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Keine Ahnung, was ich in der städtischen Klinik von Lake Bluff vorzufinden erwartet hatte, aber ganz bestimmt nicht Grace, die reglos in einem leeren Krankenzimmer saß und auf ihre Hände starrte.

„Wo brennt’s denn?“, fragte ich.

Sie hob den Kopf. „Er ist weg.“

„Wer ist weg?“

„Ryan Freestone.“ Auf meine verständnislose Miene hin ergänzte sie: „Der Tourist, der von einem Wolf angefallen wurde.“

„Das heißt?“

„Er ist einfach verschwunden, und ich kann nirgendwo eine Spur von ihm finden.“

Jetzt musste auch ich mich setzen. „Bitte erzähl von Anfang an.“

Grace spreizte die Hände. In einer hielt sie das Rindenstück mit der eingekerbten Swastika. „Ich kam her, um ihn hiernach zu fragen. Da war er schon weg. Niemand hat ihn seit gestern Abend mehr gesehen.“

„Er hatte das Krankenhaus satt und hat sich davongemacht. Ich würde das ganz sicher tun.“

„Er ist nicht in sein Hotel zurückgekehrt. Sein Auto steht immer noch auf dem Parkplatz.“

„Er amüsiert sich auf dem Festival.“

„Möglich. Ich habe meine Leute angewiesen, nach ihm Ausschau zu halten. Bislang hat ihn keiner gesehen.“

„Er wird wieder auftauchen.“

„Möglich“, wiederholte sie und rollte das Rindenstück zwischen ihren Fingern wie einen Sorgenstein.

„Was setzt dir so zu?“

„Ich habe mir das Überwachungsvideo angeschaut.“

Ein nervöses Kribbeln kroch über meinen Rücken. „Und?“

Sie griff nach der Fernbedienung des Videorekorders und richtete sie auf den Fernseher, der gegenüber dem Bett an der Wand montiert war. Ein leises Brummen, dann erwachten flackernde Bilder zum Leben.

Ein schwach beleuchteter Flur. Die winzige Digitalanzeige in der unteren Ecke des Videos gab die Zeit mit drei Uhr dreiundzwanzig an. Eine Tür ging auf, und ein Mann trat heraus.

Ein splitterfasernackter Mann.

„Ist er das?“

„Mmmm.“

„Er scheint sich nicht viel aus Krankenhaushemden zu machen.“

Grace sparte sich eine Erwiderung.

Freestone schlich auf den Vordereingang zu, dann duckte er sich weg, als hinter dem Empfang die Gestalt einer Schwester sichtbar wurde. Er drehte sich zur Kamera, und ich erhaschte einen guten Blick auf sein Gesicht – es war schrecklich behaart, mit wilden, fiebrigen Augen, die mich an einen Fanatiker oder Irren denken ließen. Da es sich um eine Schwarz-Weiß-Aufnahme handelte, konnte ich über seine Haarfarbe nicht mehr sagen, als dass sie heller als schwarz, und über seine Augenfarbe, dass sie heller als dunkel war.

„Nicht gerade das hübscheste Exemplar von einem Mann“, kommentierte ich.

„Den Krankenschwestern zufolge hatte er Fieber, und zwar sehr hohes. Er sagte alle möglichen seltsamen Sachen.“

Die Videoaufzeichnung zeigte weiter, dass Freestone dann ein offenes Fenster entdeckte. Mit einem eigentümlich galoppierenden Schlurfen hielt er darauf zu, sprang aufs Fensterbrett und verschwand in der Nacht.

„Wir sind hier im ersten Stock“, stellte ich fest.

„Dir entgeht wirklich nichts.“

„Was hast du unter dem Fenster gefunden?“

„Fußspuren, die in den Wald führen.“

„Hohes Fieber schwächt einen normalerweise.“

„Normalerweise.“ Grace drückte die Stopptaste, spulte ein Stück zurück, dann schaltete sie auf Pause.

„Sieh dir das mal an.“ Sie nahm ein Bündel weißen Verbandmulls vom Bett und hielt es mir vor die Nase.

Ich verzog das Gesicht. „Muss ich?“

Sie zog eine Braue hoch, woraufhin ich den Verband mit spitzen Fingern entgegennahm. Er war zerknittert und zerrissen, aber es haftete kein Blut daran und auch sonst nichts, das ich lieber nicht sehen wollte.

„Ich verstehe nicht.“ Ich gab ihn ihr zurück.

„Freestone hatte eine extrem schlimme Halsverletzung, dazu Wunden an Händen und Armen, aber jetzt guck mal!“ Sie drückte auf Play.

