19

„Claire.“

Josh Logan kam näher, und der Mond wählte genau diesen Moment, um hinter den Wolken aufzutauchen und sein hübsches Gesicht in Silber zu tauchen. Josh wirkte nun noch mehr wie ein Blutsauger als in meinen Träumen.

„Ich habe auf dich gewartet.“

Ich sah verstohlen nach drinnen und kalkulierte, ob ich es schaffen würde, ins Haus zu flüchten und die Tür zuzuknallen. Aber das wäre kindisch gewesen.

Und wenn schon.

Ich rannte in die Diele und hätte es fast geschafft, als er sich in der letzten Sekunde gegen die Tür warf. Josh war schon immer blitzschnell gewesen.

„Was hast du denn?“ Er folgte mir nach drinnen.

Ich wich zurück, um zu verhindern, dass er nach mir grabschen konnte. Gelassen schloss er die Tür, sperrte ab und knipste das Licht an.

Er sah noch genauso aus wie bei unserer letzten Begegnung, andererseits konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass ihm der Vorfall ebenso viele schlaflose Nächte beschert hatte wie mir.

Der junge, blonde, durchtrainierte Josh war der Liebling von Atlanta. Geboren in Washington, D.C., was geographisch im Süden liegen mochte, technisch gesehen jedoch Lichtjahre von der Erde entfernt war, hatte er einen Kongressabgeordneten zum Vater, der früher Anwalt gewesen war. Waren sie das nicht alle? Joshs Mutter war eine ehemalige Anwältin und heutige Lobbyistin. Das Gleiche galt für seine Schwester.

Josh war der helle Stern, der große Hoffnungsträger am Firmament der Familie Logan. Er hatte die Universität von Georgia und anschließend Harvard besucht, bevor er zurückgekehrt war, um für den Gouverneur zu arbeiten. Die erfolgreiche Jagd auf exakt dieses Amt würde die nächste Stufe auf Joshs Weg ins Weiße Haus sein.

Ah, verdammt. Ich würde ihn ans Messer liefern müssen. Das begriff ich jetzt.

„Was willst du?“, fragte ich.

„Dasselbe, das ich immer wollte, Claire. Dich.“

Eine Gänsehaut breitete ich auf meinem ganzen Körper aus. Ich hatte das hier schon hundertmal in meinen schlimmsten Albträumen durchlebt, aber nie wirklich geglaubt, dass es Realität werden könnte. Warum sollte Josh sozusagen an den Schauplatz des Verbrechens zurückkehren? Warum sollte er das Risiko eingehen, dass ich durch ein Wiedersehen erkennen würde, wie dumm ich gewesen war? Dass ich plötzlich begreifen könnte, dass ich die Polizei rufen und sicherstellen musste, dass er das, was er mir angetan hatte, nie einer anderen antun würde?

Vielleicht war er doch nicht ganz so schlau, wie er immer behauptete.

Oprah begann auf der Treppe wütend zu fauchen, und Joshs Blick glitt von mir zu der Katze. Ihr Knurren wurde vom Kratzen ihrer Krallen auf dem Hartholz ersetzt, als sie die Stufen hinaufflüchtete und in der Dunkelheit des ersten Stocks verschwand.

Josh wandte seine Aufmerksamkeit wieder mir zu, und ich hatte Mühe, den Drang, Fersengeld zu geben und wie die Katze nach oben zu rennen, niederzukämpfen. Wenn ich das täte, würde er mich festhalten, und das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Viel besser wäre es, ihn aus dem Haus zu locken. Draußen hätte ich vielleicht eine Chance.

„Warum gehen wir nicht auf die Terrasse?“

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und kehrte ihm den Rücken zu. Als er mich nicht zu Boden stieß und anfing, an meinen Kleidern zu zerren, ging ich in die Küche und weiter zu der Glasschiebetür.

Ich hörte, wie der Kühlschrank geöffnet wurde, und hielt inne. Josh steckte den Kopf ins Innere. „Kein Champagner?“ Er streckte die Hand aus und holte eine Flasche Sauvignon Blanc heraus. „Dann muss es der eben tun.“

Er nahm zwei meiner Weingläser und forderte mich mit einem Nicken auf weiterzugehen. Ich hätte abhauen sollen, während er den Kopf im Kühlschrank gehabt hatte; vielleicht hätte ich es in den Wald geschafft. Mein Verstand arbeitete nicht so scharf, wie er sollte. Ich musste mich konzentrieren und die nächste Chance zur Flucht nutzen.

