte den Inhalt seines Magens über den aufgewühlten Boden. Das Weißauge riss ihr Kleid angewidert aus dem Weg, als Erbrochenes den Saum beschmutzte, aber sie wich nicht zurück. Sie streichelte den Kristallschädel nachdenklich. Dies war kein Trick, da war sie sich sicher.
Isak, kannst du es spüren? O ihr Götter, spürst du es? Xeliaths Stimme hallte laut durch Isaks Geist.
»Was ist das?«
Ein Sturm zieht über das Land. Nartis selbst ist es, auf dem Weg, dir seinen Segen zu spenden. Panik klang in ihrer Stimme mit, Panik und zugleich eine euphorische Freude. Lord Bahl ist zum Palast auf der Weißen Insel gegangen, um sich seinem Verderben zu stellen.
Isak konnte das Zittern des Landes unter seinen Fingern spüren. Als die Kälte schmerzhaft in seine Zehen drang, erkannte er den Ort nur zu gut wieder.
Die Steinwand war eiskalt, als er sich mit der Hand abstützte. Er blickte auf den erstaunlich leeren Strand hinaus und erkannte, wo er war. Ein einzelner, sonnengebleichter Felsen lag auf dem glatten, ebenen Sand, weit von der unermüdlichen Berührung der Wellen entfernt.
Er wandte sich vom Fenster ab und ließ sich wie ein Pusteblumensamen von der leichten Brise den Flur entlangtreiben. Seine Gedanken drehten sich um den Mann, von dem er wusste, dass er in Kürze sterben würde. Es war ein Mann, den er seinen Freund nannte. Der Mann, dem er aus Furcht nichts von seinen Träumen erzählt hatte.
Diesmal war er wach, und er wusste, dass er sich nicht gegen die Strömung wehren sollte, die ihn vorantrug. Seine nackten Füße flüsterten Warnungen auf dem glatten Boden, aber er beactete sie nicht und ging weiter auf einen Torbogen vor sich zu. Als er die Kuppelhalle betrat, verließ ihn beinahe die Kraft, weil ihn das immense Gewicht des Alters darin plötzlich umgab.
Er zog sich mit zitternden Gliedern auf die Statue vor sich zu und mit letzter Anstrengung schaffte er es auch, den Kopf auf das Podest zu legen. Er erstarrte bei dem Anblick, der sich ihm bot.
Lord Bahl stand in der Mitte, wie er es in seinen Träumen stets getan hatte, selbst als er nur ein namenloses Gesicht gewesen war. Er wirkte gebieterisch, mächtig, denn Magie und Wut erfüllten seinen Leib. Er tanzte und wirbelte mit tödlicher, atemberaubender Eleganz herum, als der dunkle Ritter angriff. Aber jeder Schlag wurde abgewehrt und erwidert. Ein dunkles Lachen grollte durch die Kammer und Bahls Schläge wurden schneller und verzweifelter.
Dann bot sich eine Öffnung und der unbekannte Ritter zuckte vor, schneller als Isak verfolgen konnte. Das legendäre maskierte Gesicht fiel und rollte in einer roten Wolke davon. Isak stöhnte laut auf, wie er es schon ein Dutzend Mal getan hatte, jedes Mal, wenn er von diesem Tod geträumt hatte. Doch diesmal schien es wahr zu sein. Trotz allem war es also wahr geworden – und er hatte seinen Lord nie gewarnt …
Schuld strömte wie Gift in ihn ein und seine Tränen brannten wie Säure auf seinen Wangen.
Der Ritter drehte sich zu dem Stöhnen herum, das gezahnte Schwert zu einer weiteren Herausforderung erhoben. Die schwarze Rüstung war von uralter Machart und fantastisch verziert, mit perlenbesetzten Graten und silbernen Spiralen. Die Hand des Ritters war nackt, ganz der Luft ausgesetzt, und so bleich wie die einer Leiche. Das Monogramm an seiner Kehle – die ineinander verschlungenen Buchstaben K und V – machten deutlich, wem diese Rüstung einmal gehört und welcher legendäre Krieger Lord Bahl erschlagen hatte.
