George

Der Briefträger zeigt George den amtlichen Stempel auf dem Umschlag: FRANKIERUNG UNZUREICHEND. Der Brief kommt aus Walsall; sein Name und die Kanzleiadresse sind sauber und ordentlich geschrieben, darum nimmt George die Sendung an. Das kostet ihn Twopence, doppelt so viel wie das fehlende Porto. Er freut sich, als er den Inhalt sieht: ein Bestellformular für Railway Law. Ein Scheck oder eine Postanweisung liegt aber nicht bei. Der Absender will 300 Exemplare haben und gibt seinen Namen mit Beelzebub an.

Drei Tage danach fangen die Briefe wieder an. Dieselben Briefe wie früher – verleumderisch, blasphemisch, irre. Sie kommen in seine Kanzlei, was er als unverschämtes Eindringen in seinen persönlichen Bereich empfindet: Hier ist er sicher und geachtet, hier verläuft das Leben in geordneten Bahnen. Den ersten Brief wirft er instinktiv fort; die übrigen legt er dann in eine untere Schublade, um sie als Beweismittel aufzubewahren. George ist kein ängstlicher Jüngling mehr wie bei den ersten Verfolgungen; er hat es zu etwas gebracht, er ist ein Solicitor mit vier Jahren Berufserfahrung. Solche Belästigungen kann er ignorieren, wenn er will, oder aber angemessen mit ihnen umgehen. Und die Birminghamer Polizei ist zweifellos tüchtiger und moderner als die Staffordshire Constabulary.

Eines Abends kurz nach 18:10 hat George eben seine Dauerfahrkarte wieder eingesteckt und hängt sich gerade den Schirm über den Unterarm, als er eine Gestalt neben sich bemerkt.

»Geht’s uns gut, junger Herr?«

Es ist Upton, noch dicker und rotgesichtiger als vor Jahren und wahrscheinlich auch noch dümmer. George geht einfach weiter.

»Guten Abend«, antwortet er kurz angebunden.

»Wir genießen das Leben, ja? Haben einen guten Schlaf?«

Früher einmal hätte George es mit der Angst bekommen oder wäre stehengeblieben, um zu hören, was Upton von ihm wollte. Aber das ist jetzt anders geworden.

»Jedenfalls schlafwandeln wir nicht, wie ich hoffe.« George geht bewusst schneller, sodass der Sergeant nun keuchen und schnauben muss, um mit ihm Schritt zu halten. »Wir haben nämlich, müssen Sie wissen, den Bezirk mit Hilfspolizisten überschwemmt. Überschwemmt. Darum wäre es sogar für einen So-li-ci-tor nicht gut, wenn er schlafwandelte, o nein.« Ohne seine Schritte zu verlangsamen, wirft George diesem Narren mit seinen leeren Drohungen einen verächtlichen Blick zu. »O ja, ein So-li-ci-tor. Hoffentlich nützt Ihnen das was, junger Herr. Gewarnt ist gewappnet, wie es so schön heißt, oder vielleicht auch andersrum.«

Seinen Eltern erzählt George nichts von dem Vorfall. Es gibt einen direkteren Anlass zur Sorge: Die Nachmittagspost hat einen Brief aus Cannock mit einer wohlbekannten Handschrift gebracht. Er ist an George adressiert und mit »Ein Freund der Gerechtigkeit« unterzeichnet:

Ich kenne Sie nicht, habe Sie aber manchmal in der Eisenbahn gesehen und würde Sie wohl auch nicht sehr mögen, wenn ich Sie kennte, weil ich Eingeborene nicht leiden kann. Aber ich meine, jeder hat einen Anspruch auf Gerechtigkeit, und deshalb schreibe ich Ihnen, weil ich nicht glaube, dass Sie etwas mit den scheußlichen Verbrechen zu tun haben, über die alle reden. Alle Leute sagen, das müssen Sie gewesen sein, weil sie denken, Sie sind kein rechter Kerl und würden so etwas gerne tun. Darum werden Sie von der Polizei überwacht, aber die hat nichts gesehen, und jetzt überwachen sie jemand anders … Wenn wieder ein Pferd umgebracht wird, heißt es bestimmt, das waren Sie, darum sollten Sie Urlaub nehmen und verreisen, dann sind Sie nicht da, wenn der nächste Fall passiert. Die Polizei sagt, das wird am Ende des Monats sein, wie beim letzten Mal. Fahren Sie vorher weg.

