17

Als ich zurück in den Lichtkreis schlüpfte, war die Vorstellung gerade zu Ende. Niemand schien mein Fehlen registriert zu haben.

Wohin war Cartwright unterwegs? Was könnte in den Tiefen eines Waldes, der nicht sein eigener war, so dringend seine Anwesenheit erfordern?

Zwei gute Fragen, nur würde ich wahrscheinlich auf keine je eine Antwort bekommen.

Die Wahrsagerin wurde regelrecht belagert. Nicht, dass ich meine Zukunft vorhergesagt haben wollte, aber ich hätte sie gern nach dem Talisman gefragt. Allerdings stand zu befürchten, dass ich am Ende genauso schlau sein würde wie zuvor. Höchstwahrscheinlich stünde ich nur mit der nächsten Affentatze da, und darauf konnte ich gut verzichten. Ich beschloss, am nächsten Abend wiederzukommen und das Rindenstück mitzubringen.

Dutzende Menschen standen vor den Tierkäfigen Schlange. Auch vor dem Berglöwen drängte sich eine gewaltige Horde; ebenso viele spähten in etwas, von dem ich annahm, dass es der Bärenkäfig war. Mehrere Zigeuner liefen herum und behielten das Geschehen im Auge.

Ich versuchte, Joyce zu finden, jedoch erfolglos. Sie musste direkt nach der Vorstellung heimgegangen sein. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Immerhin war sie jeden Morgen lange vor mir im Büro.

Ich stieg in meinen Wagen und fuhr gerade los, als ich einen Blick auf Sabina erhaschte, die am Waldrand stand. Ich winkte ihr zu, aber sie reagierte nicht.

Die junge Frau tat mir leid. Sie wirkte verloren und einsam. Ich fragte mich, ob die Zigeuner wegen ihrer Gebrechen auf sie herabsahen oder wahlweise über sie wachten, als wäre sie ein verwundeter Welpe.

In der Absicht, mit ihr zu kommunizieren, ging ich vom Gas, aber als ich wieder zu der Stelle sah, an der ich sie gesehen hatte, war sie verschwunden.

Die Straße nach Lake Bluff war wie ausgestorben. Mangels Straßenbeleuchtung war es unter dem Dach der Bäume, die zu beiden Seiten von den Bergen eingefasst wurden, fast wie in einer Höhle.

Ich fuhr langsamer als erlaubt und achtete sorgsam auf irgendwelche Bewegungen am Waldrand. Ein Rotwild, das mir vor den Wagen sprang, hätte einen folgenschweren Unfall verursachen können. Zumindest würde mein Airbag aufgehen, und ich hasste es, wenn das passierte.

Mehrere Minuten lang erhellten die Scheinwerfer nur den Asphalt, als plötzlich ein dunkler Schemen auf mich zuraste. Ich scherte aus und trat mit voller Wucht auf die Bremse. Das Vorderrad grub sich in den Kies am Straßenrand, der Wagen schlitterte zur Seite und kam mit der Schnauze im Straßengraben zum Stehen.

Ich holte zittrig Luft, wandte den Kopf und fand mich Nase an Nase mit einem Wolf wieder.

Gott sei Dank war das Fenster zu! Trotzdem zuckte ich zurück und schloss in der Erwartung, dass das Glas nach innen zerbersten und die Scherben in mein Gesicht regnen würden, die Augen.

Nichts passierte.

Ich öffnete ein Auge, dann das zweite. Das Einzige, was ich sah, waren Bäume.

„Mist.“

Hatte ich wirklich einen Wolf gesehen? Ich hatte nicht die Absicht, auszusteigen und nach Spuren zu suchen, hätte das selbst dann nicht getan, wenn ich in der Lage gewesen wäre, den Abdruck eines Hundes von dem eines Kojoten oder auch nur eines Albatrosses zu unterscheiden. Das war Grace’ Job.

Ich legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas, bevor ich mit quietschenden Reifen aus dem Graben und zurück auf die Straße rollte. Ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass mir die Finger wehtaten, während ich in wesentlich rasanterem Tempo als zuvor in die Richtung zurückfuhr, aus der ich gekommen war.

