George
Der Okulist rät bei kleinen Kindern von einer Brille ab. Die Augen des Jungen sollen sich mit der Zeit lieber auf natürlichem Wege regulieren. Bis dahin soll er in der Klasse vorne sitzen. George lässt die Bauernjungen hinter sich und wird neben Harry Charlesworth gesetzt, der bei allen Prüfungen regelmäßig als Bester abschneidet. Nun bekommt die Schule für George einen Sinn; er sieht, wohin Mr Bostocks Kreide sticht, und beschmutzt sich auf dem Heimweg nie wieder.
Sid Henshaw schneidet weiter Grimassen, doch George nimmt das kaum wahr. Sid Henshaw ist nichts als ein dummer Bauernjunge, der nach Kuh riecht und dieses Wort wahrscheinlich nicht einmal richtig schreiben kann.
Eines Tages fällt Henshaw auf dem Hof über George her und rempelt ihn mit der Schulter an, und ehe George sich noch von seinem Schreck erholt hat, reißt er ihm die Schleife ab und läuft damit fort. George hört Gelächter. In der Klasse fragt Mr Bostock dann, wo seine Halsbinde geblieben sei.
Nun steht George vor einem Problem. Er weiß, dass man einen Klassenkameraden nicht anschwärzen darf. Aber er weiß auch, dass man erst recht nicht lügen darf. Daran lässt sein Vater keinen Zweifel. Wer einmal anfängt zu lügen, der gerät auf den Pfad der Sünde, und nichts kann ihn aufhalten, bis ihm der Henker eine Schlinge um den Hals legt. So direkt hat das niemand gesagt, aber so hat George es verstanden. Also kann er Mr Bostock nicht anlügen. Er sucht nach einem Ausweg – was man vielleicht auch nicht darf, weil es der Anfang einer Lüge ist – und beantwortet dann einfach die Frage.
»Sid Henshaw hat mich gestoßen und sie mir weggenommen.«
Mr Bostock zieht Henshaw an den Haaren hinaus, schlägt ihn, bis er schreit, kommt mit Georges Halsschleife zurück und erteilt der Klasse eine Lektion über Diebstahl. Nach der Schule stellt Wallie Sharp sich George in den Weg, und als der um ihn herumgeht, sagt er: »Du bist kein rechter Kerl.«
George schließt Wallie Sharp als möglichen Freund aus.
Was er nicht hat, erscheint ihm selten als Mangel. Die Familie nimmt nicht am gesellschaftlichen Leben des Ortes teil, doch George kann sich nicht vorstellen, was das bedeutet, geschweige denn, warum sie das nicht will oder kann. Er selbst besucht nie andere Jungen zu Hause und kann daher nicht beurteilen, wie es anderswo zugeht. Sein Leben ist sich selbst genug. Er hat kein Geld, aber auch keinen Bedarf daran, erst recht nicht, als er erfährt, dass die Liebe zum Geld die Wurzel allen Übels ist. Er hat kein Spielzeug, aber er vermisst es nicht. Für sportliche Spiele mangelt es ihm an Geschicklichkeit und Sehvermögen; nie hat er auch nur »Himmel und Hölle« gespielt, und ein geworfener Ball erschreckt ihn. Er ist schon zufrieden, wenn er brüderlich mit Horace spielen kann und vorsichtiger mit Maud und noch vorsichtiger mit den Hühnern.
Er weiß wohl, dass die meisten Jungen Freunde haben – in der Bibel gibt es David und Jonathan, und er hat gesehen, wie Harry Boam und Arthur Aram in einer Hofecke zusammenstehen und sich gegenseitig Sachen aus ihren Hosentaschen zeigen –, doch bei ihm ergibt sich das nie. Soll er etwas unternehmen, oder sollen die anderen etwas unternehmen? Überhaupt möchte er zwar Mr Bostock gefällig sein, aber ihm liegt nicht sonderlich daran, den Jungen gefällig zu sein, die hinter ihm sitzen.
Wenn Großtante Stoneham wie jeden ersten Sonntag im Monat zum Tee kommt, lässt sie die Tasse geräuschvoll über die Untertasse scharren und fragt ihn mit faltigem Mund nach seinen Freunden.
»Harry Charlesworth«, antwortet er dann immer. »Er sitzt neben mir.«
Als er der Tante zum dritten Mal dieselbe Antwort gibt, stellt sie die Tasse geräuschvoll auf die Untertasse zurück, runzelt die Stirn und fragt: »Und sonst?«
»Alle anderen sind bloß stinkende Bauernjungen«, erwidert er.
An der Art, wie Großtante Stoneham den Vater ansieht, erkennt er, dass er etwas Falsches gesagt hat. Vor dem Abendessen wird er ins Studierzimmer gerufen. Sein Vater steht hinter dem Schreibtisch, und in den Regalen hinter ihm ist die ganze Autorität des Glaubens aufgereiht.
»George, wie alt bist du?«
So fängt ein Gespräch mit dem Vater häufig an. Beide kennen die Antwort bereits, aber George muss sie dennoch geben.
»Sieben, Vater.«
»In dem Alter kann man mit Fug und Recht eine gewisse Intelligenz und Urteilskraft erwarten. Darum möchte ich dir folgende Frage stellen, George. Meinst du, du seist in den Augen Gottes mehr wert als Jungen, die auf einem Bauernhof leben?«
George merkt wohl, dass die richtige Antwort nein heißt, zögert aber dennoch. Für Gott ist ein Junge, der im Pfarrhaus wohnt, dessen Vater der Pfarrer ist und dessen Großonkel gleichfalls Pfarrer war, doch gewiss mehr wert als ein Junge, der nie zur Kirche geht und dumm ist und noch dazu grausam, wie Harry Boam.
»Nein«, sagt er.
»Und warum sagst du, dass diese Jungen stinken?«
Die richtige Antwort auf diese Frage ist weniger klar. George überlegt. Die richtige Antwort, hat man ihm beigebracht, ist die wahrheitsgemäße.
»Weil es so ist, Vater.«
Sein Vater seufzt. »Und wenn es so ist, George, warum ist es so?«
»Warum ist was so, Vater?«
»Dass sie stinken.«
»Weil sie sich nicht waschen.«
»Nein, George, wenn sie stinken, dann liegt das daran, dass sie arm sind. Wir haben das Glück, uns Seife und frische Wäsche leisten zu können und ein Bad zu besitzen und nicht in nächster Nähe zum Vieh zu leben. Sie sind die Elenden im Lande. Und sage mir, wen liebt Gott mehr, die Elenden im Lande oder die, welche voll falschen Stolzes sind?«
Diese Frage ist leichter, auch wenn George mit der Antwort nicht recht einverstanden ist. »Die Elenden im Lande, Vater.«
»Selig sind die Sanftmütigen, George. Du kennst die Stelle.«
»Ja, Vater.«
Doch etwas in Georges Innerem sträubt sich gegen diese Folgerung. Er glaubt nicht, dass Harry Boam und Arthur Aram sanftmütig sind. Auch kann er nicht glauben, dass nach Gottes ewigem Ratschluss für Seine Schöpfung Harry Boam und Arthur Aram am Ende das Erdreich besitzen sollen. Das würde Georges Gerechtigkeitsgefühl nun gar nicht entsprechen. Schließlich sind sie bloß stinkende Bauernjungen.