George bleibt ganz ruhig. »Verleumdung«, sagt er. »Ja, prima facie erfüllt das in meinen Augen den Tatbestand der Verleumdung.«

»Es fängt wieder an«, sagt seine Mutter, und er merkt, dass sie den Tränen nahe ist. »Es fängt alles wieder an. Sie werden keine Ruhe geben, bis sie uns vertrieben haben.«

»Charlotte«, sagt Shapurji bestimmt. »Davon kann keine Rede sein. Wir ziehen nicht aus dem Pfarrhaus fort, bis man uns neben Onkel Compson zur Ruhe bettet. Wenn es der Wille des Herrn ist, dass wir auf unserer Reise dorthin leiden sollen, dann steht es uns nicht an, die Wege des Herrn in Zweifel zu ziehen.«

Inzwischen gibt es Momente, in denen George nahe daran ist, die Wege des Herrn in Zweifel zu ziehen. Zum Beispiel: Seine Mutter ist doch die Tugend in Person und steht den Armen und Kranken der Gemeinde bei – warum also soll sie so leiden? Und wenn der Herr, wie sein Vater meint, über alles gebietet, dann gebietet der Herr auch über die Staffordshire Constabulary und ihre berüchtigte Unfähigkeit. Doch das darf George nicht sagen; es gibt immer mehr Dinge, die er nicht einmal andeuten darf.

Er beginnt auch zu begreifen, dass er die Welt ein wenig besser versteht als seine Eltern. Zwar ist er erst siebenundzwanzig, doch das Berufsleben eines Birminghamer Solicitors gewährt Einblicke in das Wesen des Menschen, die einem Landpfarrer verschlossen bleiben. Als daher sein Vater sich noch einmal beim Chief Constable beschweren will, erhebt George Widerspruch. Anson war beim ersten Mal gegen sie; man muss sich an den Inspektor wenden, der die Ermittlungen leitet.

»Ich werde ihm schreiben«, sagt Shapurji.

»Nein, Vater, ich glaube, das ist meine Aufgabe. Und ich werde ihn allein aufsuchen. Wenn wir beide gehen, sieht das für ihn vielleicht wie eine Delegation aus.«

Der Pfarrer ist überrascht, aber auch erfreut. Es gefällt ihm, dass sein Sohn sich so mannhaft behauptet, und er lässt ihn gewähren.

George schreibt und bittet um ein Gespräch – möglichst nicht im Pfarrhaus, sondern auf einer Polizeiwache nach Wahl des Inspektors. Das kommt Campbell etwas sonderbar vor. Er schlägt Hednesford vor und bittet Sergeant Parsons dazu.

»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Ich weiß das sehr zu schätzen. Ich möchte drei Punkte mit Ihnen besprechen. Doch zunächst würde ich Ihnen gern dies hier überreichen.«

Campbell ist ein Mann von rund vierzig Jahren mit rötlichbraunem Haar, einem Kopf wie ein Dromedar und einem langen Oberkörper, sodass er im Sitzen beinahe größer wirkt als im Stehen. Er greift über den Tisch und betrachtet sein Präsent: eine Ausgabe von Railway Law for the ›Man in the Train‹. Er blättert langsam darin herum.

»Das zweihundertachtunddreißigste Exemplar«, sagt George. Das klingt eitler, als es gemeint war.

