21

»Und so ist es gewesen«, sagte Chalat und beendete seine Geschichte mit einer ausladenden Geste. Dann setzte sich der gewaltige Mann wieder auf den Stuhl, den man eilig aus den oberen Räumen geholt hatte, biss das letzte Stück Fleisch von der Lammkeule in seiner Hand und warf sie zufrieden über die Schulter hinter sich. Der Knochen schlug gegen die Wand und fiel zu Boden, wo sich ein Hund darauf stürzte. Nur das Geräusch des nagenden Tieres störte die Stille, als die kleine Versammlung über Chalats Worte nachdachte.
Die acht Männer saßen um einen runden Tisch in der Kammer am Fuße des Turms von Semar. Bahl hatte nur seine engsten Vertrauten zugelassen, Kerin, Lesarl und Lahk. Isak aber hatte Vesna mitgebracht. Darüber würden sich die anderen Adeligen im Palast möglicherweise beschweren, aber Bahl hatte die Anwesenheit des Grafen demonstrativ unbeachtet gelassen. Vesna hatte davon gesprochen, dass er eine Schuld auf sich genommen und Lesarl ihm irgendwie geholfen habe. Offensichtlich schuldete der Graf nun jemandem einen Gefallen, aber Bahl war froh, dass er sich an Isak gebunden hatte.
Was Carel betraf, so wollte sich Isak erst einmal in aller Ruhe mit dem alten Mann unterhalten, bevor er ihn in die Landespolitik zog.
»Mihn«, sagte Isak plötzlich. Der Begleiter des Chetse machte ihn neugierig. Die Art des Mannes war sehr ruhig und gefasst, zeugte von großem Selbstbewusstsein. »Lord Chalat sagte, Ihr kämet von den Clans der Nordküste.«
Mihn nickte einmal.
»Wie kommt es dann, dass Ihr so gut Farlan sprecht?« Isak war entschlossen, dem Mann mehr als ein Nicken zu entringen. Etwas an Mihns Sprache rumorte in seinem Hinterkopf, aber Isak konnte es noch nicht einordnen.
»Alle Clans sprechen Farlan«, sagte Mihn und verdoppelte damit die Zahl der Wörter, die er seit seiner Ankunft gesprochen hatte.
»Aber warum? Ihr seid doch sicher zu fern, um in Verbindung mit uns zu bleiben.«
»Farlan ist die Wurzel unserer Sprache, und da der große Wald nur einen Wochenritt entfernt liegt, müssen wir mit den anderen Clans im Austausch bleiben«, sagte der Mann.
»Alle Sprachen des Landes entstammen der gleichen Quelle«, unterbrach Lesarl nachdenklich. »Da Mihn auch Chetse spricht, bin ich sicher, dass er neue Sprachen ebenfalls sehr schnell lernen könnte.«
Mihn blickte misstrauisch drein. Der Haushofmeister musterte ihn eingehend und blinzelte dabei kaum. Isak wusste, dass Lesarl jedem misstraute, aber diesmal war er der gleichen Meinung, und plötzlich kannte er die Antwort – aber daraus erwuchsen nur noch mehr Fragen.
Vielleicht merkten es die Adligen nicht, aber selbst nach sechs Monaten empfand Isak ihre Worte noch immer als überbetont. Mihn sprach wie ein Edelmann. Sein Rhythmus und seine gerundeten Silben wirkten zu kultiviert für einen Barbaren der Clans. Er war sicher kein Farlan, aber er war doch mehr, als er zugab.
»Mein Lord«, sagte Kerin und unterbrach damit die nachdenkliche Stille. »Dieser Dämonenpfeil klingt nach mächtiger Nekromantie, aber Malich ist bereits zu lange tot, um dies zu verantworten. Ich dachte, dass Malichs Fähigkeiten ausgesprochen selten waren. Darum glaube ich, dass ein Akolyth dies tat, oder dass er irgendwie aus dem Grab zurückgekehrt ist.«
»Das würde mich sehr wundern«, sagte Bahl. »Dem Tod zu trotzen ist deutlich schwieriger, als eine Leiche zu beleben oder einen Dämon zu beschwören. Meinem Wissen über die Totenbeschwörung nach haben wir den Körper für diese Möglichkeit zu gründlich verschwinden lassen.« Der Hauch eines Lächelns lag auf seinen Lippen. Isak erinnerte sich daran, wie Genedel auf dem Schlachtfeld Leichen gefressen hatte und lächelte ebenfalls.
