12
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrich, während wir uns küssten und wieder küssten. Er berührte mich an keiner anderen Stelle als an meinem Hals und meinem Mund, und dennoch brachte seine Nähe meinen ganzen Körper zum Sirren.
Meine Brüste kribbelten; meine Beine zitterten. Ich war feucht und voller Begierde. „Schlafzimmer“, wisperte ich an seinem Mund.
Er trat zurück, und ich wäre beinahe hingefallen. „Noch nicht.“
„Was?“
„Es ist zu früh.“ Er strich mir die Haare aus dem Gesicht. „Du bist noch nicht bereit.“
Ich fühlte mich bereiter, als ich es je zuvor gewesen war.
„Ich dachte, ich führe hier das Kommando.“
„Bis zu einem gewissen Punkt. Ich werde mich auf nichts Dummes einlassen.“
Dass er mir einen Korb gab, obwohl mein Körper nach einer Erlösung schrie, die ich schon … keine Ahnung, wie lange nicht mehr gehabt hatte, ärgerte mich.
„Das Verbotene zu vögeln, ist bereits dumm“, herrschte ich ihn an.
„Ich habe dich nicht gevögelt.“ Er öffnete die Glastür, schlüpfte nach draußen und schob sie zu. In der Sekunde, bevor sie einrastete, hörte ich ihn murmeln: „Noch nicht.“
Ich packte den Griff, stieß sie auf, verhedderte mich in den Vorhängen und zerrte sie ungeduldig beiseite; ich starrte auf eine leere Terrasse, den verlassenen Garten, den stillen Wald.
Um derart schnell zu verschwinden, hätte Cartwright über das Geländer springen und zwischen die Bäume sprinten müssen. Selbst dann hätte er ein irrsinniges Tempo vorlegen müssen. Wahrscheinlich konnte er es nicht erwarten, von mir wegzukommen.
Ich ging nach drinnen und überprüfte sämtliche Fenster und Türen. Als ich endlich in meinem Zimmer ankam und mein allabendliches Oprah-vom-Kissen-befördern-Ritual hinter mich gebracht hatte, war ich um einiges ruhiger.
Malachi hatte recht gehabt, Nein zu sagen. Ich war noch nicht bereit. Obwohl …
Als ich aus meinen Klamotten schlüpfte und mein Nachthemd überstreifte, ließ ich meine Hände über meine Brüste, dann meine Finger zwischen meine Beine gleiten.
Ich fühlte mich bereit.
Aber mein Körper tickte anders als mein Kopf. Auch wenn ich ihn physisch mehr begehrte als je einen Mann zuvor, sagte mir mein Verstand … ich wusste es nicht genau.
Das Aufwachen fiel mir schwer am nächsten Morgen. Mein Kopf war dumpf, meine Lider wollten sich nicht öffnen lassen; ich fühlte mich benommen und merkwürdig aufgeputscht zugleich.
Als das Duschwasser auf meinen Körper prasselte, wimmerte ich, als ob die Tropfen elektrisch aufgeladen wären. Der Wasserdruck hatte mich nie zuvor gestört – außer wenn er fehlte –, aber heute ging mir der harte Regen durch und durch.
Ich wollte kein Wasser über meine Haut strömen fühlen; ich wollte, dass Malachis Hände über meine Arme, meine Rippen streichelten, sich um meine Brüste wölbten und mit den Daumen meine Brustwarzen liebkosten.
Ich legte den Kopf in den Nacken; die Tropfen hämmerten auf meine Kehle; meine Hände folgten dem Weg meiner Gedanken. Es war schon sehr lange her, dass ich das zuletzt gemacht hatte.
Als meine Haut wieder auf dieselbe Weise prickelte wie in der Nacht zuvor, schob ich die Finger zwischen meine Beine und begann zu Ende zu bringen, was ein bloßer Kuss entfacht hatte.
Die Kombination aus Erinnerungen, dem Prasseln der Dusche und den rhythmischen Bewegungen meiner Hand brachte mich in weniger als einer halben Minute zum Höhepunkt.
Zu meinem Erstaunen trug der selbst verschaffte Orgasmus wenig dazu bei, die Frustration zu lindern, mit der ich aufgewacht war – ein Gefühl, das mich den Tag über einhüllte wie Pig Pens Staubwolke und bewirkte, dass ich gereizt war und viel zu barsch mit den Leuten umsprang, denen ich begegnete.