»Sehr freundlich von Ihnen, Sir, doch leider verbieten die Vorschriften der Polizei die Annahme von Geschenken aus der Bevölkerung.« Campbell schiebt das Büchlein über den Schreibtisch zurück.

»Ach, das ist wohl kaum Bestechung, Inspector«, sagt George leichthin. »Können Sie es nicht als … eine Spende für die Bibliothek betrachten?«

»Für die Bibliothek. Haben wir eine Bibliothek, Sergeant?«

»Nun, wir könnten jederzeit eine gründen, Sir.«

»In dem Fall, Mr Edalji, seien Sie bedankt.«

George weiß nicht recht, ob sie sich über ihn lustig machen.

»Mein Name wird Aidlji ausgesprochen. Nicht Ee-dal-ji.«

»Aidlji.« Der Inspektor macht einen schwachen Versuch und verzieht dann das Gesicht. »Wenn Sie nichts dagegen haben, bleibe ich einfach bei Sir.«

George räuspert sich. »Der erste Punkt ist Folgender.« Er holt den Brief von dem »Freund der Gerechtigkeit« hervor. »Es gab noch fünf weitere, die an meine Geschäftsadresse kamen.«

Campbell liest den Brief, reicht ihn dem Sergeant, nimmt ihn zurück, liest ihn noch einmal. Er überlegt, ob das eine Denunziation ist oder ein Unterstützerbrief. Oder das eine in der Verkleidung des anderen. Wenn es eine Denunziation ist, warum läuft man damit zur Polizei? Wenn es ein Unterstützerbrief ist, warum bringt man ihn dann her, obwohl man noch gar nicht beschuldigt wurde? Campbell findet Georges Beweggründe fast so interessant wie den Brief selbst.

»Haben Sie eine Ahnung, von wem er stammt?«

»Er trägt keine Unterschrift.«

»Das sehe ich auch, Sir. Darf ich fragen, ob Sie beabsichtigen, diesen Rat zu befolgen? Wollen Sie Urlaub nehmen und verreisen?«

»Also wirklich, Inspector, Sie zäumen das Pferd beim Schwanz auf. Meinen Sie nicht, dass das strafbare Verleumdung ist?«

»Ehrlich gesagt, Sir, ich weiß es nicht. Anwälte wie Sie befinden doch darüber, was Recht und was Unrecht ist. Vom polizeilichen Standpunkt aus würde ich sagen, da hat sich jemand einen Spaß mit Ihnen erlaubt.«

»Einen Spaß? Wenn dieser Brief mit der Behauptung, die der Verfasser vorgeblich in Abrede stellt, an die Öffentlichkeit käme – meinen Sie nicht, dass mir dann von den hiesigen Landarbeitern und Bergleuten Gefahr drohen würde?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Ich kann nur sagen, ich erinnere mich nicht, dass seit meinem Dienstantritt hier ein anonymer Brief je Anlass zu einem tätlichen Angriff gegeben hätte. Sie, Parsons?« Der Sergeant schüttelt den Kopf. »Und wie verstehen Sie diesen Satz, etwa in der Mitte … weil sie denken, Sie sind kein rechter Kerl

»Wie verstehen Sie ihn denn selbst?«

»Nun ja, Sie müssen wissen, so etwas hat man zu mir nie gesagt.«

»Also schön, Inspector, ich ›verstehe‹ das so: Es handelt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine Anspielung darauf, dass mein Vater der Abstammung nach Parse ist.«

»Ja, darauf könnte es sich vermutlich beziehen.« Campbell beugt seinen rötlichbraunen Kopf wieder über den Brief, als wollte er weitere Interpretationsmöglichkeiten darin entdecken. Er versucht, aus diesem Mann und seinem Anliegen schlau zu werden – vielleicht ist das eine ganz normale Beschwerde, vielleicht auch etwas Komplizierteres.

