2
Die Finger fest um den Knauf ihrer Pistole geschlossen, wollte Grace einen weiteren Schritt nach vorn machen. Ich ließ den Arm zur Seite schnellen und blockte sie ab. Sie knurrte zornig.
„Hör auf damit!“, verlangte ich. „Ich kümmere mich darum.“
Mein Vater hatte immer gesagt, dass man mit Honig mehr Fliegen fängt als mit Essig, und ich hatte die Erfahrung gemacht, dass das stimmte. Natürlich hatte Grace’ Vater die Meinung vertreten, dass Macht ausnahmslos vor Recht geht, und sichergestellt, dass das auch zutraf. Grace kam mehr nach ihrem Vater als ich nach meinem.
Sie ignorierte meine Worte, drängte sich an mir vorbei und stellte sich, ihre Hand weiterhin auf der Waffe verharrend, vor mich. „Sie können hier nicht einfach kampieren. Wir veranstalten in wenigen Tagen ein Festival.“
„Und genau aus diesem Grund sind wir hier, Süße.“
Cartwright streckte den Arm aus, und in seiner Handfläche wurde ein Packen Papier sichtbar. Ich wusste, dass das Bündel nicht einfach so dort aufgetaucht war, aber wer auch immer ihm die Dinge anreichte, tat das verdammt schnell.
Mit einer schwungvollen Geste präsentierte er uns die Dokumente. „Wir wurden engagiert, um Ihnen Vergnügen zu bereiten.“
Die Art, wie er „Vergnügen“ sagte, ließ brennende Hitze in meinem Bauch aufsteigen. Ich hatte keinen Zweifel, dass seine Vorstellung von Vergnügen und meine weit auseinanderklafften – andererseits konnten sie sich, wenn man die Richtung bedachte, die meine Gedanken einschlugen, auch vollständig decken.
Grace warf mir einen missmutigen Blick zu.
„Das war ich nicht.“ Ich hob abwehrend die Hände.
Sie riss Cartwright die Papiere aus der Hand, überflog die erste Seite und schaute wieder zu mir.
„Joyce“, sagten wir wie aus einem Mund. Grace reichte mir den Vertrag.
Tatsächlich hatte meine Assistentin die Karawane angeheuert, damit sie während der Woche des Vollmondfestivals für Unterhaltung sorgte.
Die Planung hatte lange vor meiner Rückkehr begonnen, und da diejenigen, die dafür zuständig waren, das schon seit Jahren machten, hatte ich sie gewähren lassen. Wahrscheinlich hätte ich ihnen mehr auf die Finger gucken sollen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Bewohner von Lake Bluff sonderlich erfreut reagieren würden, wenn sie feststellten, dass Wanderzigeuner am See kampierten. Dem Blick nach zu urteilen, mit dem Grace die Leute fixierte, fand auch sie die Idee nicht gerade knuffig.
Leider hatten sie schon einen erheblichen Betrag aus unserer Geldschatulle kassiert, und selbst wenn wir die finanziellen Möglichkeiten gehabt hätten, wäre es jetzt zu spät gewesen, noch jemand anders zu engagieren. Das Festival war unser Goldesel. Ohne ihn würde Lake Bluff nicht überleben.
„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Cartwright.
Ich schaute auf und verlor mich wieder in seinen tiefdunklen Augen. Nicht nur ihre seltsame Farbe irritierte mich, sondern auch ihr intensiver Blick. Was war an mir, das ihn so sehr faszinierte?
Vielleicht lag es daran, dass ich ein ungewohnter Anblick war. Zwar war ich nicht die einzige blauäugige Rothaarige in Lake Bluff, aber ich war die einzige hier, und niemand in der näheren Umgebung trug wie ich ein Kostüm und hochhackige Schuhe. Clever von ihnen. Ich schwitzte mich in meiner Dior-Jacke zu Tode, meine Kenneth-Cole-Pumps waren staubbedeckt und die Absätze gruben sich mit jedem Schritt in den Kies, sodass das Leder hinterher bestimmt unrettbar zerschrammt sein würde.
„Es scheint alles seine Richtigkeit zu haben“, stellte ich fest und gab ihm den Vertrag zurück.
Seine Finger strichen über meine, als er ihn entgegennahm. Ich zuckte zurück und hätte die Papiere durch meinen hastigen Rückzug fast entzweigerissen.
Die Zigeuner murmelten etwas. Cartwrights Lächeln erstarb. Grace warf mir einen gereizten Blick zu.
Meine Reaktion war rüde gewesen, so als wollte ich nicht, dass er mich berührte. Was der Wahrheit entsprach. Nicht wegen dem, wer er war, sondern wegen dem, was er war.
Ein Mann. Und die machten mir Angst.