An dem Wolf war etwas Eigenartiges gewesen. Etwas, worauf ich nicht den Finger legen konnte, weil er so schnell aufgetaucht und wieder verschwunden war, dass ich noch nicht mal sicher sagen konnte, ob ich ihn tatsächlich gesehen hatte.

Das Fell war gelbbraun mit Spuren von Gold und Grau gewesen; seinen Augen hatte etwas Eigentümliches angehaftet, auch wenn ich nicht sagen konnte, wie ich darauf kam. Außer in Büchern und im Fernsehen hatte ich nie zuvor einen Wolf gesehen.

Ich fuhr an der Abzweigung, die zum See führte, vorbei und weiter geradeaus. Grace’ Haus stand etwa eineinhalb Kilometer entfernt auf einem Hügel, von dem aus man auf der einen Seite Aussicht auf die Berge, von der anderen Aussicht auf den See hatte. Es war schon seit Jahrhunderten im Besitz ihrer Familie, was angesichts der Vorliebe des Staates, den Indianern alles Lohnenswerte abzuknöpfen, ein Wunder war.

Aber einer von Grace’ Vorfahren hatte die weise Voraussicht gehabt, seinen Besitz einem weißen Freund zu überschreiben, der ihn für ihn verwahrt hatte, während die Cherokee auf den Pfad der Tränen geschickt wurden. Jahrelang hatten die Aniyvwiya die Hauptmenschen, wie sie sich selbst bezeichneten in der Ödnis Oklahomas, wohin man sie verbannt hatte, ausgeharrt. Aber sie hatten ihre Berge nie vergessen.

Einige waren zurückgekehrt und hatten sich zusammen mit anderen, die ihren Häschern entwischt und nie vertrieben worden waren, in diesen Bergen versteckt. Als für die Aniyvwiya die Zeit gekommen war, zumindest einen Teil dessen, was ihnen gehörte, zurückzufordern, hatten die McDaniels ihr Land für immer wiederbekommen.

Ich bog auf die schmale Straße ab, die steil bergauf führte und sich zwischen Fichten hindurchwand, die so dicht und überwuchert waren, dass ich durch ihre Äste, die über meine Windschutzscheibe wischten, kaum etwas sehen konnte. Sobald sie sich endlich lichteten, tauchte vor mir gleich einer Burg das Haus auf.

Ich weiß nicht, warum es mich an eine Burg erinnerte, denn es war aus Holz und nicht aus Stein erbaut. Keine Türmchen. Kein Burggraben. Kein Drache. In Wahrheit glich Grace’ Haus eher dem Motiv auf einer Halloween-Karte.

Nicht, dass es heruntergekommen gewesen wäre. Auch bezweifelte ich, dass es darin spukte. Aber so, wie es dort weiß schimmernd vor dem ebenholzschwarzen Himmel auf dem hohen, schmalen Hügelkamm aufragte, mit seinem Giebeldach waren das etwa Fledermäuse, die um den Schornstein kreisten?

Zumindest war sie zu Hause. Die Fenster waren hell erleuchtet; ihr Streifenwagen parkte neben dem Geräteschuppen.

Wahrscheinlich hätte ich vorher anrufen sollen, aber nach meiner Begegnung mit dem Wolf hatte ich nicht gewagt, den Blick von der Straße zu nehmen, noch nicht mal, um kurz mein Handy zu benutzen.

Als ich aus dem Auto stieg, umgaben mich die Geräusche der Nacht – Käfer, der Wind, ein fernes Rascheln. Der Weg von meinem Fahrzeug zur Eingangsveranda kam mir unendlich weit vor. Ich schlug die Tür zu und hastete darauf zu.

Eine Fledermaus schoss auf der Jagd nach besagten Käfern im Sturzflug nach unten, und ich unterdrückte einen schrillen Schrei. Wenn ich zu schreien anfinge, würde ich Grace zu Tode erschrecken. Auch wenn sie nicht so leicht zu erschrecken war wie ich.

Ich erreichte die Veranda, rannte die Treppe hoch und drückte auf die Klingel, und zwar so gewaltsam, dass sie dreimal hintereinander läutete. Grace würde mich höllisch dafür büßen lassen, falls ich sie aus der Badewanne holte.