Ich beobachtete ein zweites Mal, wie Freestone aus seinem Zimmer schlich, die Krankenschwester bemerkte und kehrtmachte; dann fror Grace das Bild ein.

Er hatte gerade die Hände gehoben, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Es war nicht die winzigste Blessur an ihnen zu erkennen.

Ich stand auf, ging näher hin und starrte auf seine glatte, unversehrte Kehle. „Und du bist sicher, dass das derselbe Mann ist?“

„Hundertpro.“

„Was sagt der Arzt?“

„Er kann sich das nicht erklären. Da ich den Wolf nicht finden konnte, wollten sie heute eigentlich mit den Tollwutinjektionen anfangen.“

„Die sind schmerzhaft, oder?“

„Nicht mehr so schlimm wie früher, trotzdem glaube ich nicht, dass man sich freiwillig einer Tollwutbehandlung unterziehen würde, falls es nicht unbedingt erforderlich ist.“

„Glaubst du, das ist der Grund, warum Freestone seine Houdini-Nummer abgezogen hat?“

„Vielleicht.“ Grace drückte die Auswurftaste. „Verdammt, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll!“

Sie sprach mir aus der Seele.

„Das kann ich im Moment überhaupt nicht brauchen“, murmelte sie.

Jetzt, da das Festival in vollem Gange war, hatten Grace und ihre Leute alle Hände voll zu tun. Sogar mit den Aushilfskräften, die sie angeheuert hatte – pensionierte Polizisten aus Lake Bluff und Umgebung –, erstickten sie in Arbeit.

„Ich muss ihn finden“, stieß sie hervor.

„Was passiert, wenn er Tollwut hat und die Spritzen nicht bekommt?“

„Das willst du nicht wissen.“

„Nein, aber ich muss.“

Sie neigte den Kopf, sah mich forschend an und nickte. „In etwa das, was man aus Filmen kennt – extremer Durst, Schaum vor dem Mund, die Tendenz, jeden zu beißen, der einem über den Weg läuft, um die Seuche zu verbreiten.“

Mir wurde schlecht bei der Vorstellung, dass der Kerl auf dem Höhepunkt des Festivals über die Center Street spazieren könnte. Das würde allen den Spaß verderben.

„Die Inkubationszeit beträgt bei Menschen ein bis drei Monate“, ergänzte sie.

„Oh!“ Ein Anflug von Erleichterung machte sich in mir breit. „Endlich mal eine gute Nachricht.“

„Vorausgesetzt, er bleibt in der Stadt und taucht nicht in den Bergen unter. Freestone ist ein passionierter Wanderer, und wenn man seiner Familie glauben darf, ein exzellenter noch dazu. Er hat schon oft Wochen allein in der Wildnis verbracht. Er kennt sich dort aus.“

„Mist.“ Der Typ könnte endlos lange überleben.

„Außerdem besteht die Gefahr, dass das Virus mutiert ist.“

„Was zur Folge hätte?“

„Dass die Inkubationszeit wesentlich kürzer ausfällt.“

„So was wie ein bis drei Tage statt ein bis drei Monate?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Viren sind in dieser Hinsicht unberechenbar.“

„Ich muss die Seuchenschutzbehörde alarmieren.“

„Schon passiert.“

„Und?“

„Sie werden sich bei uns melden.“

Ich verdrehte die Augen; Grace presste die Lippen zusammen. „Ich kann nicht warten, bis die Behörde etwas unternimmt. Sobald die ersten Symptome auftreten, ist der Impfstoff wirkungslos.“

„Wir können keinen Todesfall brauchen, der mit dieser Stadt oder dem Festival in Verbindung gebracht wird.“

„Wir können auch keine Tollwutepidemie brauchen.“

„Das stimmt allerdings. Kommt es eigentlich oft vor, dass Tollwutopfer einfach abhauen?“

„Ich hatte noch nie mit Tollwutopfern zu tun.“

„Wirklich noch nie?“

„Dem Arzt zufolge infizieren sich Menschen nur selten. Ich glaube nicht, dass er selbst je einen solchen Fall hatte.“

„Na super!“

„Meiner Erfahrung nach wollen normale Menschen geheilt werden, und das so schnell wie möglich.“

„Was stimmt dann mit Freestone nicht?“

„Bei normalen Menschen verheilen auch schwere Halsverletzungen nicht in weniger als vierundzwanzig Stunden.“

Ich musterte Grace’ zutiefst besorgtes Gesicht. „Was willst du damit andeuten?“

„Er mag normal wirken, aber er ist es nicht.“

„Was ist er dann?“

„Das ist es, was wir herausfinden müssen. Nur werde ich nicht die Zeit haben, ähnlichen Vorkommnissen wundersamer Heilungen nachzugehen. Deshalb übertrage ich diese Aufgabe dir.“

„Mir?“

„Du bist doch gut im Recherchieren, oder?“ Grace wartete nicht auf meine Antwort. „Und wenn du schon mal dabei bist, finde heraus, ob es schon häufiger Sichtungen von Wölfen an Orten gab, an denen keine Wölfe leben sollten.“

„In Ordnung.“

„Hast du schon irgendetwas darüber herausgefunden?“ Sie winkte mit dem Rindenstück.