„Ich schätze, Sie können bleiben“, kapitulierte Grace. „Aber Sie müssen Ihre Leute unter Kontrolle halten.“
Cartwrights Augen wurden schmal. „Was wollen Sie damit andeuten, Sheriff?“
„Ich will damit Folgendes andeuten: Jeder hier in Lake Bluff besitzt eine Schusswaffe, und niemand scheut sich, sie auch zu benutzen. Im Dunkeln herumzuschleichen, wo man nichts zu suchen hat, kommt einer Einladung, erschossen zu werden, gleich.“
„Dann verdächtigen Sie uns also, dass wir stehlen, vielleicht sogar ein paar von euren Sprösslingen kidnappen könnten?“
Cartwright musterte Grace von Kopf bis Fuß. Sein Urteil fiel nicht schmeichelhaft aus – was Grace vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben widerfuhr.
„Sie sollten nicht alles glauben, was Sie hören. Es sind ebenso wenig alle Zigeuner Diebe und Kindesräuber, wie alle Indianer faule Trunkenbolde sind.“
Grace’ Wangen wurden rot. „Sie haben recht. Ich entschuldige mich.“
Meine Augen weiteten sich. Noch ein erstes Mal.
„Trotzdem bleibt es bei der Warnung. Andere in Lake Bluff könnten nicht so einsichtig sein wie ich.“
Cartwrights Mundwinkel zuckten. „Natürlich nicht.“
Er sagte etwas zu seinen Leuten in ihrer Sprache, woraufhin sie mit den Füßen scharrten, vor sich hin brummelten und uns böse anstarrten.
„Was haben Sie zu ihnen gesagt?“, wollte ich wissen.
„Dass sie nach Einbruch der Dunkelheit im Camp bleiben sollen.“
„Spricht außer Ihnen noch jemand Englisch?“
„Ein paar. Aber wir bevorzugen Romani, die Sprache der Roma. Der Zigeuner“, erklärte er. „Wir wollen unsere Tradition bewahren.“
„Verständlich“, kommentierte Grace.
Während unserer Kindheit hatte sie viel Zeit damit verbracht, mit ihrer Urgroßmutter, einer Medizinfrau der Cherokee, die alten Bräuche zu studieren, denn auch sie hatte die Meinung vertreten, dass das uralte Wissen nicht verloren gehen durfte.
Ich fragte mich, wie viel Grace, jetzt, da sie im öffentlichen Dienst stand, von ihrem familiären Hintergrund preisgab. Der Sheriff von Lake Bluff wurde gewählt, und auch wenn die Bewohner daran gewöhnt waren, Nachkommen der amerikanischen Ureinwohner in ihrer Stadt zu sehen, hieß das noch lange nicht, dass sie ihren Polizeichef im Mondschein einen Regentanz aufführen sehen wollten. Falls die Cherokee überhaupt einen Regentanz gekannt hatten.
Ich wandte mich an Cartwright. „Welche Art von Unterhaltung bieten Sie eigentlich?“
Nach allem, was ich wusste, konnten sie hier sein, um unbekleidet Regentänze aufzuführen, was auf keinen Fall die Art von Unterhaltung war, die wir auf unserem Familienfestival haben wollten.
„Menschenopfer und solches Zeug.“
Ich riss fassungslos den Mund auf; Grace ebenso. Ein paar der Zigeuner begannen zu lachen.
„Entschuldigung.“ Cartwright spreizte die Hände. „Ich konnte einfach nicht widerstehen.“
Als weder Grace noch ich lächelten, sagte er ein paar kurze Worte auf Romani, woraufhin sich die Menge ziemlich rasch zerstreute. Sobald wir allein waren, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf uns.
„Wir geben dieselbe Vorstellung wie schon unsere Vorfahren. Wie Sie sehen können …“ – Cartwright machte eine ausholende Armbewegung, um auf die Planwagen, die Tiere, die bunt gekleideten Menschen hinzuweisen –, „… bemühen wir uns, den Flair der Alten Welt in die Neue zu transportieren. Die Roma sind schon seit langer Zeit auf Wanderschaft.“
„Wie kommt das?“, fragte Grace.
„Weil wir so leichter Verhaftungen wegen unserer Diebstähle und Entführungen entgehen können.“
Ich fing an, seinen Humor zu verstehen, und lachte; Grace tat das nicht.
„Jetzt mal im Ernst“, insistierte sie. „Was hat es nun mit Ihrer explosiven Vergangenheitsshow auf sich?“
„Die Leute lieben sie.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir sind anders und deshalb oft über Wochen ausgebucht.“
„Wenn Sie sagen ‚anders‘ …“
„Wir haben Wahrsager, Tierakrobatik, Tand zu bieten.“
„Echt sensationell“, spottete Grace. „Hab ich alles schon hundertmal gesehen.“
„Nicht in dieser Form.“ Er sagte das zu mir, so als ob ich diejenige wäre, die ihn unter Beschuss nahm. „Wenn Sie zu einem anderen Zeitpunkt noch mal wiederkommen möchten, Bürgermeisterin Kennedy, zeige ich Ihnen gern, was uns so besonders macht.“