20
Cartwright war schon durch die Tür und die Hintertreppe hinuntergestürmt, als ich ihn einholte. „Warte!“
„Er wird entkommen.“
„Ich weiß ja, wo er wohnt, wo er arbeitet und seine Freizeit verbringt. Er wird nicht entkommen.“
Cartwright blieb stehen, die langen Finger, auf deren Nägeln die weißen Monde einen starken Kontrast zu der dunkleren Tönung seiner Haut bildeten, um den Handlauf geschlossen. „Ich würde mich besser fühlen, wenn ich ihn jetzt fände.“
Ich starrte zu den prähistorischen Bäumen und erinnerte mich daran, was dort draußen herumschlich. „Da läuft ein, äh, vermutlich tollwütiger Wolf frei herum.“
Cartwright drehte sich zu mir um. „Ich dachte, es gäbe in diesen Wäldern keine Wölfe.“
„Irgendjemand hat vergessen, das dem Wolf zu sagen.“
Um seine Mundwinkel zuckte es. „Hat jemand das Tier gesehen?“
„Ja, ich.“
„Du?“ Seine heitere Miene wurde düster. „Wann?“
„Vor ein paar Stunden. Ich hätte ihn fast auf der Straße, die zu eurem Camp führt, überfahren.“
„Bestimmt lag er dort wegen unserer Tiere auf der Lauer.“
„Oder wegen deiner Leute. Ihr müsst vorsichtig sein. Grace wird morgen mit ein paar Jägern eine Suchaktion starten.“
„Tatsächlich?“ Jetzt klang er wieder amüsiert.
„Sie ist die beste Fährtenleserin in der ganzen Gegend.“
„Sie wollen ihn am helllichten Tag jagen?“
„Es ist ein bisschen schwierig, in der Nacht zu jagen. Meines Wissens auch illegal, obwohl ich bezweifle, dass Grace sich davon abhalten lassen würde.“
„Solange sie sich nicht nach Sonnenuntergang in der Nähe des Sees rumtreiben, gebe ich meine Erlaubnis.“
Seine Erlaubnis? Ich wollte ihn schon fragen, wovon zur Hölle er sprach, als mir der eigenartige Vertrag zwischen den Zigeunern und Lake Bluff wieder einfiel.
„Warum müssen sie sich nach Sonnenuntergang von euch fernhalten? Habt ihr ein paar Vampire bei eurer Truppe?“
„Ich habe schon seit Jahren keinen Vampir mehr gesehen“, meinte er schwermütig, dann lachte er über meinen Gesichtsausdruck. „Wir geben abends Vorstellungen. Ich denke nicht, dass es klug wäre, unterdessen bewaffnete Jäger am See herumstrolchen zu lassen.“
Das machte Sinn. Oder zumindest mehr Sinn als die Beherbergung von Vampiren. „Grace wird den Wolf morgen aufspüren. Davon bin ich überzeugt.“
Cartwright brummte, offenbar war er sich da nicht so sicher.
„Vielleicht solltest du hier warten“, schlug ich vor. „Grace wird mit dir sprechen wollen.“
„Bestimmt wird sie das.“ Er straffte die Schultern, als wappnete er sich für ein Wortgefecht. „Aber sie weiß, wo ich wohne, arbeite und meine Freizeit verbringe. Sie kann mich finden.“
„Sie wird darüber nicht glücklich sein.“
„Und im Moment bin ich nicht glücklich.“ Plötzlich berührte er meine Wange. Seltsamerweise zuckte ich weder zusammen, noch überkam mich das spontane Bedürfnis auszuweichen; stattdessen kuschelte ich mich, seine Wärme, seinen Trost suchend, an ihn. „Ich schwöre, dass dir niemand wehtun wird, solange ich hier bin“, versprach er.
Bevor ich darauf antworten konnte, verschwand er in der Nacht.
Ich schaute ihm nach und überlegte, wohin er wohl ging, ob er wirklich glaubte, Josh finden zu können, der bestimmt mit seinem BMW hergekommen war und gerade mit Vollgas nach Atlanta zurückdüste. So wie ich ihn kannte, würde er dafür sorgen, dass morgen die Polizei mit einem Haftbefehl gegen Malachi Cartwright hier auftauchte.
„Verdammt“, murmelte ich. Wenn sie den Anführer der Zigeuner festnahmen, würden seine Akrobaten dann trotzdem weiter auftreten? Falls nicht, wäre unser Festival im Eimer.
Ich konnte kaum glauben, dass ich mir zu einem Zeitpunkt wie diesem darüber Sorgen machte, aber irgendjemand musste es schließlich tun. Und vermutlich gehörte es zu meinem Job.
Ein Heulen ertönte aus dem Wald und stieg zum hellen Silbermond empor. Ich stand auf der Terrasse und wartete auf ein zweites, aber es erfolgte keins.
Wenige Minuten später läutete es an meiner Haustür; ich ging nach drinnen und verriegelte die Glasschiebtür hinter mir.