Das Vollmondfestival wurde um neun Uhr morgens im Rahmen eines kurzen Festakts auf dem Stadtplatz offiziell eröffnet. Ich hatte die Aufgabe, eine Begrüßungsrede zu halten; die Highschool-Band würde „Georgia on My Mind“ spielen. Das Ganze würde in einen Straßenverkauf aller ansässigen Händler übergehen, und am Abend sollte dann die erste Vorstellung der Zigeuner folgen.
Anstelle eines Hosenanzugs oder Kostüms entschied ich mich für ein lindgrünes Kleid, dass mit seiner engen Taille und dem schwingenden, ausladenden Rock, der gerade meine Knie bedeckte, meine Figur hervorragend zur Geltung brachte. Nachdem ich mein Outfit mit den Perlen meiner Großmutter und farblich passenden Pumps aufgepeppt hatte, sah ich aus wie June Cleaver mit Hochsteckfrisur.
Ich hatte meine Rede gerade beendet und unter dem leisen Applaus der circa fünfzig Anwesenden, die sich die Mühe gemacht hatten zu erscheinen, das Podium verlassen, als ein Windstoß unter meinen Rock fuhr und ihn fast bis zur Taille hochwirbelte.
Die warme Luft an meinen nackten Beinen, die Brise, die über den noch immer feuchten Schritt meines Höschens strich, entlockte mir einen leisen Schrei, bei dem sich Erschrecken mit Erregung mischte. Ich schlug die Hände auf den flatternden Stoff und hob den Kopf, um festzustellen, wie viele Menschen die Szene verfolgt hatten.
Glücklicherweise hatte die Band im Anschluss an meine Ansprache sofort den Ray-Charles-Klassiker angestimmt, sodass niemand meinen Aufschrei gehört hatte. Ein paar Zuhörer lächelten angesichts meiner Notlage, aber es war nicht schadenfroh. Jeder hatte in seinem Leben den einen oder anderen peinlichen Moment zu verbuchen.
Dann bemerkte ich einen schwarz-weiß gekleideten Mann, der sich von der Zuschauermenge löste. Selbst ohne das lange dunkle Haar und den geschmeidigen, fast katzenartigen Gang hätte ich Malachi Cartwright erkannt. Er stach hervor wie ein Pfau unter Krähen.
Hatte er sich meine Rede angehört? Ich hatte meinen Blick während und nach der Begrüßung über die Menge schweifen lassen, ihn jedoch nirgends entdeckt.
Die Schlussakkorde des Stücks verklangen, und die letzten verbliebenen Zuschauer – fast ausschließlich Eltern der Bandmitglieder – klatschten.
Ich vergewisserte mich, dass alles abgebaut und weggebracht wurde, erst dann machte ich mich auf den Weg zu meinem Büro.
„Nette Showeinlage“, begrüßte mich Joyce.
„Ja, die Band kommt wirklich gut an.“
„Ich meinte Ihre Marilyn-Monroe-Imitation.“
Mein Gesicht wurde heiß. „Ich hatte eher auf June Cleaver abgezielt.“
„Falls Sie nicht für Muschi macht das schon vorsprechen wollten, lagen Sie weit daneben.“
„Muschi was?“
„Ich spreche von dem Porno“, erklärte sie simpel und gab etwas in ihren Computer ein. „Er hat sogar eine Handlung. June und Ward Cleaver genießen ein seltenes Wochenende ohne Kinder und …“
„Stopp!“ Ich legte die Hände an meinen Kopf „Meine Ohren. Bluten sie?“
„Nur weil ich alt bin, heißt das nicht, dass ich tot bin.“
Ich wusste nicht, wie alt Joyce war, und hatte mich nie getraut, sie danach zu fragen. Ich hatte sie immer für etwa so alt wie meinen Vater gehalten.
„So alt sind Sie doch gar nicht.“
Sie winkte ab. „Die Auswahl an Männern hier in der Gegend ist in jedem Alter ziemlich dürftig.“
Das stimmte. Und für jemanden, der auf die Rente zusteuerte, galt das bestimmt umso mehr. Joyce hatte schlechte Karten, es sei denn, sie wollte mit Sieht-, Hört- oder Sagt-nichts-Böses ausgehen. Ich zog die Nase kraus. Kennt-keinen-Spaß konnte man gleich vergessen.
„Wie kommt es, dass Sie nie geheiratet haben, Joyce?“
Sie riss den Kopf hoch und sah mich aus großen Augen an. „Ich?“
„Ja, Sie. Offensichtlich lieben Sie Kinder, denn sonst wären Sie nicht Lehrerin geworden.“
Sie schnaubte verächtlich. „Schätzchen, zu meiner Zeit wurde man entweder Krankenschwester oder Lehrerin. Ich zog einen unblutigen Beruf vor.“ Sie schürzte die Lippen. „Obgleich ich auch als Sportlehrerin meinen Teil an Blut gesehen habe.“
„Sie mochten keine Kinder?“
„Ich mochte Sie.“ Joyce lächelte.