Isak stand auf, und diesmal hielt er Eolis in der Hand. Doch als er hinabsah, bemerkte er, dass die Klinge so dünn und gewichtslos wie Morgennebel war. Er versuchte die Waffe zu heben, aber trotz seiner Wut brachte er nur einen Schritt vorwärts zustande. Er sank auf die Knie, erschöpft und schlotternd vor Trauer. Als er auf seine Hände blickte, sah Isak, dass sie im matten Licht kaum sichtbar waren, wie das Schwert in seiner Hand, und mit jedem verstreichenden Augenblick wurden sie noch durchscheinender.
Kastan Styrax kicherte boshaft und ließ die Waffe sinken. Eine Spur Blut tropfte auf den Stein – Bahls Blut, dachte Isak und musste beinahe schluchzen. Er salutierte spöttisch vor Isak und wandte sich ab. Dann ging er mit dem Breitschwert auf der Schulter davon.
Er rief Isak durch die Halle zu: »Ein andermal, Junge.«
»Herrin, die Zeremonie findet nicht statt, wenn er bewusstlos ist.«
»Dann wecke ich es eben. Ach, es erwacht bereits.«
Isak öffnete die Augen und sah das Weißauge auf ihn herabstarren. Die Herzogin stand gebeugt neben ihr. Ostia zog mit dem Zeh einen Kreis auf den Boden.
»Zeremonie?«, murmelte er benommen.
»Ja, Hund: Zeremonie! Gefährliche Tiere muss man zähmen, bevor sie von Nutzen sind.«
Neue Kraft strömte in Isaks Glieder. Die Luft schmeckte süßer, als er tief durchatmete. Er spürte die verwirrenden Meilen Luft über sich und die schwere Sicherheit von Erde und Fels unter seinen Füßen. Ein Lächeln kroch auf seine Lippen, trotzdem sein Freund und Herr gestorben war. In seinen Adern prickelte das Leben, als über ihm Wolken dahinrasten, um seinen Aufstieg zu feiern. Der Tag war klar und frisch gewesen, aber mit jedem freudigen Atemzug lockte Isak den Sturm näher heran.
Er konnte nun Nartis spüren, nicht als die erschreckende Gottheit aus seinen Träumen, sondern wie einen Bruder, einen Vater. Die Luft erzitterte, als der heilige Blick des Gottes durch die Wolken brach und wie eine Krone auf Isaks Haupt zur Ruhe kam. Die Kraft des Gottes stand ihm zur Verfügung. Sein Zorn verlieh Isaks erschöpften Gliedmaßen Kraft.
»Bei meinen Leuten kennt man ein Sprichwort«, sagte Isak.
Die Frauen unterbrachen ihre Handlungen und sahen ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Isak blickte sie eine nach der anderen an, verharrte aber am längsten auf Ostia. Plötzlich bemerkte sie die Veränderung in der Luft. Sorge bahnte sich einen Weg in ihre Züge, als sie Nartis spürte. Isak bemerkte, wie seine Kraft wuchs und dann erkannte er in Ostias Augen, dass sie es ebenfalls bemerkte, aber sie überging es, als sei es für ihre Sache unwichtig.
Es bestätigte Isaks Vermutung, dass Ostia nicht die Feindin war – oder dass sie lediglich nicht vorhatte, sich Nartis zum Feind zu machen. Auf jeden Fall war es ein Problem weniger, und nun wusste Isak, wie er mit den anderen fertig werden konnte. Er grinste zu dem Weißauge hinauf.
»Sie sagen, dass nur ein Narr versucht, einen Wolf in einen Käfig zu sperren.«
Das Weißauge starrte ihn an, schnaubte dann geringschätzig, was die Herzogin eilig nachahmte.
»Dumme Kreatur«, sagte das Weißauge. »Du nennst dich einen Wolf? Ha! Du bist ein Tier, ja, aber niemand ist stark genug, um sich der Zeremonie zu widersetzen, gleichgültig welche großen Worte du über deine Entschlossenheit verkündest.«
Isak grinste weiter, während seine Stärke mit jedem Augenblick weiter zunahm. Er konnte Nartis’ Berührung überall auf seiner Haut spüren, und der göttliche Segen füllte seine Seele. Dies war die wahre Bedeutung des Daseins als Weißauge: Jede Faser vibrierte vor entrückender Energie. Ostia trat vorsichtshalber zurück.