Grace stand in Uniform auf meiner Türschwelle, allerdings war ihre Bluse falsch geknöpft, und ihre Schnürsenkel waren nicht gebunden. Auch hatte sie ihre Haare nicht zu einem Zopf geflochten, sodass sie ihr offen bis zur Taille fielen, wodurch sie jünger aussah als sonst. Vielleicht hatte sie schon geschlafen.
„Ich kann es nicht erwarten, den Kerl zu verhaften“, verkündete sie. „Wo ist er?“
„Weg.“
„Verarsch mich nicht, Claire; es ist spät.“
„Ich wünschte, ich würde dich verarschen. Wir hielten ihn für bewusstlos, kehrten ihm den Rücken zu – und Abrakadabra war er weg. Malachi hat sich auf die Suche nach ihm gemacht.“
Ihre Augenbrauen zuckten nach oben. „Malachi, hm?“
Ups!
„Es käme mir dumm vor, wenn nicht sogar undankbar, ihn nach allem, was er für mich getan hat, beim Nachnamen zu nennen.“
„Na schön.“ Grace griff nach ihrem Schultermikrofon. „Ich werde Logan zur Fahndung ausschreiben lassen.“
„Nein. Tu das nicht.“
„Claire.“ In ihrer Stimme lag ein warnender Unterton. „Du wirst diesen Wichser strafrechtlich verfolgen lassen. Nach dieser Sache heute kriegen wir ihn definitiv wegen tätlichen Übergriffs dran.“
„Das werde ich. Versprochen. Aber könnten wir das mit der Fahndung bleiben lassen? Ich glaube wirklich nicht, dass Lake Bluff oder, was das betrifft, ich die Aufmerksamkeit brauchen, die das mit sich bringen würde. Können wir es wenigstens so lange unter Verschluss halten, bis das Festival vorbei ist?“
Grace sah mir forschend ins Gesicht. „Meinetwegen. Ich werde morgen früh das Atlanta Police Department informieren. Sie können ihn verhaften, ohne Aufsehen zu erregen.“
„Danke. Ist für morgen alles organisiert?“ Grace guckte mich verständnislos an. „Die Jagd nach dem Wolf?“, half ich ihr auf die Sprünge.
„Ja, natürlich. Ich habe allen Bescheid gesagt, nachdem du weg warst.“ Sie schaute auf die Uhr und zog eine Grimasse. „Wir treffen uns um vier am Lunar Lake.“
„Kurz bevor du aufgetaucht bist, habe ich ein Geheul gehört.“
Sie hob den Kopf. „Wo?“
Ich zeigte in Richtung Berge.
„Bist du sicher?“
„Nein.“
Anstatt erwartungsgemäß verärgert zu reagieren, nickte Grace. „Man kann nicht orten, woher so ein Heulen kommt, es sei denn, man wäre selbst ein Wolf. Und zwei Tiere können nach einem ganzen Dutzend klingen.“
„Aber eines klingt auch nur wie eines, richtig?“
„Richtig.“
„Und eines ist das, was ich gehört habe.“
„Das ist gut. Wir brauchen kein ganzes Wolfsrudel dort draußen. Ich müsste die Naturschutzbehörde informieren.“ Sie blickte missmutig drein. „Das würde ich, wenn möglich, gern vermeiden.“
Niemand machte sich viel aus der Jagd- und Fischereipolizei – alias DNR oder Naturschutzbehörde –, die Jäger am allerwenigsten. Wahrscheinlich, weil das Erlegen von Tieren aus einer Zeit stammte, als Jagd und Fischerei noch das Überleben der Menschen sicherten, und die von einem nostalgischen Pioniergeist beseelten Jäger von heute verstimmt reagierten, wenn man versuchte, ihnen Vorschriften zu machen.
„Wird Cartwright zurückkommen?“, fragte Grace. „Du solltest ihn lieber in die Sache einweihen und ihn warnen, dass wir morgen in dem Areal suchen werden.“
„Das habe ich schon.“
„Und?“
„Er sagte, solange ihr bei Sonnenuntergang verschwunden seid, gibt er euch seine Erlaubnis.“
„Ich denke nicht, dass ich seine Erlaubnis brauche.“
„Der Vertrag“, erinnerte ich sie.
„Zwingende Umstände hebeln einen solchen Vertrag aus. Es treibt sich ein möglicherweise tollwütiger Wolf in den Wäldern herum. Cartwright wird sich damit abfinden müssen.“
„Bist du sicher? Vielleicht sollte ich Catfish einen Blick auf den Wisch werfen lassen.“
Catfish Waller war der letzte verbliebene Anwalt in Lake Bluff. Es gab nicht viel Bedarf an juristischem Rat in einer Kleinstadt, die vom Tourismus lebte. Natürlich kamen gelegentlich Körperverletzungsdelikte oder Nachbarschaftsstreitigkeiten vor, aber die großen Fälle gab es in der großen Stadt, und genau dorthin waren all unsere Anwälte umgesiedelt – mit Ausnahme von Catfish.
Mit über siebzig verbrachte er seine Freizeit, und damit den Großteil seiner Zeit, Zigarre rauchend auf seiner Veranda. Er hatte nie geheiratet – wahrscheinlich, weil niemand den Zigarrenqualm ertrug.