Ich lächelte zurück. „Danke.“
Ich weiß nicht, was ich als Teenager ohne sie getan hätte. Es hatte Dinge gegeben, die ich meinen Vater nicht fragen konnte. Dinge, auf die selbst Grace keine Antwort wusste. Aber Joyce war immer für mich da gewesen. Auch wenn sie mich oft bemuttert hatte, wenn ich es nicht wollte, war sie mir stets eine Freundin gewesen, falls ich eine brauchte, und dafür würde ich ihr immer dankbar sein. Ich wollte, dass sie glücklich war.
„Gab es niemals jemanden, mit dem Sie sich eine Heirat hätten vorstellen können?“, hakte ich nach.
Joyce starrte auf den Schreibtisch, und ich wusste Bescheid.
„Dad?“
Sie zuckte die Achseln. „Er hat sich nie für eine andere als für Ihre Mutter interessiert. Daran hat auch ihr Tod nichts geändert.“
„Das tut mir leid …“
„Nein.“ Sie hob die Hand. „Ich hätte es forcieren und ihn allein schon wegen seiner Einsamkeit dazu überreden können, mich zu heiraten, aber ich wollte nicht mein Leben lang die Nummer zwei bleiben. Hier …“ – ihre Geste umfasste das gesamte Büro – „… war ich die Nummer eins. Er war von mir abhängig. Er brauchte mich und niemanden sonst.“
„Mir ergeht es genauso. Ich könnte das alles ohne Sie nicht bewältigen, Joyce.“
„Danke, Claire. Das bedeutet mir viel.“
„Wohin verschwinden Sie eigentlich immer, wenn Sie … verschwinden?“, wagte ich den Vorstoß.
„Auf die Toilette.“
„Nein, diese Art von Verschwinden meine ich nicht. Ich rede davon, wenn Sie sich manchmal praktisch in Luft auflösen.“
Sie fixierte ihren Schreibtisch. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Also, möchten Sie sich das Video ausleihen? Ich finde, Sie könnten ein wenig Spaß vertragen.“
Meine Gedanken schweiften augenblicklich zu dem Spaß, den ich letzte Nacht gehabt hatte, und ich musste mich abwenden, damit sie mein Lächeln nicht sah. „Danke, aber ich bin rundum zufrieden.“
Zum ersten Mal seit Langem schien das tatsächlich zuzutreffen.
Nun, da das Festival eröffnet war, hatte ich gleichzeitig mehr und weniger zu tun als sonst. Die Einheimischen kamen nicht auf ein Schwätzchen vorbei oder verabredeten Termine. Sie waren zu beschäftigt. Stattdessen spazierten jetzt scharenweise Touristen durch das Rathaus, als wäre es Teil einer geführten Besichtigungstour.
Viele von ihnen wollten die Bürgermeisterin kennenlernen, um ihr zu der tollen Veranstaltung zu gratulieren und sie mit Fragen über Lake Bluff, die Berge und die Geschichte der Region zu löchern.
Nachdem bereits die fünfte Familie in mein Büro gelatscht war, rief ich Joyce zu mir. „Nächstes Jahr engagieren wir jemanden, der Führungen macht und Vorträge über die Geschichte unserere Gegend hält.“
„Verstanden.“ Sie kritzelte etwas auf ihren allgegenwärtigen Notizblock. „Sie denken also, dass Sie nächstes Jahr noch hier sein werden?“
„Was?“ Ich hob den Blick von dem Papierwust auf meinem Schreibtisch, der seit gestern stetig angewachsen zu sein schien.
„Balthazar ist fest entschlossen, Bürgermeister zu werden, und Sie wollten den Posten ja eigentlich nie haben.“
„Wer hat das behauptet?“
„Ihr Vater.“
Reue und Trauer stürmten auf mich ein. Ich vermisste ihn. Ich hätte bleiben und das Amt von ihm übernehmen sollen, so wie er es sich gewünscht hatte. Hätte ich es getan, wäre ich Josh nie begegnet und …
Ich straffte die Schultern und hob trotzig das Kinn. „Ich habe nicht vor, in absehbarer Zeit fortzugehen.“
„Selbst wenn Balthazar gewinnt?“
„Ich habe nicht vor, Balthazar gewinnen zu lassen.“
Joyce grinste. „Ihr Dad wäre stolz auf Sie.“
Ich sonnte mich in der Vorstellung, dass mein Vater schließlich doch noch stolz auf mich gewesen wäre.
