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Unter der Zeltplane erwartete mich ein Topkandidat für den Das-Klischee-des-Monats-Preis.

Zwei Stühle flankierten einen Tisch mit einer bodenlangen, lilafarbenen Decke. Darauf lag ein Satz Karten und ein von schwarzer Seide verhüllter Gegenstand. Er hatte vage die Umrisse einer Kristallkugel.

„Was wünschen Sie?“

Die Wahrsagerin tauchte hinter einem aus vielfarbigen Tüchern bestehenden Vorhang auf, der den vorderen Teil des Zelts vom hinteren abtrennte; ich hatte sie noch nicht einmal rascheln hören.

Sie nahm ihr münzenbesetztes Kopftuch ab und schüttelte ihr dunkelbraunes Haar, das nur wenige graue Strähnen durchzogen. Sie hatte auch ihre Armreife abgelegt, aber an ihren Fingern funkelten noch immer die vielen Ringe, und die Kreolen in ihren Ohren blitzten trotz der dämmrigen Beleuchtung.

Ich zog fünf Dollar aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.

Sie sah an meiner Schulter vorbei. „Schließen Sie die Zeltklappe.“

Ich tat wie geheißen. Als ich mich umdrehte, war das Geld verschwunden, und die Frau saß an dem Tisch. „Ich bin Edana.“ Sie wedelte ungeduldig mit der Hand. „Setzen Sie sich.“ Sobald ich auf einem wackligen Klappstuhl Platz genommen hatte, legte sie ihre Hand mit der Innenseite nach oben auf das violette Tuch. Unsicher, was sie von mir erwartete, starrte ich sie an. „Geben Sie mir Ihre Hand!“

Ihre eigene war dünn, sehnig, dunkel und der gefürchteten Affentatze sehr ähnlich. Ich wollte weder das eine noch das andere berühren.

„Warum?“, versuchte ich, Zeit zu schinden.

Sie gab einen unwirschen Laut von sich. „Ich bin filidh, eine Seherin. Ich werde in Ihrer Handfläche lesen und in den Tarotkarten; danach werfen wir einen Blick in die Kristallkugel.“

Sie zog das schwarze Tuch von dem Gegenstand in der Tischmitte. Das Licht der Öllaterne, die über unseren Köpfen baumelte – so viel zum Thema Feuergefahr –, brach sich in der Oberfläche der Glaskugel, gleichzeitig wirbelten die Regenbogenfarben der Vorhänge durch ihr Zentrum.

„Warum alles drei?“ Ich hatte vorgehabt, mich nur fünf Minuten aufzuhalten, aber nun schien daraus ein größeres Unterfangen zu werden.

„Jeder Mensch ist anders. Ich könnte etwas in Ihrer Handfläche, den Karten oder der Kugel sehen – vielleicht ein wenig in jedem. Ich tue, was nötig ist, um jenen, die mich aufsuchen, zu geben, wofür sie bezahlen.“

Sie krümmte ihre Finger, um wortlos nach meiner Hand zu verlangen. Ich biss die Zähne zusammen und reichte sie ihr.

Ihre Haut war heiß und trocken, aber möglicherweise war das auch nur Einbildung, weil meine eigene kalt und feucht geworden war. Sie fuhr mit einem langen, scharfen Nagel über die Mitte meiner Handfläche, und ich zuckte zusammen.

„Halten Sie still!“, fauchte sie.

Für jemanden, der von der Neugier Fremder lebte, war sie entsetzlich unleidig, aber wahrscheinlich hatte sie es nicht nötig, auf Stammkundenfang zu gehen, da ihre Karawane jede Woche in eine neue Stadt weiterzog. Ich fragte mich, ob sie den Leuten wirklich sagte, was sie sah, oder vielmehr das, was sie hören wollten.

Ich verdrehte im Geist die Augen. Schließlich glaubte ich ja gar nicht, dass sie irgendetwas sehen würde. Ich war aus Jux hier. Aus purer Neugier.

Sie folgte der Linie, die oben an meinem Daumen begann, entlang meinem Handballen bis zu meinem Handgelenk. „Ein langes Leben“, murmelte sie. „Mit der Gefahr von Tod hier.“ Sie deutete auf die Stelle, gleich neben dem Ansatz meines Daumens, wo die Linie verblasste.

„Was bedeutet das?“

„Dass Sie sterben könnten oder auch nicht.“

Ich verzichtete darauf, sie auf das Wischiwaschi dieser Aussage hinzuweisen.

Sie hob ihre dunklen Augen zu meinen. „Bald.“

Mich überfiel ein Frösteln. „Bald“ war alles andere als Wischiwaschi.

„Wann?“

Achselzuckend richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf meine Hand und rieb mit dem Fingernagel über einen winzigen Knotenpunkt geschwungener Linien zwischen meinem Ring- und Mittelfinger. „Der Gürtel der Venus ist stark. Sie mögen Sex.“

Ich wich zurück, aber sie ließ mich nicht los.