Sie öffnete nicht. Ich schaute auf die Uhr. Kurz vor zehn. Wo zum Geier steckte sie?

Nachdem ich ein weiteres Mal geklingelt hatte, wartete ich, dabei ungeduldig mit dem Fuß wippend und darauf lauschend, ob sie auf dem Weg zur Tür war.

Allmählich wurde ich nervös. Das Licht brannte. Ihr Auto stand vor dem Haus. War sie am Ende gestürzt und konnte nicht aufstehen?

Ich rüttelte an dem Knauf. Verschlossen. Ich beugte mich über die Verandabrüstung und linste in ein Fenster, dann überquerte ich die knarrenden Holzdielen und guckte in ein anderes. Neue Möbel, aber keine Grace.

Ich wollte zum Hintereingang gehen und feststellen, ob ich auf diesem Weg ins Haus käme. Ich guckte zum Himmel und zuckte zusammen, als etwas vorbeiflog und das silbrige Licht des Mondes zum Flackern brachte.

Nachdem ich tief Luft geholt hatte, sprang ich von der Veranda, flitzte um das Haus herum und die Hintertreppe hoch, ohne zu realisieren, dass ich dabei die ganze Zeit die Augen geschlossen hielt. Zum Glück hatte Grace keine neuen Deko-Artikel im Garten aufgestellt, denn dann wäre ich mit dem Gesicht voran im Gras gelandet, aufgespießt von einem grinsenden Keramikgnom.

Ich klopfte. Keine Antwort. Ich versuchte, die Tür zu öffnen. Auch sie verschlossen. Ich guckte durchs Fenster. Nichts.

„Verdammt!“

Ich kramte mein Handy heraus und wählte ihre Nummer. Drinnen hörte ich wieder und wieder das Echo des Klingelns an meinem Ohr, bis schließlich der Anrufbeantworter ansprang.

„Ich bin nicht da. Hinterlassen Sie eine Nachricht. Sollte es sich um einen Notfall handeln “ Grace’ Stimme leierte die Nummer des Notfalldienstes runter, obwohl ich mir sicher war, dass die meisten Einheimischen genau wie ich ihre Handynummer kannten.

Kaum dass ich sie als Nächstes gewählt hatte, hörte ich ein schwaches Klingeln irgendwo dort draußen. Ich drehte mich um, starrte in das dichte Laub der Bäume und wartete darauf, dass sie abnahm, aber das tat sie nicht.

Hatte Grace einen Spaziergang unternommen und ihr Handy unterwegs verloren? War sie ohnmächtig geworden und hatte es fallen lassen? Oder hatte sie es getan, als der Wolf, der uns zu verfolgen schien, angriff?

Ich sehnte mich, und das nicht zum ersten Mal, nach einer Schusswaffe. Aber wer weiß, was oder wen ich am Ende erschossen hätte!

Ich schlich die Treppe runter, dann hielt ich inne, als das Klingeln aufhörte und die Mailbox anging. Ich wartete ein paar Sekunden, drückte auf Wahlwiederholung, und als das Klingeln, das eigentlich ein Song – „Stray Cat Strut“ – war, von Neuem einsetzte, tappte ich vorsichtig zum Ende des Gartens.

Stirnrunzelnd betrachtete ich den Schatten, den ich im Mondlicht warf. Ich ging gebückt, mit gekrümmtem Rücken, und das würde ich nicht akzeptieren.

Ich richtete mich so schnell auf, dass meine Wirbelsäule knackte. Ich würde mich in diesen Wald wagen, Grace finden und mit jedem Problem fertig werden. Meine Tage des furchtsamen Wegduckens lagen hinter mir. Ich war die Bürgermeisterin; ich hatte das Sagen, und so würde ich mich verdammt noch mal auch benehmen.

„Grace!“

Ich stand an den Ausläufern des Waldes, mit dem gleißend hellen Haus hinter und den von Dunkelheit verschleierten Bergen vor mir.

Nebel senkte sich herab. Weiße Schwaden, die sich wirbelnd, trudelnd und immer näher kommend durch die Zweige schlängelten.

„Heilige Scheiße!“, murmelte ich.

Das war kein Nebel.