„Es besteht kein Anlass, Catfish zu bemühen“, widersprach Grace. „Ich weiß, was ich tue.“
Sie eilte zur Haustür, dann blieb sie mit der Hand an der Klinke stehen und sah mich an. „Wirst du klarkommen?“
„Natürlich.“
Sie neigte den Kopf zur Seite, und ihr blauschwarzes Haar fiel über ihre Hüfte. „Sei ehrlich. Möchtest du, dass ich bleibe? Wir könnten Popcorn machen. Und Filme gucken.“
Ich lächelte. „Danke. Du musst morgen fit sein. Zumindest so fit, wie es bei dem wenigen Schlaf, den du wegen mir bekommst, möglich ist.“
Grace zuckte die Achseln. „Ich bin schon mit weniger ausgekommen. Falls du Angst kriegst, bin ich sofort da.“
Und sie würde Wort halten; das wusste ich und hatte es immer gewusst. Auch wenn sie verletzt gewesen war, als ich fortging, und zornig, als ich wiederkam, würde sie für mich da sein, wenn ich sie brauchte. Komme, was wolle.
„Grace“, begann ich. „Ich hätte damals in Kontakt bleiben sollen.“
„Ja, das hättest du.“
„Es tut mir leid. Es war nur so … ich wollte ein neues Leben beginnen.“
„Und ich war Teil des alten. Wir hatten dieses Gespräch schon. Ich hab es kapiert.“
Ich legte die Hand auf ihren Arm. „Ich habe einen Fehler gemacht. Du warst die beste Freundin, die ich je hatte. Die beste Freundin, die ich je haben werde.“
„Ja, das bin ich.“
Ich lachte. „Also sind wir wieder beste Freundinnen?“
„Nein.“ Grace öffnete die Tür und trat ins Freie, während mir das Herz in die Hose rutschte. „Wir waren immer beste Freundinnen, Claire. Das hat sich nie geändert.“
Ich beobachtete, wie sie den Streifenwagen startete, die Einfahrt hinabrollte und auf die Straße einbog, dann ging ich zu Bett.
Ich glaubte nicht, dass ich Schlaf finden würde. Schließlich war mein schlimmster Albtraum ganz real an meiner Tür erschienen. Aber es war gut ausgegangen. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, meinem inneren Dämon entgegengetreten zu sein und überlebt zu haben.
Natürlich war ich vor Angst wie gelähmt gewesen, doch mit ein wenig Hilfe von Malachi war es mir gelungen, mich nicht in eine Ecke zu verkriechen und sinnloses Zeug zu brabbeln. Ich hatte den ersten Schritt unternommen, Joshs Tage in Freiheit zu beenden. Ich würde dafür sorgen, dass er keine andere Frau verletzen konnte, und ich würde verhindern, dass er in meinem Heimatstaat ein Amt bekleidete, das mit Vertrauen und Macht einherging. Alles in allem war es ein lohnender Abend gewesen.
Ich schlief noch im selben Moment ein, als mein Kopf das Kissen berührte – zumindest dachte ich das. Denn das, was passierte, nachdem der Nebel ein weiteres Mal durch mein Fenster gekrochen war, fühlte sich mehr als real an.
Ich lag auf dem Bett, als die Dunstschwaden über den Sims quollen, über den Boden, dann über mich. Ihre kühle, sanfte Berührung auf meinem nackten Körper brachte mich dazu, mich um mehr flehend hin und her zu winden. Gleich einem Voyeur schwebte ich über mir selbst, trotzdem fühlte ich jedes Streicheln.
Meine Brustwarzen wurden steinhart; meine Brüste schwollen an; meine Beine öffneten sich, damit der Nebel über die feuchten roten Locken streichen konnte. Ich spürte das Lecken einer Zunge und bäumte mich auf, nach einer Erlösung hungernd, die so nahe war, dass ich sie in fast greifbarer Reichweite pulsieren hörte.
Der Nebel zog sich zurück, als würde er von einem Wirbelsturm aus dem Fenster gesaugt.
„Nein“, rief ich, und der Klang meiner eigenen Stimme weckte mich auf.
Ich hatte die Decken weggestrampelt, aber ich war nicht nackt wie in meinem Traum. Trotzdem stand ich an der Schwelle zu einem Höhepunkt; meine Haut kribbelte, meine Brust hob und senkte sich atemlos, und meine Gedanken wirbelten so wild umher, wie es der Nebel getan hatte.
Etwas bewegte sich am Fußende meines Betts. Ein Paar gelber Augen schien wenige Zentimeter über der Matratze zu schweben, und ich keuchte vor Schreck. Oprah sprang vom Bett und stolzierte angewidert davon.
Ich machte ihr keinen Vorwurf. Diese erotischen Fantasien wurden allmählich so schlimm wie die Albträume.
Der Wind blies durchs Fenster und ließ die Vorhänge flattern. Einen Moment mal …
Das Fenster hatte in meinem Traum offen gestanden, aber ich dachte, dass es geschlossen gewesen wäre, als ich ins Bett gegangen war.
Langsam drehte ich den Kopf in die Richtung.