George

Seit dem Eintritt ins Mason College hat George sich angewöhnt, abends nach der Rückkehr aus Birmingham meist über die Feldwege zu streifen. Das dient nicht der körperlichen Ertüchtigung – davon hatte er in Rugeley genug für sein ganzes Leben –, sondern der Klärung des Kopfes, bevor George sich wieder an die Bücher setzt. Doch oft genug verfehlt es seine Wirkung, und die Vertracktheiten des Vertragsrechts gehen ihm nicht aus dem Sinn. An diesem kalten Januarabend steht ein Halbmond am Himmel, und das Gras am Wegesrand glänzt noch vom Frost der vergangenen Nacht. George murmelt seinen Vortrag für die morgige Übung zu einem hypothetischen Sachverhalt vor sich hin – es geht dabei um vergiftetes Mehl in einem Kornspeicher –, als eine Gestalt hinter einem Baum hervorspringt.

»Unterwegs nach Walsall, eh?«

Es ist Sergeant Upton, rotgesichtig und schnaufend.

»Wie bitte?«

»Du hast doch gehört, was ich gesagt habe.« Upton baut sich direkt vor ihm auf und sieht ihn auf eine Art an, die George bedrohlich findet. Er fragt sich, ob der Sergeant ein bisschen übergeschnappt ist; in dem Fall wäre es das Beste, geduldig auf ihn einzugehen.

»Sie haben gefragt, ob ich unterwegs nach Walsall bin.«

»Du hast also tatsächlich Ohren, verdammt nochmal.« Er schnauft wie – wie ein Pferd oder ein Schwein oder etwas in der Art.

»Ich habe nur überlegt, warum Sie das fragen, da dies nicht der Weg nach Walsall ist. Wie wir beide wissen.«

»Wie wir beide wissen. Wie wir beide wissen.« Upton tritt einen Schritt vor und packt George an der Schulter. »Was wir beide wissen, was wir beide wissen, ist, dass du den Weg nach Walsall kennst und ich den Weg nach Walsall kenne, und in Walsall hast du deine kleinen Streiche ausgeheckt, stimmt’s?«

Der Sergeant ist jetzt eindeutig übergeschnappt, und er tut ihm weh. Ob es etwas nützt, wenn er darauf verweist, dass er seit zwei Jahren nicht mehr in Walsall war? Damals hatte er dort Weihnachtsgeschenke für Horace und Maud gekauft.

»Du warst in Walsall, du hast den Schlüssel zur Schule genommen, du hast ihn nach Hause gebracht, und du hast ihn auf deine eigene Treppe gelegt, stimmt’s?«

»Sie tun mir weh«, sagt George.

»O nein, das tu ich nicht. Ich tu dir nicht weh. Das tut gar nicht weh. Wenn Sergeant Upton dir wehtun soll, brauchst du es nur zu sagen.«

Jetzt kommt George sich so vor wie damals, als er auf die ferne Tafel starrte und keine Ahnung hatte, wie die richtige Antwort lauten könnte. Er kommt sich so vor wie damals, als er sich beschmutzte. Ohne recht zu wissen warum, sagt er: »Ich werde Solicitor.«

Der Sergeant lockert den Griff, tritt ein Stück zurück und lacht George ins Gesicht. Dann spuckt er auf Georges Stiefel.

»Das glaubst du wohl, ja? Ein So-li-ci-tor? Was für ein großes Wort für einen kleinen Mischling wie dich. Du glaubst, du wirst ein So-li-ci-tor, wenn Sergeant Upton sagt, das wirst du nicht?«

George weist lieber nicht darauf hin, dass das Mason College und die Prüfungskommission und die Incorporated Law Society darüber zu entscheiden haben, ob er Solicitor wird oder nicht. Er denkt, er muss so schnell wie möglich nach Hause und alles seinem Vater erzählen.

»Ich will dich mal was fragen.« Uptons Ton ist anscheinend milder geworden, darum beschließt George, noch einen Moment auf ihn einzugehen. »Was ist das da an deinen Händen?«

George hebt die Unterarme und spreizt automatisch die Finger in seinen Handschuhen. »Das?«, fragt er. Der Mann muss wirklich geistesgestört sein.

»Ja.«

»Handschuhe.«

»Nun also, da du so ein neunmalkluges Bürschchen bist und ein So-li-ci-tor werden willst, weißt du sicher auch, dass ein Paar Handschuhe als Ausrüstung zum Diebstahl gelten, nicht wahr?«

Dann spuckt er noch einmal und stampft über den Feldweg davon. George bricht in Tränen aus.

Als er zu Hause ankommt, schämt er sich. Er ist sechzehn, er darf nicht weinen. Horace hat seit seinem achten Lebensjahr nicht mehr geweint. Maud weint viel, aber sie ist ja auch ein Mädchen und obendrein krank.

