George
Georges »Entschuldigung« in der Zeitung eröffnet dem Pfarrer einen neuen Ermittlungsweg. Er sucht William Brookes auf, den Eisenwarenhändler des Dorfes und Vater von Frederick Brookes, Georges angeblichem Mitunterzeichner. Der Eisenwarenhändler, ein kleiner, rundlicher Mann mit grüner Schürze, führt Shapurji in einen mit Staubwedeln, Eimern und Zinkwannen vollgehängten Lagerraum. Er nimmt seine Schürze ab, zieht eine Schublade auf und reicht ihm ein halbes Dutzend verleumderischer Briefe, die seine Familie erhalten hat. Sie sind auf dem bekannten linierten, aus einem Notizbuch gerissenen Papier geschrieben, auch wenn das Schriftbild häufiger wechselt.
In dem obersten Brief steht in kindlichem, unsicherem Gekritzel: »Wenn du nicht von dem Schwarzen wegläufst, bring ich dich und Mrs Brookes um Ich weiß wie ihr heißt und ich werd sagen du hast geschrieben.« Andere zeigen eine zwar verstellte, aber doch energischere Handschrift. »Dein Kind und Wynns Kind haben einer alten Frau auf dem Bahnhof von Walsall ins Gesicht gespuckt.« Der Verfasser verlangt, als Entschädigung sei Geld an das Postamt von Walsall zu schicken. Ein späterer Brief, der an diesen geheftet ist, droht mit einer Anzeige, falls der Forderung nicht Folge geleistet wird.
»Ich nehme an, Sie haben kein Geld geschickt.«
»’türlich nicht.«
»Aber Sie haben die Briefe der Polizei gezeigt?«
»Polizei? Reine Zeitverschwendung. Sind doch bloß Kindereien, nicht wahr? Und wie es in der Bibel heißt, an Stock und Stein bricht mein Bein, ein Wort tut keinen Tort.«
Der Pfarrer berichtigt Mr Brookes Quellenangabe nicht. Er spürt auch eine gewisse Trägheit bei ihm. »Aber Sie haben die Briefe nicht einfach in eine Schublade getan?«
»Ich hab mich ein bisschen umgehört. Ich hab Fred gefragt, was er weiß.«
»Wer ist dieser Mister Wynn?«
Wynn ist offenbar ein Tuchhändler, der an derselben Bahnlinie in Bloxwich wohnt. Er hat einen Sohn, der mit Brookes Jungen in Walsall zur Schule geht. Sie treffen sich jeden Morgen im Zug und kommen gewöhnlich zusammen zurück. Vor einiger Zeit – Genaueres sagt der Eisenwarenhändler nicht – wurden Wynns Sohn und der junge Fred beschuldigt, ein Fenster in einem Eisenbahnwagen eingeschlagen zu haben. Beide schworen, das sei ein Junge namens Speck gewesen, und am Ende sah die Bahnverwaltung von einer Anzeige ab. Das war ein paar Wochen vor dem Eintreffen des ersten Briefs. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Vielleicht auch nicht.
Nun versteht der Pfarrer Brookes mangelnden Eifer in dieser Sache. Nein, der Eisenwarenhändler weiß nicht, wer Speck ist. Nein, Mr Wynn selbst hat keine Briefe erhalten. Nein, Wynns Sohn und Brookes Sohn sind nicht mit George befreundet. Letzteres ist kaum überraschend.
Vor dem Abendessen schildert Shapurji seinem Sohn dieses Gespräch und meint, das sei ermutigend.
»Warum ist das ermutigend, Vater?«
»Je mehr Menschen in die Sache verwickelt sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Übeltäter entdeckt wird. Je mehr Menschen er nachstellt, desto größer die Aussicht, dass er einen Fehler begeht. Weißt du etwas von diesem Jungen namens Speck?«
»Speck? Nein.« George schüttelt den Kopf.
»Und in einer Hinsicht ermutigt mich auch, dass man der Familie Brookes nachstellt. Das beweist, dass es nicht nur Rassenvorurteile sind.«
»Ist das gut, Vater? Dass man aus mehr als einem Grund gehasst wird?«
Shapurji lächelt in sich hinein. Diese Geistesblitze bei einem braven Jungen, der oft zu sehr in sich gekehrt ist, entzücken ihn immer.
»Ich sage es noch einmal, aus dir wird ein großartiger Solicitor, George.« Doch im selben Moment, da er dies ausspricht, fällt ihm ein Satz aus einem der Briefe ein, die er seinem Sohn nicht gezeigt hat. »Ehe das Jahr um ist, wird dein Kind auf dem Friedhof oder für sein ganzes Leben in Schande gefallen sein.«
»George«, sagt er. »Ich möchte, dass du dir ein Datum merkst. Den sechsten Juli 1892. Das liegt erst zwei Jahre zurück. An diesem Tag wurde Mr Dadabhoy Naoroji im Londoner Wahlbezirk Finsbury Central ins Parlament gewählt.«
»Ja, Vater.«
»Mr Naoroji war lange Jahre Professor für Gudscharati am University College London. Ich habe eine kurze Korrespondenz mit ihm geführt und kann mit Stolz sagen, dass er lobende Worte für meine Grammatik der Gudscharati-Sprache fand.«
»Ja, Vater.« George hat nicht nur einmal gesehen, wie der Brief des Professors hervorgeholt wurde.
»Mit seiner Wahl fand eine höchst unrühmliche Zeit ein rühmliches Ende. Premierminister Lord Salisbury hatte gesagt, Schwarze sollten und würden nicht ins Parlament gewählt werden. Er wurde dafür von der Königin höchstselbst gerügt. Und nur vier Jahre später zeigten die Wähler von Finsbury Central, dass sie mit Queen Victoria übereinstimmen und nicht mit Lord Salisbury.«
»Ich bin aber kein Parse, Vater.« George muss wieder an die Worte denken: die Mitte von England, das lebendige Herz des Britischen Empire, das strömende Blut und die Kirche von England, die eine Blutlinie ist. Er ist Engländer, er studiert englisches Recht, und so Gott will, wird er eines Tages nach den Riten und Zeremonien der Kirche von England heiraten. Das haben ihm seine Eltern von Anfang an beigebracht.
»George, das ist schon wahr. Du bist Engländer. Doch damit mögen andere vielleicht nicht immer voll und ganz einverstanden sein. Und dort, wo wir leben …«
»In der Mitte von England«, fällt George wie beim Abfragen im Schlafzimmer ein.
»In der Mitte von England, ja, dort befinden wir uns und dort habe ich beinahe zwanzig Jahre lang als Geistlicher gewirkt; die Mitte von England ist – auch wenn Gottes Segen all Seinen Geschöpfen gleichermaßen zuteil wird – noch ein wenig primitiv, George. Überdies findest du primitive Menschen, wo du sie am wenigsten erwartest. Es gibt sie in gesellschaftlichen Rängen, wo man sich Besseres erhoffen könnte. Doch wenn Mr Naoroji Universitätsprofessor und Abgeordneter des Parlaments werden kann, dann kannst und wirst du, George, ein Solicitor und ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft werden. Und wenn etwas Ungerechtes geschieht, wenn gar etwas Böses geschieht, dann sollst du an den sechsten Juli 1892 denken.«
George überlegt einen Moment und wiederholt dann leise, aber bestimmt: »Ich bin aber kein Parse, Vater. Das habt ihr, du und Mutter, mir beigebracht.«
»Denk an das Datum, George, denk an das Datum.«