George

George versucht, sein Leben ganz normal weiterzuführen: Das ist schließlich sein gutes Recht als frei geborener Engländer. Es ist aber nicht leicht, wenn man sich ständig bespitzelt fühlt; wenn nachts dunkle Gestalten auf das Grundstück des Pfarrhauses eindringen; wenn man alles Mögliche vor Maud und bisweilen auch vor der Mutter geheim halten muss. Die Gebete des Vaters klingen so kraftvoll wie eh und je und werden von den Frauen in der Familie ebenso ängstlich wiederholt. George spürt, dass er immer weniger auf den Schutz Gottes vertraut. Der einzige Moment des Tages, an dem er sich sicher fühlt, ist der, wenn sein Vater die Schlafzimmertür abschließt.

Manchmal möchte George die Vorhänge zurückziehen, das Fenster aufreißen und den Beobachtern, die, wie er weiß, dort draußen lauern, sarkastische Bemerkungen zurufen. Was für eine groteske Verschwendung öffentlicher Gelder, denkt er. Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass er ein aufbrausendes Temperament entwickelt. Zu seiner weiteren Überraschung kommt er sich damit recht erwachsen vor. Eines Abends wandert er wie gewöhnlich über die Feldwege, und hinter ihm läuft in einigem Abstand ein Hilfspolizist. George macht eine plötzliche Kehrtwendung und spricht seinen Verfolger an; der Mann hat ein verschlagenes Gesicht, trägt einen Tweedanzug und hätte eher in eine billige Kaschemme gepasst.

»Kann ich Ihnen vielleicht den Weg zeigen?«, fragt George, der mit Mühe die Höflichkeit wahrt.

»Ich komm schon zurecht, danke.«

»Sie sind nicht von hier?«

»Aus Walsall, wo Sie schon fragen.«

»Dies ist nicht der Weg nach Walsall. Warum laufen Sie zu dieser Tageszeit auf den Feldwegen von Great Wyrley herum?«

»Dasselbe könnte ich Sie auch fragen.«

Was für ein unverschämter Kerl, denkt George. »Sie folgen mir auf Anweisung von Inspector Campbell. Das ist ganz offensichtlich. Halten Sie mich für einen Idioten? Mich interessiert lediglich, ob Sie Befehl haben, sich jederzeit offen zu zeigen; in dem Fall wäre Ihr Verhalten als Verkehrsbehinderung auf öffentlichem Straßenland zu bezeichnen. Oder ob Campbell Sie angewiesen hat, sich verborgen zu halten; in dem Fall wären Sie ein ganz und gar unfähiger Hilfspolizist.«

Der Bursche grinst nur. »Das geht nur ihn und mich was an, meinen Sie nicht auch?«

»Ich würde so sagen, mein guter Mann« – und jetzt packt George ein sündhafter Zorn –, »Sie und Ihresgleichen sind eine erhebliche Verschwendung von Steuermitteln. Schon seit Wochen kriechen Sie hier im Dorf herum, und es ist nichts, absolut nichts dabei herausgekommen.«

Der Hilfspolizist grinst nur wieder. »Sachte, sachte«, sagt er.

Beim Abendessen schlägt der Pfarrer vor, George solle mit Maud einen Tagesausflug nach Aberystwyth machen. Das klingt wie ein Befehl, doch George weigert sich kategorisch: Er hat viel zu tun und will sich keinen Tag Urlaub nehmen. Er bleibt hart, bis Maud sich der Bitte des Vaters anschließt, und gibt dann widerstrebend nach. Am Dienstag sind sie vom frühen Morgen bis in die Nacht fort. Die Sonne scheint; die Bahnfahrt – ganze 124 Meilen mit der Great Western Railway – verläuft angenehm und ohne Zwischenfälle; Bruder und Schwester erleben ein ungewohntes Gefühl der Freiheit. Sie gehen am Meer spazieren, besichtigen die Fassade des University College und bummeln zum Ende der Seebrücke (Eintritt 2 Pence). Es ist ein herrlicher Augusttag mit einer sanften Brise, und sie sind sich völlig einig, dass sie nicht mit dem Ausflugsdampfer um die Bucht herumfahren oder in geduckter Haltung am Strand herumlaufen und Steinchen sammeln wollen. Stattdessen fahren sie mit der Seilbahn vom nördlichen Ende der Promenade zu den Cliff Gardens auf dem Constitution Hill. Während der Fahrt nach oben und später auf dem Rückweg haben sie einen schönen Blick auf die Stadt und die Cardigan Bay. Alle, mit denen sie in dem Badeort sprechen, sind höflich, einschließlich des uniformierten Polizisten, der für das Mittagessen das Hotel Belle Vue empfiehlt oder aber das Waterloo, falls sie strikte Abstinenzler sind. Bei gebratenem Hühnchen und Apfelkuchen sprechen sie über unverfängliche Themen wie Horace und Großtante Stoneham und die Leute an den anderen Tischen. Nach dem Essen steigen sie zur Burg hinauf, die George gutgelaunt als Verstoß gegen den Sale of Goods Act bezeichnet, da sie nur aus ein paar Turmruinen und Trümmern besteht. Ein Passant zeigt ihnen, dort drüben, gleich links vom Constitution Hill, den Gipfel des Mount Snowdon. Maud ist entzückt, doch George kann rein gar nichts erkennen. Eines Tages, verspricht Maud, werde sie ihm ein Fernglas kaufen. Auf der Rückfahrt fragt sie, ob die Seilbahn von Aberystwyth denselben Gesetzen unterliege wie die Eisenbahn; dann bettelt sie, George solle ihr wieder ein Rätsel aufgeben wie damals im Schulzimmer. Er gibt sich große Mühe, weil er seine Schwester liebt, die heute ausnahmsweise beinahe fröhlich aussieht; doch er ist nicht mit dem Herzen dabei.