»Nun, auf jeden Fall haben wir ein Problem«, sagte Vesna. »Entweder hatte Malich einen Akolythen, der stark genug ist, so einen Zauber selbst zu wirken, was wir jedoch sicher bemerkt hätten, oder …«
»Oder er hat nichts damit zu tun«, vollendete Kerin.
»Ich stimme dem zu.« General Lahk fühlte sich unter dem Blick aller Anwesenden nicht sonderlich wohl. Das sah man. Er hielt sich so gut es ging von Isak und Bahl fern. Es war für ihn keine angenehme Situation, den Raum mit drei Weißaugen zu teilen, die allesamt deutlich stärker waren als er.
»Dies schwächt Eure Armee erheblich, Lord Chalat. Charr ist für einen Krann noch sehr jung, und nach dem, was ich gehört habe, lässt er selbst an seinen besten Tagen die Klugheit ein wenig vermissen. Ich bezweifle, dass der Dämon, von dem er besessen ist, mehr darüber weiß, wie ein Heer zu führen ist.«
»Siblis?«, schimpfte Chalat – und Isak spürte die Wut des Chetse-Lords bei diesem Wort aufwallen.
»Wir wissen, dass sie Trupps auf der Suche nach Waffen nach Norden ausgeschickt haben. Vielleicht haben sie stattdessen Verbündete gefunden. Die Elfen hätten die Waffen erschaffen können, die sie brauchen. Euch zu töten, Lord Chalat, wäre unglaublich schwierig gewesen und hätte den Krieg nicht entschieden, denn es gäbe noch immer Eure Generäle. Aber den Kommandanten zu beherrschen und den Krieg auf beiden Seiten zu lenken …« Die Stimme des Generals verklang und ließ jeden seinen eigenen Schluss ziehen.
Chalat ballte wütend die Faust, dass sich auf den Muskelmassen seiner Arme zornige Adern wanden. Bahl hingegen wirkte insgesamt grüblerisch, stützte in Gedanken verloren die Ellenbogen auf den Tisch.
»Das ist ein guter Punkt, Lahk«, sagt Bahl nach einer Pause ernst. »Mir fällt kein Grund ein, der plausibler wäre. Ich frage mich nun, was die Siblis sonst noch ausgehandelt haben, und was wohl der Preis dafür war.«
»Nun, mit solchen Dingen kenne ich mich nicht aus. Zauber, Flüche, Verzauberungen, zur Hölle damit. So habe ich meine Schlachten nicht geführt«, grollte Chalat laut.
»Aber wie es aussieht, müsst Ihr Eure Taktik ändern.« Lesarl überging das Aufkeuchen, das er dafür erntete. »Ich kenne einen Mann, mit dem ihr sprechen solltet.
»Wer ist es?«, blaffte Chalat. »Und wo? An deiner Akademie der Magie?«
Lesarl lächelte kurz. »Bedauerlicherweise nicht, auch wenn ich sicher bin, dass Euch der Erzmagier auf jede erdenkliche Weise behilflich sein wird, sofern Ihr es schafft, weniger wie ein Weißauge auszusehen. Denn er hasst Eure Art.«
Isak erwartete einen Wutschrei, aber Chalat lächelte nur. Weißaugen, die schon lange regierten, waren offsichtlich in der Lage, sich zu beherrschen.