»Ich stamme von Bauern ab, wir spucken keine großen Worte.«
»Ach?« Sie versuchte gelangweilt zu wirken, aber zum ersten Mal konnte er eine leichte Unsicherheit aus ihrer Stimme heraushören.
»Wölfe reisen nie allein.«
Sie hatte nicht einmal die Zeit, seine Worte zu verstehen, so schmerzerfüllt riss sie die Augen auf, und dann versteifte sich ihr Körper. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, der aber nie erklang. Ohne aus dem Schritt zu kommen, wirbelte Mihn an ihrem fallenden Körper vorbei, zog Arugin aus ihrem Rücken und brachte es hoch, um die Wache zu Isaks Rechten zu treffen. Isak drehte sich nach links und hieb seine Handfläche gegen die Kehle des anderen Soldaten. Er spürte ein Schnalzen, als etwas unter dem Treffer nachgab und zog dann das Schwert des Mannes aus der Scheide. Die Haut des Mannes war ebenfalls rostfarben. Isak bemerkte am Rande, dass seine Rüstung ungewöhnlich geformt und gefärbt war.
Als er sich umdrehte, sprang Ostia gerade elegant vor, fing den Kristallschädel, während das Weißauge noch stürzte, rollte sich ab und kam wie ein Straßenakrobat wieder auf die Füße. Herzogin Forell grabschte nach dem Artefakt, als sie sich aufrichtete, aber Ostia ließ den Schädel mühelos durch die Hände der Herzogin gleiten und trat zu.
Isak hörte einen Knochen brechen. Die Herzogin brach vor Schmerz brüllend zusammen.
Aus dem Augenwinkel sah Isak einen Mann – einen Söldner – losstürmen, darum drehte er sich um und sprang vor, durchstach mit seiner erstaunlichen Stärke den Schild des Mannes und traf ihn in den Bauch. Er riss die Klinge brutal wieder heraus, wobei sie in der Mitte zerbrach, und warf den Rest der Waffe auf den nächsten Soldaten, damit dieser Zeit genug hatte, das Schwert des Söldners aufzuheben.
Die anderen Söldner zögerten. Isak sah zu Mihn hinüber, vor dessen Füßen zwei Tote lagen. Tränen strömten über seine Wangen, während das Blut von einer Waffe tropfte, die er geschworen hatte nie mehr zu benutzen.
Dann spürte Isak Magie aus dem Kristallschädel hervorquellen und Ostia fauchte etwas. Er versuchte schnell eine Verteidigung gegen den unbekannten Zauber zu finden, doch dann bemerkte er, dass dieser gar nicht gegen ihn gerichtet war. Energiefäden zuckten in alle Richtungen und beschworen rote Krallen in der Luft um die restlichen Söldner hervor. Sie starben ohne einen Laut und so standen schließlich in einem Feld zuckender Leichen nur noch drei Gestalten.
Isak spürte Eolis, seinen Schild und den Helm auf einer Seite, sie lockten ihn zu sich. Er hielt Abstand von Ostia. »Wer im Namen der Götter bist du?«
»Nicht im Namen der Götter.« Sie lächelte lauernd, blickte auf die Toten – und Isak sah verlängerte Zähne hinter ihren zitternden Lippen. Sie zog sich mit den behandschuhten Fingern den Schal über den Kopf. »Erkennst du mich nicht?« In ihrer Stimme lag eine Zärtlichkeit, die sein Herz aussetzen ließ. Sie erinnerte ihn an Xeliath.
»Sollte ich dich denn kennen?«, fragte er, aber schon während er es aussprach, durchzuckte ihn die Erkenntnis. Nicht wer, sondern was. Sie hatte eine helle Haut und dunkles Haar, aber mit ihrem breiten Gesicht und den zarten Zügen war sie gewiss keine Farlan.