Auf der Terrasse schenkte Josh jedem von uns ein Glas ein, dann stellte er die Flasche auf den Tisch. Er reichte mir meins. „Wir müssen reden.“

„Reden?“ Ich nahm den Wein, trank jedoch nicht. Vielleicht könnte ich ihn ihm in die Augen schütten und wegrennen.

Josh ließ sein Wahlkampflächeln – das Ergebnis Tausender in Kieferorthopäden investierter Dollar – aufblitzen und gluckste fröhlich. „Ich will dich zurück, Schatz. Ich habe dich so sehr vermisst.“

„Du hast mich vermisst?“ Ich schien nicht damit aufhören zu können, seine Worte zu wiederholen.

„Ich weiß, wir waren nicht lange zusammen, aber du hast mein Herz erobert.“ Er schlug sich mit der Faust auf die linke Brust.

Ein hysterisches Kichern stieg in meiner Kehle hoch. Meinte er das ernst? Aus welchem anderen Grund sollte er gekommen sein, es sei denn

Mein Verstand rebellierte bei der Vorstellung, was er sonst noch wollen könnte. Eher würde ich sterben. Wahlweise er.

„Ich werde schon bald für das Amt des Gouverneurs kandidieren. Wir müssen den Knoten auf der Stelle knüpfen.“

„Den äh was?“

„Du bist perfekt. Wir werden das Appalachen-Ding hochspielen.“ Er gestikulierte mit seinem Weinglas zu den Gipfeln, wobei ein wenig über den Rand schwappte. „Du bist zwar aus den Bergen, trotzdem hast du dich gut gemacht. Du hast nicht zufällig eine alte, zahnlose Großmutter, die wir herumzeigen könnten?“

„Hä?“

Er schnalzte mit der Zunge und kam näher. „Du musst heute Abend mit mir nach Hause kommen. Du bist erst seit ein paar Wochen hier, trotzdem verlierst du schon jetzt diesen Glanz, den ich so sehr an dir liebe.“

Er fasste nach meinem Haar, ohne sich darum zu scheren, dass ich zusammenzuckte, aber möglicherweise bemerkte er es gar nicht, dann rieb er die Strähne zwischen seinen Fingern. „Es wäre besser, wenn du blonde Haare hättest. Darum kümmern wir uns morgen.“ Er schlenderte über die Terrasse. „Pack deine Sachen!“

„Du du glaubst wirklich, dass ich dich heiraten will?“

Langsam drehte er sich um. „Warum solltest du das nicht wollen? Ich werde der nächste Gouverneur von Georgia sein.“

„Nein“, widersprach ich leise. „Das wirst du nicht.“

Er seufzte ungeduldig. „Claire, ich dachte, du verstündest, welchem Zweck das alles diente.“

„Was meinst du damit?“

„Ich habe dich überallhin mitgenommen. Ich habe sichergestellt, dass alle uns zusammen sahen. Dann haben meine Leute eine Studie gemacht – oberflächlich, aber aussagekräftig genug. Ich bekam das Ergebnis an dem Tag, an dem wir Liebe gemacht haben.“

Ich konnte nicht anders, ich musste würgen. „Das war keine Liebe.“

Sein Gesicht nahm einen Ausdruck demütiger Erleichterung an. „Ich bin froh, dass du das auch so siehst. Wenigstens muss ich mich damit nicht verstellen. Es würde dir nichts ausmachen, wenn ich eine Freundin hätte? Du musst schon zugeben, dass du im Bett ein bisschen frigide bist.“

Ich konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren. Er war wahnsinnig.

„Die Amerikaner lieben gesellschaftliche Außenseiter und “ – er senkte die Stimme – „… natürlich bin ich keiner. Aber du. Aus diesem Nest zu stammen “ – er spitzte die Lippen und machte eine vage Handbewegung in Richtung Lake Bluff – „… und trotzdem zu erreichen, was du erreicht hast, deine Hinterwäldler-Vergangenheit und diesen grauenvollen Akzent abzulegen. Ganz ehrlich, wenn ich nicht wüsste, dass du weißer Abschaum bist, ich hätte es nie vermutet. Ein hoher Prozentteil der Befragten vertraut dir. Wenn du mir also als meine Ehefrau zur Seite stehst, ihnen sagst, dass Sie für mich stimmen sollen “ Er breitete die Hände aus und zwinkerte mir zu.