Am nächsten Tag kommt in der Newhall Street eine Postkarte an. Darauf wird er in einem üblen Schwall einer schändlichen Beziehung zu einer Frau in Cannock bezichtigt: »Sir. Finden Sie es schicklich für jemanden in Ihrer Position, dass Sie jede Nacht mit –– ––’s Schwester verkehren, wo Sie doch wissen, dass sie bald Frank Smith den Sozialisten heiratet.« Selbstverständlich hat er von beiden noch nie gehört. Er sieht sich den Poststempel an: Wolverhampton 12:30, Aug 4, 1903. Jemand hat sich diese widerliche Verleumdung ausgedacht, als er sich gerade mit Maud im Hotel Belle Vue zum Essen setzte.

Die Postkarte erfüllt ihn mit neidischen Gefühlen gegenüber Horace, der inzwischen ein unbeschwerter Federfuchser im Finanzamt von Manchester ist. Horace gleitet anscheinend heil und unversehrt durchs Leben; er lebt von einem Tag zum anderen, hat keine größeren Ambitionen als langsam die Leiter hinaufzuklettern, und ist schon zufrieden, wenn er weibliche Gesellschaft um sich hat, über die er sich in nicht gerade feinen Andeutungen ergeht. Vor allem aber ist er Great Wyrley entflohen. Wie nie zuvor empfindet George es als einen Fluch, der Erstgeborene zu sein, in den alle möglichen Erwartungen gesetzt sind; und als ebensolchen Fluch, mit mehr Intelligenz und weniger Selbstvertrauen begabt zu sein als sein Bruder. Horace hätte wahrlich Grund, an sich zu zweifeln, tut es aber nicht; George wird trotz seiner Erfolge im Studium und seiner beruflichen Qualifikationen von Schüchternheit geplagt. Wenn er hinter einem Schreibtisch sitzt und Rechtsauskünfte gibt, kann er bestimmt und sogar energisch sein. Doch ihm fehlt jede Begabung zu leichtem und oberflächlichem Geplauder; er kann nicht entspannt mit anderen umgehen; er weiß, dass manche finden, er sehe seltsam aus.

Am Montag, dem 17. August 1903, nimmt George wie üblich den 7:39 – Zug nach New Street; er kehrt wie üblich mit dem 17:25 – Zug zurück und kommt kurz vor halb sieben im Pfarrhaus an. Er arbeitet noch eine Weile, dann zieht er einen Mantel über und begibt sich zu Mr John Hands, dem Stiefelmacher. Kurz vor 21:30 ist er wieder im Pfarrhaus, isst zu Abend und geht in das Zimmer, in dem er mit seinem Vater schläft. Die Türen des Pfarrhauses werden verschlossen und verriegelt, die Schlafzimmertür wird abgeschlossen, und George schläft so unruhig wie immer in den letzten Wochen. Am nächsten Morgen wird er um 6 Uhr wach, um 6:40 wird die Schlafzimmertür aufgeschlossen, und er fährt mit dem 7:39 – Zug nach New Street.

Er ahnt nicht, dass dies die letzten normalen vierundzwanzig Stunden seines Lebens sind.