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Der Arzt wirkte so versonnen, als hoffte er, mit einer Antwort auf diese ausgezeichnete Frage aufwarten zu können, wenn er nur lange genug darüber nachdachte. Dann schüttelte er den Kopf.
„Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden“, brummte er. „Ich sollte mich an die Arbeit machen.“
Da seine Arbeit mit Messern, Sägen sowie der Entfernung verschiedener Körperteile und -flüssigkeiten in Zusammenhang stand, steuerte ich eilends die Tür an. Grace folgte mir zögerlich. „Sind Sie sicher, dass er von einem Hund getötet wurde, nicht von einem Bären oder einer Großkatze?“
„Ich habe ein paar Seminare über tödliche Tierattacken belegt.“
„Das scheint mir eine recht ungewöhnliche Fortbildung für einen Hausarzt zu sein“, bemerkte Grace.
„Früher dachte ich einmal daran, in den Westen zu ziehen und eine Stelle im Yellowstone-Park anzunehmen, aber meine Frau wollte Georgia nicht verlassen. Jetzt ist sie tot, und ich bin zu alt.“
„Was bringt Sie zu der Überzeugung, dass das hier die Tat eines Hundes war?“, bohrte Grace weiter.
„Katzen benutzen ihre Krallen, um ein Opfer festzuhalten. Denken Sie an eine Hauskatze und eine Maus.“
„Sie spielen mit ihnen“, meldete ich mich von meinem Standort neben der Tür zu Wort. Oprah tat das ständig. Es trieb mich in den Wahnsinn.
„Ganz richtig“, stimmte Doc Bill zu. „Was bedeutet, dass das Opfer nicht nur diese zerrissene Kehle, sondern auch Kratzer aufweisen würde, und zwar ernsthafte, wenn man von einem Berglöwen oder dergleichen ausginge.“
Plötzlich verstand ich, worauf Grace mit ihrem Frage-und-Antwort-Spiel hinauswollte. Malachis Puma oder selbst sein Grizzlybär hätten dafür eingesetzt werden können, Josh zu töten; anschließend konnte Malachi den Leichnam in die Schlucht geworfen haben.
„Und Bären?“, insistierte Grace.
„Würden ihre Beute durch einen Prankenhieb töten.“
„Ich begreife jetzt, warum Sie einen Bären oder eine Wildkatze als Täter ausschließen, aber woraus folgern Sie, dass es zwingend ein Hund sein muss?“
„Der Modus Operandi von Hunden ist, ihre Opfer zu Boden zu bringen und ihnen die Kehle herauszureißen.“
Entzückend.
„Ich bin sicher, dass meine Untersuchungsergebnisse meine Theorie vollkommen stützen werden. Gab es in der Region irgendeinen Hinweis auf Tollwut?“
Grace sah rasch zu mir, dann wieder zu dem Arzt. „Wie kommen Sie darauf?“
„Man weiß von Großkatzen, dass sie bisweilen Menschen anfallen. Erinnern Sie sich an den Fall in Kalifornien, wo ein Berglöwe eine Frau von ihrem Fahrrad riss?“ Wir nickten. „Und vor nicht allzu langer Zeit kam im Yellowstone-Park eine Mutter zu Tode, als sie ihr Kind vor einem Bären schützen wollte. Diese Tiere waren nicht krank. Wir wissen nicht, was sie dazu animiert hat. Aber Hunde attackieren in der Regel keine Menschen, es sei denn, sie sind tollwütig.“
„Haben Sie einen Verdacht, mit welcher Art von Hund wir es zu tun haben könnten?“, fragte Grace.
Doc Bill nagte an seiner Unterlippe und starrte auf den Leichnam. „Ich wäre geneigt, auf einen Wolf zu tippen, nur dass es in diesen Bergen schon vor meiner Geburt keine Wölfe mehr gab.“
„Das könnte sich geändert haben“, gab Grace zu bedenken. „Wir haben einen Touristen, der von einem Tier angefallen wurde, von dem er schwört, dass es ein Wolf war.“
„Tatsächlich?“ Obwohl Doc Bill seine entspannte Körperhaltung beibehielt, hatte ich den Eindruck, als wäre er mit einem Mal höchst interessiert. „Ich würde mir diesen Mann gern einmal anschauen.“
Grace wand sich unbehaglich, was dem Doktor nicht entging. „Er ist tot?“
„Nicht wirklich.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Er … äh … stand auf und stahl sich mitten in der Nacht aus dem Krankenhaus. Niemand hat ihn seither gesehen.“
Ich erwartete, dass der Arzt schockiert reagieren würde, stattdessen kaute er weiter auf seiner Lippe herum und betrachtete den toten Josh.