„Lass mich das kurz zusammenfassen. Du bist mit mir ausgegangen, um zu sehen, wie ich mich in der Öffentlichkeit mache. Du hast eine Meinungsumfrage angestellt und dann

„Habe ich dich erobert.“

„Mich erobert.“ Nun, zumindest hatte er in diesem Punkt recht. Er hatte mich erobert – nur leider gewaltsam.

„Ich habe meinen Anspruch angemeldet.“ Er ließ die Hände sinken. „So etwas tun Männer.“

„So etwas tun Vergewaltiger.“

Fassungslosigkeit breitete sich über sein Gesicht. „Was?“

„Du hast mich vergewaltigt.“

„Habe ich nicht.“

Ich würde mit diesem Kerl nicht „Hab ich“ oder „Hab ich nicht“ spielen. Ich würde Grace anrufen.

Ich holte mein Handy aus der Tasche, als er meinen Arm festhielt. So viel dazu, genau das zu vermeiden.

„Wir sind monatelang miteinander ausgegangen“, erinnerte er mich.

„Mein Fehler.“

„Es muss mich Tausende gekostet haben, dich ständig auszuführen. Du warst es mir schuldig.“

„Du hast recht. Und jetzt ist die Zeit gekommen, die Rechnung zu begleichen.“

Er entspannte sich ein wenig, ließ mich jedoch nicht los.

„Wie wäre es damit?“, fuhr ich fort. „Du darfst direkt und ohne über Los zu gehen ins Gefängnis wandern, anstatt Gouverneur von Georgia zu werden.“ Nicht, dass er tatsächlich im Knast landen würde – ich hatte keine Beweise, damit stand mein Wort gegen seins –, aber es klang so gut.

Mein Kopf schnellte nach hinten, als er mich ohrfeigte. Das Handy fiel aus meinen plötzlich knochenlosen Händen und landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden.

Eine Minute lang hatte ich mir eingebildet, es tatsächlich mit ihm aufnehmen zu können. Ihn anzuzeigen, ihn büßen zu lassen. Aber ein einziger Schlag ins Gesicht hatte gereicht, dass ich nicht mehr denken, geschweige denn mich wehren und die Polizei alarmieren konnte.

Ich war nie zuvor geschlagen worden. Gepackt, geschüttelt, vergewaltigt, aber nie geschlagen. Niemand sagt einem vorher, was für ein Schock das ist, welche Demütigung, welches Gefühl der Ohnmacht.

Plötzlich wurde Josh nach hinten gezerrt. „Was fällt dir ein, eine Frau zu schlagen?“ Malachi Cartwright hob Josh am Hemdkragen in die Luft und schüttelte ihn. „Du Bastard!“

Josh strampelte mit den Beinen, trat mit den Füßen nach Malachis Schienbeinen und mit den Knien gegen seine Oberschenkel. Sein Gegner schien es gar nicht zu bemerken.

„Möchtest du, dass ich ihn töte?“, fragte er mich ruhig.

Josh traten buchstäblich die Augen aus dem Kopf.

„Lass ihn runter!“, befahl ich.

„Ich denk nicht, dass ich das tun werde“, gab er mit breiter werdendem Akzent zurück.

„Lass ihn runter!

Cartwright zog eine Braue hoch. „Bist du sicher?“

„Ja.“

Er schleuderte Josh über die Brüstung. Dessen Protestschrei erstarb mit einem „Uff!“, als er aufschlug.

„Warum hast du das getan?“, verlangte ich zu wissen.

„Er dürfte noch nicht mal die gleiche Luft atmen wie du, und das weißt du.“

Ein zorniges Bellen veranlasste uns herumzufahren. Josh kam die Treppe herauf. Sein Anzug war zerrissen und voll Erde. Er hatte Kratzer auf den Wangen und humpelte, trotzdem bewegte er sich in ziemlich flottem Tempo direkt auf mich zu.

„Du Schlampe! Ich bring dich um!“

Cartwright trat zwischen uns. Josh brüllte wieder vor Zorn; er hörte sich nicht wirklich menschlich an. Er sah auch nicht sehr menschlich aus – bis er die Pistole zog.