Georges Vater hört sich seine Geschichte an und erklärt, er werde an den Chief Constable von Staffordshire schreiben. Es ist schändlich, dass ein gemeiner Polizist gegen seinen Sohn auf einer öffentlichen Straße handgreiflich wird und ihn des Diebstahls bezichtigt. Der Beamte sollte aus dem Polizeidienst entlassen werden.

»Ich glaube, er ist ziemlich übergeschnappt, Vater. Er hat mich zweimal angespuckt.«

»Er hat dich angespuckt?«

George denkt noch einmal nach. Er ist immer noch verängstigt, doch er weiß, das ist kein Grund, nicht die volle Wahrheit zu sagen.

»Ganz sicher bin ich mir nicht, Vater. Er stand etwa einen Meter von mir entfernt und hat zweimal sehr dicht an meinen Fuß gespuckt. Es ist möglich, dass er einfach nur gespuckt hat, wie ungehobelte Menschen das eben tun. Doch als er das tat, schien er böse auf mich zu sein.«

»Meinst du, dass das ein hinreichender Beweis für Vorsätzlichkeit ist?«

Das gefällt George. Er wird behandelt wie ein angehender Solicitor.

»Nicht unbedingt, Vater.«

»Das meine ich auch. Gut. Ich werde das Spucken nicht erwähnen.«

Drei Tage später erhält der Reverend Shapurji Edalji eine Antwort von Captain the Honourable George A. Anson, Chief Constable von Staffordshire. Sie trägt das Datum des 23. Januar 1893 und enthält nicht wie erwartet eine Entschuldigung und die Zusage, Maßnahmen zu ergreifen. Stattdessen schreibt Anson:

Würden Sie Ihren Sohn George bitte fragen, von wem er den Schlüssel hat, der am 12. Dezember auf Ihre Treppe gelegt wurde? Der Schlüssel war gestohlen, doch wenn sich beweisen lässt, dass alles auf eine bloße Torheit oder einen dummen Streich zurückgeht, würde ich diesbezüglich keine polizeilichen Maßnahmen genehmigen wollen. Sollten die an der Entwendung des Schlüssels beteiligten Personen sich jedoch weigern, in dieser Angelegenheit eine Erklärung abzugeben, sehe ich mich genötigt, den Fall mit allem gebotenen Ernst als Diebstahl zu behandeln. Ich darf sogleich sagen, dass ich jedweden Unschuldsbeteuerungen, die Ihr Sohn hinsichtlich dieses Schlüssels vorbringen mag, keinen Glauben schenken werde. Meine Informationen in dieser Sache stammen nicht von der Polizei.

Der Pfarrer weiß, dass sein Sohn ein anständiger und redlicher Junge ist. Die Nervenschwäche, die er anscheinend von seiner Mutter geerbt hat, muss er noch überwinden, doch er berechtigt bereits zu großen Hoffnungen. Es ist an der Zeit, ihn wie einen Erwachsenen zu behandeln. Er zeigt George den Brief und fragt ihn nach seiner Meinung.

George liest den Brief zweimal und braucht einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln.

»Auf dem Feldweg«, beginnt er langsam, »hat Sergeant Upton mich beschuldigt, ich sei zur Schule in Walsall gegangen und hätte den Schlüssel gestohlen. Der Chief Constable jedoch wirft mir vor, mit einem oder mehreren anderen im Bunde zu sein. Einer von denen soll den Schlüssel entwendet haben, dann habe ich angeblich das Diebesgut an mich genommen und auf die Treppe gelegt. Vielleicht wissen sie, dass ich seit zwei Jahren nicht mehr in Walsall war. Auf jeden Fall stellen sie die Geschichte jetzt anders dar.«

»Ja. Gut. Das meine ich auch. Und was denkst du noch?«

»Ich denke, sie müssen alle beide übergeschnappt sein.«

»George, das ist ein kindischer Ausdruck. Auf jeden Fall ist es unsere Christenpflicht, den Schwachen im Geiste mit Mitleid und Fürsorge zu begegnen.«

»Es tut mir leid, Vater. Dann kann ich nur annehmen, dass sie … dass sie mich aus einem Grunde verdächtigen, den ich nicht begreife.«

»Und was meint er deiner Ansicht nach, wenn er schreibt ›Meine Informationen in dieser Sache stammen nicht von der Polizei‹?«

»Er meint wohl, dass ihm jemand einen Brief geschrieben hat, in dem er mich denunziert. Es sei denn … es sei denn, er sagt nicht die Wahrheit. Womöglich tut er so, als wisse er mehr, als er weiß. Vielleicht ist es nur Bluff.«

Shapurji lächelt seinem Sohn zu. »George, mit deinen Augen wäre nie ein Detektiv aus dir geworden. Doch mit deinem Verstand wirst du ein hervorragender Solicitor werden.«