„Was ist mit seinen Wunden?“
„Sir?“
„Waren sie verheilt?“
Grace und ich tauschten erneut einen Blick.
„Auf dem Überwachungsvideo hatte es den Anschein“, gab sie zu. „Aber die sind ja bekanntlich ziemlich unscharf.“
„Hmmm.“
„Sie scheinen mehr darüber zu wissen …“ Grace breitete die Hände aus. „Womit auch immer wir es zu tun haben.“
„Ich habe dergleichen nicht mehr gesehen, seit ich in Deutschland war.“
„Wann waren Sie in Deutschland?“, erkundigte ich mich.
„1944/45.“
„Sie waren im Krieg?“ So alt sah er nicht aus.
„Ich hatte ein falsches Alter angegeben. Der dümmste Fehler, den ich je gemacht habe.“
„Was ist passiert?“
„Wir haben gesiegt“, meinte er trocken.
Grace lächelte; sie wusste gut platzierten Sarkasmus immer zu schätzen. „Ich meinte, was haben Sie dort gesehen, das Sie daran erinnert?“ Sie deutete vage in Joshs Richtung.
„Das ist so lange her, dass ich inzwischen fast glauben könnte, es mir nur eingebildet zu haben.“
Er rieb sich die Nasenwurzel, als hätte er plötzlich starke Kopfschmerzen. Ich nahm nicht an, dass uns gefallen würde, was er zu sagen hatte, andererseits hatte mir von dem, was mir in letzter Zeit zu Ohren gekommen war, nur wenig gefallen.
Doc Bill ließ die Hand sinken. „Ich war Fallschirmjäger.“
„So wie in Band of Brothers?“
„Ja, so ähnlich. Sie haben uns hinter den feindlichen Linien in Frankreich abgesetzt, während die anderen vom Atlantik kamen. Ich hätte nicht mit ihnen tauschen mögen, und das, obwohl es auch nicht gerade meiner Vorstellung von Spaß entsprach, inmitten von Bomben und Geschützfeuer durch die Luft zu trudeln.“
„Darauf würde ich wetten.“
„Nach unserer Landung sollten wir zu unserer Einheit aufschließen, um gen Osten zu marschieren und dabei so viele Städte wie möglich zu befreien. Ich werde nicht ins Detail gehen, wie lange es dauerte oder wie viele wir in der Luft und am Boden verloren, aber irgendwann passierten wir endlich die Grenze nach Deutschland.“
„Und dann?“ fragte Grace.
„Dann geschahen seltsame Dinge. Überall waren Wölfe. Hunderte von ihnen.“
„Was ist daran so seltsam?“, fragte ich. „Liegt denn nicht der Schwarzwald – die Wiege der Grimm’schen Märchen und das Zuhause etlicher Wölfe – in Deutschland?“
„Das Problem ist, dass wir nicht im Schwarzwald und diese Wölfe nicht wirklich Wölfe waren.“
„Wie können Wölfe nicht wirklich Wölfe sein?“
„Diese waren klüger als ihre durchschnittlichen Artgenossen. Sie trieben uns zusammen, spionierten uns aus und verfolgten uns über viele, viele Kilometer. Sie schienen genau zu wissen, was wir planten, so als hätten sie unsere Gespräche belauscht und verstanden. Und wenn sie einen von uns töteten … manche von denen blieben nicht tot.“
Ich guckte zu Josh und schnell wieder weg. „Sie wissen, wie verrückt das klingt?“
„Was glauben Sie, warum ich nie zuvor jemandem davon erzählt habe?“
„Wenn Sie sagen, dass sie nicht tot blieben …“
„Sie wurden attackiert, ihnen wurden die Kehlen zerfetzt, dann verheilten ihre Wunden, und sie spazierten einfach davon.“
Das klang entsetzlich vertraut.
„Sie haben sie nie wiedergesehen?“
Er schaute stumm auf seine Füße.
„Doc?“, sagte Grace.
„Doch, ich habe sie wiedergesehen.“ Er hob den Kopf. „Als Wölfe.“
Wie ich jetzt feststellte, hatte ich mich von der Tür entfernt und Grace und Doc Bill wieder angenähert. Es fiel mir schwer, gleichmäßig zu atmen.
„Doc“, presste ich hervor. „Was wollen Sie damit andeuten?“
„Ich denke, er will andeuten, dass seine Kumpel von Wölfen gebissen wurden, ihre Wunden anschließend einfach so verheilten und sie selbst zu Wölfen wurden.“ Grace sprach so langsam, als würde sie mich über meine Rechte belehren. „Stimmt das so?“
„Ja, das stimmt so.“ Der Doktor holte ein glänzendes Skalpell aus seiner Tasche und stach Josh damit in die Brust.