„Scheiße“, murmelte ich und suchte auf dem Boden nach meinem Handy. Nicht, dass ich schneller hätte Hilfe rufen können, als eine abgefeuerte Kugel ihr Ziel treffen würde, aber vielleicht konnte ich ihm das Ding an den Kopf schleudern.

„Du glaubst, das macht mir Angst?“, spottete Cartwright.

„Das sollte es.“

Malachi lachte und verpasste ihm einen Fausthieb auf die Nase.

Blut spritzte; die Waffe fiel auf die Holzplanken, als Josh beide Hände vors Gesicht schlug. „Du hast mir die Nase gebrochen.“

„Du kannst von Glück reden, dass ich dir nicht den Hals gebrochen habe.“ Malachi packte ihn am Schlafittchen und zog ihn zu sich. „Wenn du ihr noch einmal zu nahe kommst, werde ich dafür sorgen, dass du dir wünschst, tot zu sein.“

Die Drohung hätte lachhaft sein sollen, Worte, die aus einem John-Wayne-Film entlehnt zu sein schienen, aber irgendetwas an Cartwrights Miene musste Josh überzeugt haben, dass er nicht spaßte, denn seine Augen weiteten sich, und sein Gesicht wurde kalkweiß.

Angewidert stieß Cartwright ihn von sich, und Josh krümmte sich mit flatternden Lidern auf dem Boden zusammen. „Verständige den Sheriff“, forderte Cartwright mich auf.

„Sollte ich nicht einen Krankenwagen rufen?“

„Es gibt nichts, was man wegen einer gebrochenen Nase unternehmen könnte.“

„Ich glaube, er ist bewusstlos.“

„Ja, das ist er.“ Cartwright stieß Josh mit seiner Stiefelspitze an. „Dagegen kann man auch nichts unternehmen.“

Ich hob mein Handy auf, warf einen Blick auf das Display und fluchte. „Zerbrochen.“ Stellte man heutzutage noch irgendwas von Bestand her? „Ich muss reingehen.“

Cartwright nickte, bevor er sich bückte, um Joshs Pistole an sich zu nehmen.

„Er hätte dich erschießen können.“

Der Mond spiegelte sich in Cartwrights dunklen Augen, sodass sie im Zentrum silbern schimmerten. „Nicht, solange sie gesichert war.“

Er hielt sie von sich weg und schob mit dem Daumen den Hahn vor und wieder zurück.

„Er hätte sie entsichern und dich schneller erschießen können, als du ihn kampfunfähig machen konntest.“

„Möglich.“

„Entweder bist du sehr mutig oder sehr dumm.“

Seine Miene wurde hart. „Männer schlagen keine Frauen. Und die, die es doch tun, sind keine Männer; es sind Tiere.“ Cartwright wandte sein Gesicht dem Mond zu. „Der hier hätte eine weitaus schlimmere Strafe verdient, als er bekam.“

Malachi hatte recht. Aber wenn ich zuließe, dass er Josh bestrafte, würde er derjenige sein, der ins Gefängnis wanderte. Die Polizei war in dieser Hinsicht eigen.

„Kann ich mich waschen?“ Cartwright zeigte mir seine Hände, die von Joshs Blut beschmutzt waren.

„Natürlich.“ Ich schaute zu dem anderen Mann, aber der rührte sich noch immer nicht.

„Er wird noch eine Weile k.o. sein“, versicherte Cartwright. „Und es ist ja nicht so, als wüsstest du nicht, wo du ihn finden kannst, sollte er sich zur Flucht entschließen.“

Das stimmte. Also gingen wir beide ins Haus.

Grace nahm beim sechsten Klingeln ab; sie klang hellwach. „Ich bin in fünf Minuten da.“

Cartwright drehte sich von der Spüle weg und trocknete seine Hände an einem Geschirrtuch ab. „Es tut mir leid, dass ich nicht früher gekommen bin. Ich wurde aufgehalten.“

Mir fiel wieder ein, was zuvor an diesem Abend passiert war – und was nicht, weil man ihn weggerufen hatte.

„Ist bei euch im Camp alles in Ordnung?“

Er nickte, dann glitt sein Blick zu der offenen Schiebetür. „Verflucht!“

Josh war verschwunden.