George

George hat keine erste Erinnerung, und als die Idee aufkommt, es könnte normal sein, eine solche zu haben, ist es zu spät. Er hat kein Bild in sich, das eindeutig allen anderen vorausgegangen wäre – etwa davon, wie er hochgehoben, liebkost, angelächelt oder bestraft wurde. Ihm ist bewusst, dass er einmal das einzige Kind war, und er weiß, dass jetzt auch Horace da ist, doch gibt es kein Urerlebnis der Verstörung, als man ihm ein Brüderchen darbot, keine Vertreibung aus dem Paradies. Weder einen ersten Anblick noch einen ersten Geruch, ob von einer parfümduftenden Mutter oder von einem karbolischen Hausmädchen.

Er ist ein schüchterner, ernster Junge mit einem feinen Gespür für die Erwartungen anderer. Bisweilen meint er, seine Eltern zu enttäuschen: Ein pflichtbewusstes Kind sollte sich doch erinnern, dass es von Anfang an umsorgt wurde. Doch seine Eltern machen ihm diese Unzulänglichkeit nie zum Vorwurf. Und während andere Kinder womöglich das Fehlende ersetzt – etwa gewaltsam ein liebevolles mütterliches Gesicht oder einen stützenden väterlichen Arm in ihre Erinnerungen eingebaut – hätten, tut George das nicht. Dazu fehlt es ihm allein schon an Phantasie. Ob er sie nie hatte oder ob ihre Entwicklung durch elterliche Einwirkung gehemmt wurde, ist eine Frage für einen Zweig der psychologischen Wissenschaft, der noch nicht erfunden war. George kann dem, was andere sich ausgedacht haben – den Geschichten von der Arche Noah, von David und Goliath, von den Heiligen Drei Königen – sehr wohl folgen, hat aber selbst wenig Erfindungsgabe.

Er schämt sich dafür nicht, da seine Eltern das nicht als Mangel betrachten. Wenn sie von einem Kind im Dorf sagen, es habe »zu viel Phantasie«, dann ist das eindeutig ein Ausdruck der Missbilligung. Noch tadelnswerter sind Kinder, die »großartige Geschichten erzählen« und »flunkern«; am schlimmsten ist es, wenn ein Kind »durch und durch verlogen« ist – mit so einem darf man sich auf gar keinen Fall abgeben. George selbst wird nie gedrängt, die Wahrheit zu sagen: Das würde unterstellen, dass er dazu ermahnt werden muss. Es ist einfacher: Man erwartet von ihm, dass er die Wahrheit sagt, denn im Pfarrhaus ist gar nichts anderes möglich.

»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«: Das soll er noch oft aus dem Mund seines Vaters hören. Der Weg, die Wahrheit und das Leben. Man geht seinen Weg durch das Leben, indem man die Wahrheit sagt. George weiß, dass das in der Bibel nicht unbedingt so gemeint ist, doch so hört es sich für ihn an, als er heranwächst.