Ich weihte sie in die Herkunftsgeschichte der Swastika ein.

„Schutz und Wiedergeburt“, sinnierte sie. „Interessant.“

Ich hatte das nicht interessant gefunden, aber wenn schon. „Gehörte es unserem verschollenen Wandersmann?“

Grace schüttelte den Kopf. „Ich musste seine Familie anrufen, um sie über sein Verschwinden zu verständigen. Seine Frau sagt, dass er ihres Wissens nie einen Glücksbringer, ein Amulett oder einen Talisman besessen hat und sie stark bezweifelt, dass er irgendetwas mit einem Hakenkreuz mit sich herumtragen würde.“

„Weil?“

„Der Mädchenname seiner Mutter Wasserstein war.“

„Oh.“

„Ja.“

„Die Sache gefällt mir nicht.“

„Was meinst du genau? Den Teil, in dem ein Wolf gesichtet wurde, wo es schon seit hundert Jahren keine Wölfe mehr gibt? Den, in dem der Wolf, der nicht hier sein sollte, einen Touristen anfällt? Oder vielleicht den Teil, in dem der Tourist eine wundersame Heilung erfährt und spurlos verschwindet, bevor er gegen eine Krankheit geimpft werden kann, die eine potenzielle Epidemie auslösen könnte?“

„Ich sprach von dem Teil, in dem wir ein Hakenkreuz finden und ein Tourist mit jüdischem Hintergrund attackiert wurde. Und das alles in einem Waldstück, in dem Zigeuner kampieren.“

„Verfluchter Mist!“ Grace trat gegen das Bett. „Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.“

„Und was jetzt?“

„Ich werde einen Suchtrupp zusammenstellen, um diesen Kerl zu finden.“

„Ich helfe euch.“

Grace lachte. „Warst du schon mal in den Bergen?“

„Ich lebe in den Bergen, Grace, genau wie du.“

Nicht genau wie ich. Ich bin mit meinem Vater schon in diese Berge gegangen, als ich vier Jahre alt war. Er hat mich damals dort zurückgelassen und gezwungen, allein nach Hause zurückzufinden.“

Ich starrte sie fassungslos an. „Das hast du mir nie erzählt.“

„Es war Privatsache.“

„Es war Kindesmisshandlung.“

„Was?“ Grace wirkte aufrichtig schockiert.

„Wenn jemand dich anriefe, um dir mitzuteilen, dass ein vierjähriges Mädchen absichtlich allein in der Wildnis ausgesetzt wurde, was würdest du tun, Sheriff McDaniel?“

„Das Kind finden.“

„Und dann? Würdest du es den Menschen zurückgeben, die ihm das angetan haben, und das in einem Alter, in dem es Bibo aus der Sesamstraße gucken sollte, anstatt vor dessen Artgenossen wegzulaufen, weil die es darauf abgesehen haben, seine Augen zum Frühstück zu verspeisen?“

„Du hast zu viel Hitchcock gesehen. Vögel tun so etwas in der Regel nicht.“

„Ich mag mich in der Wildnis nicht so gut auskennen wie du, trotzdem weiß ich, wozu Geier imstande sind, und Aasfresser jeder Spezies machen Jagd auf die Schwachen.“ Junge, und ob ich das wusste! „Du hättest dort draußen umkommen können, Grace. Und das hätte mich richtig, richtig wütend gemacht.“

Sie lächelte. „Danke.“

„Also, was hat dein Vater sich im Namen der Tradition noch so alles einfallen lassen?“

Ihr Blick erstickte jede weitere Frage im Keim. Offensichtlich waren für diesen Tag die Grenzen dessen, was sie mir gestehen würde, ausgereizt.

„Ich lass dich wissen, was ich dort draußen finde“, versprach sie. „In der Zwischenzeit kannst du uns diese Informationen besorgen.“

„Ich brauche den Talisman.“

Sie fasste in ihre Hosentasche, dann klatschte sie mir das Rindenstück in die Hand. „Verlier es nicht!“

„Habe ich jemals etwas verloren?“

„Nur den Verstand“, murmelte sie, als sie das Zimmer verließ.