Die Zähne und der dunkle Hautflecken, der sich auf ihrer Wange bildete: von der Sonne verbrannt, wie er erkannte. Schließlich stieg ein Name auf.
»Ach, ich sehe es in deinem Gesicht«, sagte sie. »Mein Name ist Zhia Vukotic – aber du erkennst mein Gesicht nicht. Ich habe mich gefragt, ob das so sein würde. Aber es macht nichts.«
»Warum hast du deine eigenen Männer getötet?«
»Wenn du erraten kannst, was ich bin, dann weißt du auch sicher, dass ich zum Töten keinen Grund brauche, selbst nach deinen Maßstäben nicht.« Sie lachte spöttisch. »Ja, Junge. Ich weiß, das hast du nicht gemeint. Ich tötete sie, weil sie lästig geworden wären. Sie waren dem Zirkel treu ergeben.«
»Und das bist du nicht? Ich verstehe es nicht.«
»Offensichtlich. Kannst du erraten, wer sie sind? Oder bist du wirklich so dumm? Dann sollte ich dich auf der Stelle von deinem Leid erlösen.«
»Sie … ich habe noch nie jemanden wie sie gesehen.«
»Dann will ich es erklären: Dein Mann hat gerade die Königin der Fysthrall getötet. Dies ist das Zeitalter der Erfüllung – und die Verbannten sind zurückgekehrt. Sie haben sich so sehr verändert. Einst waren sie wunderbar …« Ihre Stimme verklang und sie zuckte die Achseln. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Der Weiße Zirkel ist ihre Sache, nicht meine.«
»Warum mischst du dann mit? Weil sie einst deine Verbündeten waren?«
»Nostalgie? Hah.« Ihr Lachen trug den Widerhall der Jahre. Die Erinnerung an den Inselpalast regte sich in Isaks Geist. Zhia offenbarte die gleiche matte, zeitlose Art. Er verdrängte die Erinnerung an Bahls Tod. Darum würde er sich später noch kümmern. Jetzt wollte er sich nicht der Trauer hingeben.
»Ich überlasse meinem Bruder die Besessenheit in Bezug auf das Vergangene. Auf jeden Fall sind sie weit von dem entfernt, wie wir sie einst kannten. Sie hatten keine Ahnung, wer ich bin, wussten nur, dass ich mehr Geschick und Wissen aufzuweisen habe als jede andere im Zirkel. Die Verlockung des Schädels war so groß, dass ich die ruhige und getreue Dienerin spielte. Ich hatte nicht erwartet, dass es so leicht wäre, ihn an mich zu nehmen.«
»Das war der einzige Grund, warum du bei ihnen warst?«
»Jetzt bemerkt man deine Unschuld. Da die Unendlichkeit vor mir liegt, unterhalte ich mich mit Politik, selbst wenn nichts dabei herauskommt.« Zhia zuckte erneut mit den Schultern, wobei sie darauf achtete, den Schal nicht herunterrutschen zu lassen und sich damit der Sonne auszusetzen. »Wenn es Zukünftigem nutzt, umso besser.«
»Zukünftigem?«
Ihre Geschwätzigkeit machte Isak misstrauisch. Sie waren das Urbild von Feindschaft: Isak war noch stärker als die meisten anderen Erwählten gesegnet; Zhia und ihre Brüder und Schwestern waren dagegen mehr als alle anderen verflucht.
»Für Narkangs König drängt die Zeit. Ich schlage vor, du versuchst, ihm beizustehen.« Sie zwinkerte, dann verzog sie ungeduldig die Lippen, als Isak sie nicht zu verstehen schien. »Pass auf, Junge: Die Fysthrall sind viel eher deine Feinde, als ich es bin. Sie treibt nur ein Ziel an: Sie wollen sich an den Göttern rächen, die sie verbannten. Durch die Erlöser-Prophezeiungen betrachten sie dich verständlicherweise als Gefahr für ihre Pläne – und dazu kommt noch, dass du auch in ihren eigenen Prophezeiungen auftauchst. Du bist der Schlüssel zum Ende ihres Exils, oder besitzt ihn zumindest.«
»Dann sind sie es, gegen die der Erlöser kämpfen soll?« Isak war sich nicht sicher, dass er darauf eine ehrliche Antwort hören wollte. Wie die meisten hatte er vermutet, dass es eine Art Katastrophe geben und die schleichende Sorge vor dem Unglück am Horizont aufziehen würde, bis es so weit war.