»Der wahre Fachmann steht dem Thema näher. Invriss Fordal ist schon seit Jahrzehnten eine Autorität auf dem Gebiet der Elfenmagie. Man nennt ihn exzentrisch, da er einer der wenigen ist, die tatsächlich Expeditionen in den Großen Wald unternehmen. Aber er ist eindeutig der Mann, der Euch helfen kann. Ich bin sicher, dass der Herzog von Lomin Euch gerne so lang es nötig ist als seinen Gast begrüßen wird.«
»Lomin. Wenn mir dort also langweilig wird und ich etwas töten will …«
»Ist der Wald nah genug. Und ich habe gehört, das Fest der Schwerter sei in der letzten Zeit ein eher langweiliges Ereignis gewesen.«
»Hah. Trotzdem hörte ich, der Herzog sei ein guter Mann, zumindest …«
»Ah.« Lesarls Lächeln blieb unerschütterlich. »Ich befürchte, diesbezüglich haben wir leider schlechte Neuigkeiten.«
Chalat schnaubte, denn er kannte Lesarls Ruf so gut wie jeder Farlan. Aber auch bei Bahl fand er nur ein Lächeln. Der Chetse-Lord warf die Arme in gespielter Aufregung in die Luft. »Nun gut, offenbar wollt Ihr mich um einen Gefallen bitten, etwas Einfaches, ohne große Mühe … Aber macht mir keine Vorwürfe, wenn ich den neuen Herzog vermöbele. Ich bekomme schlechte Laune, wenn es regnet, und hier regnet es verdammt noch mal immer.«
Lesarl konnte nicht verhindern, dass sich Freude auf seinem Gesicht zeigte. »Lord Chalat, ich bin sicher, dass man darüber nicht einmal ein Wort verlieren würde.«
Bahl erhob sich. »Lesarl, bereite eine Unterkunft für Lord Chalat vor. Ich bin sicher, dass ihm Tirah Unterhaltung bieten kann, also sorge dafür, dass er bekommt, was er wünscht. Isak, du hast eigene Vorbereitungen zu treffen. Nimm dir so viele Wachleute, wie du brauchst, um die Garderobe deiner Zofe zu tragen. Lesarl sagte mir, dass binnen dieser Woche noch neue Streitrösser eintreffen werden. Bis dahin hat – glaube ich – Kerin etwas mit dir vor.«
Alle standen auf und Mihn folgte Chalat auf dem Fuße, als man den Lord hinausführte. Chalat bemerkte es, blieb plötzlich stehen und wandte sich ruckartig zu Bahl um. »Ich habe eine Bitte, Lord Bahl.«
Bahl hob eine Augenbraue. »Mihn hat einen seltsamen Sinn für Ehre. Er bestand darauf, mein Gefolgsmann zu werden. Ich bin nur leider zu alt dafür, dass mir irgendein frommer Furz nachläuft. Aber wie Eure Wachen bestätigen können, wäre es eine Verschwendung, ihn einfach zu töten.«
»Worin besteht dieser Bund? Charr hervorzulocken?« Bahl sah zu Isak. Nach dem, was er im Tunnel gesehen hatte, hatte Bahl nicht erwartet, dass sich Mihn als eine so ruhige, unaufdringliche Person herausstellen würde. Mihn bewegte sich mit großer Anmut, in höherem Maße sogar als Graf Vesna, der zum Duellisten ausgebildet wurde, seit er eine Waffe halten konnte.
»Genau – auch wenn ich den Bastard gar nicht leiden kann. Allerdings hält Mihn meine Meinung auch nicht für wichtig. Ich weiß, dass er eine Zukunft hat, doch sie liegt nicht bei mir.«
»Nun, wir können nicht erlauben, dass ein Gast Unbequemlichkeiten erleiden muss. Ich schlage vor, dass das Gelöbnis auf meinen Krann übertragen wird.« Er wandte sich Mihn zu. »Deine Sprachkenntnisse könnten auf seiner Reise nützlich werden.«
Er machte eine Pause, um den Mann sprechen zu lassen, aber Mihn senkte nur zustimmend den Kopf. Es schien ihm gleich zu sein, was wiederum Bahls Neugier erregte. Er würde Isak anweisen müssen, so viel wie möglich über Mihns Geschichte herauszufinden, bevor sie aufbrachen. Erst da fiel ihm ein, Isak zu fragen, ob er etwas einzuwenden hatte. Aber sein Blick über den Tisch hinweg erntete nur ein zustimmendes Schulterzucken. Isak wollte eben mit seinem neuen Gefolgsmann sprechen, als Kerin an seiner Seite erschien. Voller Vorfreude rieb sich der Schwertmeister die Hände und legte sie Isak dann auf die breiten Schultern.
»Gut, mein Lord Krann, ich habe neue Übungen für dich. Du wirst erfreut sein zu erfahren, dass ich ein mit Blei gefülltes Rohr als Schwert und eine eigens angefertigte Rüstung für dich habe. Du wirst sie lieben.«
Isak stöhnte und sank wieder auf den Stuhl zurück. Kerin lachte und trat wirkungslos gegen das Stuhlbein. »Komm schon, Junge, für die nächste Woche bin ich dein Lord, also beeil dich.«