»Könnte? Könnte? Was sollte es sonst bedeuten?«

»Nun, es könnte auch bedeuten, dass Sie ein Außenseiter sind.«

»Sie meinen, ich spiele nicht in der Cricketmannschaft von Great Wyrley?«

»Tun Sie das nicht, Sir?«

George spürt, wie Wut in ihm aufsteigt. »Und wo wir schon dabei sind, ich suche auch keine Wirtshäuser auf.«

»Tun Sie das nicht, Sir?«

»Und ich rauche keinen Tabak.«

»Tun Sie das nicht, Sir? Nun, wir werden warten und den Verfasser des Briefes fragen müssen, wie er das meint. Wenn und falls wir ihn fassen. Sie sagten, Sie hätten noch etwas auf dem Herzen?«

Der zweite Punkt auf Georges Liste ist eine Beschwerde über Sergeant Upton, sowohl seines Verhaltens als auch seiner Unterstellungen wegen. Allerdings sind das, als der Inspektor sie wiederholt, irgendwie keine Unterstellungen mehr. Campbell verwandelt sie in unbeholfene Bemerkungen eines nicht sonderlich gescheiten Mitglieds der Constabulary gegenüber einem ziemlich aufgeblasenen und überempfindlichen Beschwerdeführer.

George ist inzwischen ganz verstört. Er hatte Dankbarkeit für das Büchlein, Entsetzen über den Brief und Interesse an seinen Unannehmlichkeiten erwartet. Der Inspektor hat sich als korrekt, aber begriffsstutzig erwiesen; seine aufgesetzte Höflichkeit wirkt auf George irgendwie unverschämt. Nun, er muss dennoch weiter zu seinem dritten Punkt.

»Ich habe einen Vorschlag. Für Ihre Ermittlungen.« George legt, wie geplant, eine Pause ein, um der vollen Aufmerksamkeit sicher zu sein. »Bluthunde.«

»Wie bitte?«

»Bluthunde. Die haben, wie Ihnen sicher bekannt ist, einen exzellenten Geruchssinn. Wenn Sie sich ein Paar ausgebildete Bluthunde beschafften, würden diese Sie vom Schauplatz der nächsten Verstümmelung bestimmt direkt zu dem Täter führen. Diese Hunde verfolgen eine Fährte mit geradezu gespenstischer Präzision, und es gibt hier keine Bäche oder Flüsse, in die der Verbrecher waten könnte, um sie abzulenken.«

In der Staffordshire Constabulary ist man anscheinend nicht an praktische Vorschläge aus der Bevölkerung gewöhnt.

»Bluthunde«, wiederholt Campbell. »Und gleich ein Paar. Das klingt ja wie aus einem Groschenroman. ›Mr Holmes, es waren die Fußspuren eines gigantischen Hundes!‹« Dann fängt Parsons an zu kichern, und Campbell befiehlt ihm nicht zu schweigen.

Das Ganze war ein entsetzlicher Fehlschlag, vor allem der letzte Punkt, den George sich selbst ausgedacht und nicht einmal mit seinem Vater besprochen hat. Er ist bedrückt. Als er geht, stehen die beiden Polizisten auf der Treppe und schauen ihm nach. Er hört den Sergeant mit weit tragender Stimme sagen: »Vielleicht können wir die Bluthunde in der Bibliothek unterbringen.«

Diese Worte scheinen ihn auf dem ganzen Rückweg ins Pfarrhaus zu verfolgen, wo er seinen Eltern eine verkürzte Darstellung des Gesprächs gibt. Er beschließt, der Polizei weiterhin zu helfen, auch wenn sie seine Vorschläge ablehnt. Er setzt eine Annonce in den Lichfield Mercury und andere Zeitungen, in der er die erneute Briefkampagne schildert und eine Belohnung von £ 25 aussetzt, die nach Überführung des Täters ausgezahlt werden soll. Er weiß, dass das Inserat seines Vaters damals alles nur noch schlimmer gemacht hat; er hofft aber, diesmal werde das angebotene Geld zu einem Ergebnis führen. Er erwähnt, dass er Solicitor ist.