„Obwohl “ – sie zeigte auf eine Unterbrechung der Linien – „… Sie das bis vor Kurzem nicht taten. Ein Trauma“, fuhr sie leise fort. „Doch das ist jetzt überwunden.“

Meine Augen wurden schmal. Woher wusste sie das. Konnte Malachi ?

Nein. Das würde er nicht tun.

Oder doch?

Ich hatte von Wahrsagern gelesen, die mit Komplizen zusammenarbeiteten, die in die jeweils nächste Stadt vorausreisten, um so viel wie möglich über die Menschen dort in Erfahrung zu bringen. Anschließend benutzten diese angeblichen Hellseher die Informationen, um übersinnliche Kräfte vorzugaukeln, obwohl sie in Wahrheit nur Meister der Vorausplanung waren.

Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich lieber weglaufen oder mehr hören wollte, um herauszufinden, woher sie ihr Wissen hatte. Die Neugier siegte.

„Was noch?“

Edana beugte sich blinzelnd näher, dann zuckte sie mit den Schultern und gab meine Hand frei. „Da ist nichts mehr.“

„Ich könnte bald sterben, und ich mag Sex. Das ist alles?“

„Wir sind noch nicht fertig.“ Sie griff nach den Karten und mischte sie ein paarmal durch, bevor sie sie mir entgegenhielt. „Mischen Sie.“

„Wie lange?“

„Bis Sie das Gefühl haben, dass es genug ist.“

Während ich das tat, breitete sie ein marineblaues Samttuch vor mir aus und strich darüber, bis es so glatt und flach war, dass es mich an den endlosen Nachthimmel über den Bergen erinnerte.

„Ich bin fertig.“ Als ich ihr die Karten zurückgeben wollte, schüttelte sie den Kopf.

„Unterteilen Sie sie in drei Stöße; benutzen Sie dazu nur die linke Hand.“ Ich gehorchte. „Nun schieben Sie sie wieder zu einem einzigen Stapel zusammen.“ Auch das tat ich.

Schließlich nahm sie die Karten und legte sie mit der Bildseite nach oben in einem bestimmten Muster aus – drei Reihen zu je drei Karten, also neun insgesamt.

„Dies ist die Vergangenheit.“ Edana zeigte auf die oberen drei. „Das Glücksrad.“ Sie verstummte und schürzte die Lippen.

„Soll ich jetzt einen Vokal kaufen?“

Edana lachte nicht. Vielleicht hatte sie die Show nie gesehen. Vielleicht mochte sie die Glücksradfee nicht. Vielleicht war ich nicht so witzig, wie ich dachte.

„Das Rad bringt Veränderung. Sie standen an einer Wegkreuzung.“

Das stimmte, aber auf wen traf das nicht zu?

„Diese Karte “ – sie deutete auf die mittlere oben – „… ist die Sechs der Kelche. Sie sind in das Haus Ihrer Kindheit zurückgekehrt.“

Ach, wirklich? Jedem, der sich länger als eine Minute in Lake Bluff aufhielt, würde das zu Ohren kommen.

Edanas Blick huschte zu meinem Gesicht, und sie runzelte die Stirn, als hätte sie meinen Gedanken gehört, dann konzentrierte sie sich von Neuem auf die Karten.

„Dies ist der Ritter der Kelche. Sie hatten sich nach Liebe gesehnt.“

Ich hustete. Nein. Wonach ich mich gesehnt hatte, war

Ich wusste es nicht genau. Sicherheit? Ein Heim? Ganz gewiss nicht Liebe. Ich brauchte Liebe so dringend, wie ich Balthazar Monahan in meinem Nacken brauchte.

Da ich so geradlinig auf mein Ziel zugesteuert war, hatte ich mir nie Gedanken über ein Heim oder eine Familie gemacht. Sicher, ich strebte inzwischen nicht mehr danach, die neue Barbara Walters Jr. zu werden, trotzdem hatte ich nie von solchen Dingen geträumt. Ich war in meiner Vergangenheit stecken geblieben und hatte mich ausschließlich auf das fokussiert, was geschehen war, anstatt davon zu träumen, was geschehen könnte.

In Wahrheit hatte ich absichtlich jeden Gedanken daran vermieden, sesshaft zu werden, denn ich erinnerte mich nur zu gut an die Geschichten über die Unzufriedenheit meiner Mutter, ihr unbezähmbares Bedürfnis, irgendwo anders zu sein.

In Atlanta hatte ich die gleiche Rastlosigkeit empfunden und befürchtet, dass ich ihr ähnlicher sein könnte, als mir lieb war, dass ich nie irgendwo oder mit irgendetwas zufrieden sein würde.

Aber jetzt, da ich heimgekehrt war und allmählich begann, Lake Bluff als mein Zuhause zu betrachten, realisierte ich, wie sehr ich mich danach gesehnt hatte, Atlanta den Rücken zu kehren. Entgegen meiner Überzeugung, in die Großstadt zu gehören, hatte ich mich dort nie heimisch gefühlt und würde es auch nie tun.