»Das glauben sie, aber sie sind geistig sehr beschränkt. Ich schlage vor, dass du dich eher um deinen eigenen Schatten kümmerst als um die Fysthrall. Deinen Freund, den König, solltest du zum Erlöser befragen. Er hat einige hervorragende Abhandlungen zu diesem Thema geschrieben. Der Mann ist von Geschichte besessen und auch davon, seine Spuren in ihr zu hinterlassen. Jetzt kehre zu deinen Freunden zurück.«
Isak spürte, dass sie von ihm enttäuscht war, aber er konnte nicht erkennen, was der Grund dafür sein mochte. War er nicht das, was sie erwartet hatte – oder hatte Siulents alte und unschöne Erinnerungen herraufbeschworen?
»Was ist also nun deine Rolle bei der ganzen Angelegenheit?«, fragte er leichthin.
»Spiele nicht mit mir, Junge. Dem bist du nicht gewachsen.«
»Du sagtest, ihre Sache wäre nicht die deine«, erklärte er schnell. Er war sich des verärgerten Prickelns von Magie um sie herum sehr wohl bewusst. »Was willst du? Offensichtlich nicht meinen Tod.«
»Nichts, was du mir geben könntest. Aber du solltest mit Leichtigkeit darauf kommen, wenn du nur etwas Vorstellungskraft hättest. Das reicht jetzt. Verschwinde.«
Er wartete nicht darauf, dass sie es ihm erneut befahl. Seine Freunde brauchten ihn. Isak sah, dass das Haupttor der Arena am Boden lag, genauso wie Emin es angekündigt hatte, und überall lagen Tote – Königswachen, Söldner, gewöhnliche Leute, Adlige wie Bauern. Er entdeckte Vesnas auffällige Rüstung nicht unter den Gefallenen, also musste er es wohl hinausgeschafft haben.
Auf der Rückseite der öffentlichen Ränge standen einige Pferde an einen Balken angebunden, bewacht von einem Söldner, der zu einer Anhöhe gegangen war, um möglichst viel vom Kampf zu sehen. Die künstliche Kraft seines Aufstiegs pulsierte noch in Isaks Gliedern, und so traf er genau, als er Eolis warf und den Mann aus zehn Metern Entfernung aufspießte. Wie ein Jagdhund lief Mihn hinüber, um das Schwert zu holen. Als er zurückkam, sah Isak Tränenspuren in seinem Gesicht.
»Danke«, sagte er, als Mihn ihm Eolis reichte. Er ergriff Mihn an der Schulter und hielt ihn fest, zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen, obwohl der Mann es kaum ertrug, den Kopf zu heben.
»Ich bin dein Gefolgsmann«, sagte er leise. »Es war meine Pflicht.«
»Das meinte ich nicht«, sagte Isak. »Ich weiß, dass du den Tod nicht fürchtest, wie es ein vernünftiger Mann sollte. Und tapfer zu sterben wäre hier ein Leichtes gewesen, obwohl ich auch weiß, wie schnell du bist. Du bist der beste Schwertkämpfer, den ich je sah. Dadurch muss es noch schwerer sein.«
»Ich brauchte Arugin. Tapfer zu sterben hätte meine Schande nicht ausgemerzt. Eure Sache ist ebenso mein Leben, wie es meine Buße ist.«
Es fiel schwer, mit ihm zu streiten, aber es gab Dinge, die erledigt werden mussten. Isak versprach sich im Stillen, dies später fortzusetzen und wandte sein Pferd dann zur Stadt. »Komm, wir müssen die Bäder erreichen. Ein Mann, der einen Tunnel baut, baut auch mehrere. Ich kann Emins Verstärkung nirgendwo sehen, es mag also eng werden, und ich habe nicht vor, beiseitezustehen und zuzuschauen.«