Mir entrang sich ein leises Kreischen, und ich torkelte nach hinten. Mit der Hand auf ihrer Pistole, jedoch ohne sie zu ziehen, machte Grace einen Schritt nach vorn. Sie legte die andere auf Doc Bills Schulter. „Was zum Teufel tun sie da?“
„Ich trage dieses Skalpell nun schon seit sechzig Jahren mit mir herum“, erklärte er. „Es besteht aus purem Silber.“
„Das tötet sie?“
„Ja.“
„Von welchen sie redest du?“, ächzte ich.
„Was mordet auf vier Beinen, bevor es die Leichen auf zweien entsorgt?“, fragte der Arzt.
„Ein Mann und sein Hund?“
„Claire“, ermahnte Grace mich. „Du weißt, was er meint.“
Tat ich das? Vielleicht. Aber ich würde es nicht zugeben.
Der Doktor hingegen hatte damit kein Problem. „Man sagt, Hitler habe nach einer Werwolf-Armee verlangt“, fuhr er fort. „Und Mengele gab sie ihm.“
„Mengele“, echote ich. „Ist das nicht der Kerl …“
„Man nannte ihn den Todesengel. Er führte an den Insassen der Konzentrationslager Experimente durch.“
Wir hatten schon zuvor von diesen Lagern gehört. Von Malachi.
Grace’ Miene nach zu schließen, erinnerte sie sich auch daran.
Ich konnte nicht anders; mir entschlüpfte ein winziges Lachen. „Das ist doch absurd.“
Ich wartete auf Grace’ Zustimmung. Stattdessen wechselten sie und der Doktor einen Blick, der mich zum Außenseiter machte.
„Ist es nicht?“, fragte ich dümmlich.
Als Doc Bill sein reinsilbernes Skalpell aus dem Leichnam zog, nahm Grace die Hand von ihrer Waffe.
„In jeder Kultur existiert eine Gestaltwandler-Legende“, erläuterte sie.
„Legenden sind Fantasieprodukte.“
„Nicht immer. Manchmal stellen sie die einzige Möglichkeit dar, die Wahrheit zu überliefern.“
„Das glaubst du wirklich?“
„Ich habe viele groteske Möglichkeiten in Betracht gezogen, seit unser Tourist aus dem Krankenhausfenster gesprungen und spurlos verschwunden ist.“
Das hatte mich auch beschäftigt, nur hatte ich keine Verbindung zu einem Werwolf hergestellt.
„Dann gibt es da noch dieses kleine Detail des am Tatort gefundenen Hakenkreuzes“, erinnerte sie mich.
Das hatte ich ganz vergessen. Nach Doc Bills Enthüllungen gefiel mir der Fund dieser Rune noch weniger als zuvor.
„Sie haben eine Swastika entdeckt?“
„Eine Rune.“ Auf seine verwirrte Miene hin, ergänzte ich: „Ein Talisman. Isländischen Ursprungs, genau wie die Swastika an sich. Bevor die Nazis Anspruch darauf erhoben, symbolisierte das Zeichen Schutz und Wiedergeburt.“
„Auch nachdem sie Anspruch darauf erhoben hatten, könnte es noch in diesem Sinn verwendet worden sein“, überlegte Grace. Ich sah sie forschend an, und sie setzte hinzu: „Wenn Hitler eine Werwolf-Armee verlangt hat und Mengele ihm eine gab, könnte das Hakenkreuz damit in Zusammenhang stehen.“
„Ich kann dir nicht folgen.“
„Heute benutzt man Talismane als Glücksbringer, doch früher schrieb man ihnen magische Kräfte zu.“
„Ich verstehe noch immer nicht.“
„So, wie Hitler tickte, hatte er nicht die Absicht, es bei nur einer Armee zu belassen.“
„Haargenau“, stimmte der Doktor zu. „Sobald Mengele die Formel, oder was auch immer, entwickelt hatte, hätten sie die gesamte Nazi-Armee, und auch jede andere Armee, die sie besiegten, in etwas verwandeln können, das sehr schwer zu vernichten gewesen wäre.“
Trotz der Tatsache, dass Hitler und sein Kumpel Mengele schon seit sehr langer Zeit tot waren, überlief mich ein Frösteln.