Ein Zuhause und eine Familie zu haben, klang nett. Ich hatte das Alleinsein satt.

„Wir wenden uns jetzt der Gegenwart zu.“ Edanas Hand glitt zu den mittleren drei Karten. „Der Narr.“

„Na toll!“ Ich befürchtete, dass sie mir einen Vortrag über den Fehler halten würde, den ich begangen hatte, indem ich Malachi mein Vertrauen schenkte und mich von ihm berühren ließ – wenn vielleicht auch nicht um meinet-, sondern um seinetwillen.

„Dies ist eine gute Karte“, fuhr sie fort. „Neubeginn. Hoffnung. Werfen Sie Ihre Bedenken über Bord und genießen Sie die Reise!“

Das klang nicht nach mir.

„Die Acht der Stäbe. Alles wird sich verändern. Überraschungen, gute wie schlechte, erwarten Sie an jeder Ecke. Rechnen Sie mit dem Unerwarteten!“

Darin war ich noch nie sehr gut gewesen. Ich bevorzugte mein Leben geordnet; ich fuhr besser mit einem festen Plan. Was erklären würde, warum ich in letzter Zeit so nervös war. Jeder meiner Pläne war gescheitert.

„Der Mond“, sprach Edana weiter.

Ich betrachtete die Karte, die den Mond in verschiedenen Phasen zeigte – voll, halb voll, drei viertel voll und etwas, das ich nicht identifizieren konnte. Dieser Mond war rund und flammend rot, als ob etwas mit ihm kollidiert und explodiert wäre.

„Was ist das?“

„Der verborgene Mond“, erklärte sie. „Eine sehr spezielle Phase.“

Ich wollte sie fragen, was ein verborgener Mond war, aber sie gab mir nicht die Chance. „Der Mond verändert sich jede Nacht. Er ist sehr mysteriös und kraftvoll. Wenn Sie ihn betrachten, ersehnen Sie Dinge, die Sie niemals haben können.“

„Sprechen Sie speziell von mir oder allgemein?“ Ich konnte mich nicht erinnern, dem Mond je viel Beachtung geschenkt zu haben. Selbst während des Festivals gab es immer so viel anderes zu tun.

„Diese Karte steht für “ Edana schloss die Augen und ließ ihre Hand über der Karte schweben, ohne sie zu berühren. „Unehrlichkeit, Niedertracht.“ Ihre Augen gingen auf, und für einen winzigen Moment spiegelte sich das Laternenlicht gleich einer feurigen Glut in ihren Tiefen. „Wahnsinn“, flüsterte sie.

„Hey, super.“

Edana schüttelte sich, als käme sie gerade aus dem Wasser. „Die Zukunft“, fuhr sie fort und bewegte den Finger zu der dritten Reihe. „Tod.“

„Schon wieder?“

„Nicht zwangsläufig im wortwörtlichen Sinn.“ Sie legte den Kopf zur Seite, als würde sie nach irgendetwas lauschen. „Die Karte des Todes deutet auf ein Ende hin, auf durchschnittene Bande, ein Weiterziehen. Etwas Vertrautes wird aus Ihrem Leben verschwinden.“

„Wie zum Beispiel mein Leben?“

„Man weiß nie, wann das Ende bevorsteht. Und das Ende, wie wir es kennen, ist nicht das Ende. Nichts stirbt, ohne wiedergeboren zu werden. Der Tod ist eine Tür.“

Ich nehme an, das sollte tröstlich sein, nur leider war es das nicht.

„Der Page der Schwerter.“ Stirnrunzelnd wies Edana mich auf die letzte Karte hin. „Jemand beobachtet Sie.“

Balthazar und seine Speichellecker vermutlich. Die ließen mich nie in Frieden.

Sie murmelte etwas auf Romani, das verdächtig nach einem Fluch klang; ich schaute auf. Sie starrte wie hypnotisiert in ihre Kristallkugel. Im Inneren des Glases zirkulierte grauer Rauch, wie Dunst- oder Nebelschwaden.

„Nicht schon wieder“, entfuhr es mir. Was hatte ich nur seit Neuestem mit Nebel am Hut?

„Nimm dich in Acht vor dem Teufel “ Edanas Blick und Stimme waren so dumpf geworden, als wäre sie in Trance. „… der ein Gestaltwandler ist.“

Ein Gestaltwandler?

Als ich wieder nach unten schaute, lichtete sich in der Kristallkugel gerade der Nebel. An den Rändern waberten Schemen unterschiedlicher Form und Größe, keiner davon klar genug, um als Mensch oder Tier identifiziert werden zu können.

Bis dann der schlanke schwarze Wolf im Zentrum der Kugel auftauchte, eine Pfote erhoben, als hätte er eben das Rascheln von etwas Kleinem und Schmackhaftem gehört. Als das Tier seinen gigantischen Kopf zurücklegte, trafen sich unsere Blicke.

Der Wolf hatte menschliche Augen.