Er hatte immer gehofft, dass ich seine Nachfolge antreten würde, und war mehr als enttäuscht gewesen, als er feststellen musste, dass ich eher ins Gras beißen würde. Obwohl ich damals zu sehr mit meinen eigenen Plänen beschäftigt gewesen war, um mich um seine Gefühle zu kümmern, wünschte ich mir nun, da er tot war, ihm eine bessere Tochter gewesen zu sein. Ich würde versuchen Wiedergutmachung zu leisten, indem ich die Stadt, die er so sehr geliebt hatte, vor Schwachköpfen wie Balthazar Monahan schützte.
„Wie ich höre, hat es gestern Abend eine Ratsabstimmung gegeben“, bemerkte Joyce.
„Und?“
„Ich glaube, dass sie seit Jahren nicht mehr abgestimmt haben.“
„Ist das schlimm?“
„Nein. Ihr Vater war ein guter Mann, aber manchmal packte er die Dinge zu lasch an.“
„Wirklich?“
Das war mir völlig neu.
„Jeder tut das, wenn er damit durchkommt. Jeremiah war gut im Umgang mit den Leuten. Er hörte ihnen zu. Sie mochten ihn und vertrauten ihm.“
„Anders als bei mir.“
„Wie kommen Sie denn da drauf?“, fragte Joyce verdutzt. „Alle mögen Sie.“
„Aber sie vertrauen mir nicht. Niemand spricht mit mir, wie sie mit ihm gesprochen haben.“
„Das wird schon noch. Die Menschen wissen, dass Sie diesem Job gewachsen sind, sonst hätten sie Sie nicht gebeten, ihn zu übernehmen.“
„Woher wollen sie das wissen?“
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Claire. Ganz gleich, wie sehr Sie sich gewünscht haben mögen, es wäre anders.“
Mit einem Mal fühlte ich mich beschwingter und glücklicher als seit Monaten, wenn nicht gar Jahren. In Atlanta hatte man mir immer weniger zugetraut, als ich konnte, hier traute man mir zu viel zu.
Ich sah auf die Uhr. Noch nicht ganz Mittag. Seit geschlagenen fünfzehn Minuten war niemand mehr durch meine Tür gekommen. „Ich werde jetzt versuchen, noch etwas Arbeit vom Tisch zu bekommen“, verkündete ich.
„Soll ich Ihre Anrufe durchstellen?“
„Nur in Notfällen.“
Kurz darauf loggte ich mich ins Internet ein. Ich konnte die Sache so rational angehen, wie ich wollte, trotzdem wusste ich in meinem tiefsten Inneren, dass der Fund des Rindenstücks mit der Swastika nichts Gutes bedeuten konnte. Ich musste herausfinden, was dahintersteckte. Ich musste diese Stadt und ihre Menschen um jeden Preis beschützen. Sie hatten ihr Vertrauen in mich gesetzt, und ich würde sie nicht enttäuschen.
Ich stieß auf alle möglichen Fakten über die Nazis, die ich lieber nicht gewusst hätte. Gab es über sie irgendetwas Gutes zu wissen?
Allerdings fand ich unter dem Suchbegriff „Ursprung der Swastika“ noch etwas anderes. Das Zeichen existierte bereits seit prähistorischen Zeiten und war unter anderem in Island ein Symbol für Schutz und Wiedergeburt gewesen.
Meine Suchanfrage nach Totems, Schutzzaubern und Amuletten überschwemmte meinen Monitor mit Tausenden von Seiten. Die ersten verwiesen auf verschiedene Ureinwohnerstämme – die Inuit und Ojibwa im Speziellen, jedoch keine Erwähnung der Cherokee.
Die nächsten Referenzen drehten sich um Wicca – Zauber, Naturheilkunde, Glück und Verderben und sämtliche Grauzonen dazwischen.
Ich rieb meine Stirn. Das führte nirgendwohin.
Das Telefon klingelte; der schrille Ton zerriss die friedliche Stille meines Büros. Ich warf Joyce durch die Glasscheibe einen finsteren Blick zu.
Wild gestikulierend, forderte sie mich auf abzunehmen, und mir fiel ein, dass ich ihr aufgetragen hatte, mich nur in Notfällen zu stören. Hastig griff ich zum Hörer. „Claire Kennedy.“
„Schaff deinen Allerwertesten ins Krankenhaus!“
„Grace?“, fragte ich, aber sie hatte schon aufgelegt.