„Also wählten sie das Symbol des Hakenkreuzes vielleicht nicht nur aus, weil sie glaubten, dass es sich gut auf ihrer Flagge machte“, folgerte Grace. „Es könnte doch sein, dass es etwas mit der Verwandlung von Menschen in Tiere zu tun hatte. Wiedergeburt – und Schutz vor allen Feinden.“ Sie schaute mich an und zuckte die Achseln. „Möglich wäre es.“
Ich rieb mir die Augen. „Ihr beide macht mir echt Kopfschmerzen.“
„Ich weiß selbst ein bisschen über Magie und Gestaltwandler Bescheid“, fuhr sie ungerührt fort.
Ich ließ meine Hand sinken und starrte sie an. Natürlich war ihre Urgroßmutter eine Medizinfrau gewesen, aber ich hatte angenommen, dass sie meist über Kräuter und Wurzeln gesprochen hatten. Was hin und wieder bestimmt auch der Fall gewesen war.
„In jeder Kultur gibt es eine Gestaltwandler-Legende“, wiederholte sie. „Die meisten indianischen Stämme glauben, dass sie von einem Tier abstammen.“
„Glaube und Wirklichkeit sind zwei Paar Schuhe.“
„Ich sage ja nur, dass die Gestaltwandler-Legenden nicht neu sind. Sie existierten schon, lange bevor die Nazis an die Macht gelangten, also könnten sie einfach eine davon übernommen haben.“
„Soll das heißen, dass wir es hier deiner Meinung nach mit einem Nazi-Werwolf zu tun haben?“ Wäre das nicht mal eine interessante Abwechslung?
„Ich habe keine Ahnung.“ Grace lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Doktor. „Woran erkennt man einen Werwolf?“
„Wenn man eine Silberkugel auf ihn abfeuert, explodiert er, ganz gleich in welcher Gestalt.“
„Gibt es noch eine etwas weniger gewaltsame Methode?“, stöhnte ich.
„Ein Werwolf behält auch in Wolfsgestalt seine menschlichen Augen.“
Mir fiel etwas ein, und ich zuckte zusammen. „Ich habe so etwas schon mal gesehen.“
„Was?“ Grace starrte mich an. „Wo?“
„In … äh … einer Kristallkugel.“
„Du hast einen Wolf mit menschlichen Augen in einer Kristallkugel gesehen?“
„Ich ließ mir die Zukunft voraussagen. Im Inneren der Kugel tauchte plötzlich ein Wolf auf, um den ein Haufen Schatten und Nebelfetzen herumgeflattert sind. Dann warnte mich Edana, die Wahrsagerin: ‚Nimm dich in Acht vor dem Teufel, der ein Gestaltwandler ist.’”
„Immer ein guter Rat“, murmelte Grace. „Stimmten die Augen dieses Wolfs mit denen unseres vermissten Touristen oder sonst einer Person, die du kennst, überein?“
„Sie waren zu klein.“ Ich gab mit den Händen die Größe der Kristallkugel wieder. „Ich konnte das Weiße erkennen, aber keine Farbe. Nicht wirklich.“
„Sie haben einen Werwolf gesehen“, stellte Doc Bill fest. „Normale Wölfe haben kein Weiß um ihre Iriden.“
Wir verstummten für einige Zeit und ließen uns das alles durch den Kopf gehen.
„Lasst uns zusammenfassen“, brach Grace schließlich das Schweigen. „Die Rune wurde an derselben Stelle gefunden, an der ein Tourist angefallen worden war. Ihm wurde eine wundersame Heilung zuteil, anschließend tauchte er in den Bergen unter. Möglicherweise wurde er als Werwolf wiedergeboren, und jetzt müssen wir ihn unschädlich machen. Mit Silber.“
Wie zur Hölle sollte ich den Leuten von Lake Bluff Silberkugeln und explodierende Wölfe erklären?
„Besteht keine Möglichkeit, ihn zu kurieren?“, erkundigte ich mich.
„Nicht, dass ich wüsste.“ Die Miene des Arztes war ernst. „Ich glaube nicht, dass Sie das Gesamtbild vor Augen haben.“
„Das glaube ich schon“, widersprach Grace. „Unser verschwundener Urlauber ist ein Werwolf.“
„Ja, das wäre möglich.“ Der Doktor presste die Lippen zusammen, als wollte er uns nicht noch mehr schlechte Neuigkeiten beibringen, aber warum gerade jetzt damit aufhören? „Vermutlich ist er das tatsächlich. Aber es gibt noch eine Frage, die Sie bisher nicht gestellt haben.“
Grace zog die Brauen hoch. „Die da wäre?“
„Wer hat ihn gebissen?“