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Wir sind in Gängen unterwegs, in denen ich noch nie gewesen bin.
Zuerst kommen wir durch die mir vertrauten Korridore, vorbei an den Schlafquartieren und meinem Trainingsraum, und zum ersten Mal, seit ich hier bin, achte ich wirklich auf meine Umgebung. Meine Wahrnehmung ist plötzlich schärfer, klarer, und ich fühle mich wie mit neuer Energie geladen.
Ich stehe unter Strom.
Diese unterirdische Welt in der Erde besteht aus höhlenartigen Räumen und zahllosen miteinander verbundenen Gängen. Vorräte und Strom werden von geheimen Lagern des Reestablishment abgezweigt. Castle hat uns einmal erklärt, dass er gute 10 Jahre damit zugebracht hat, dieses einzigartige Versteck zu planen, und eine weitere Dekade, um die Pläne in die Tat umzusetzen und seine Mitarbeiter zu rekrutieren. Ich kann verstehen, warum er in puncto Sicherheit so penibel ist. Hätte ich so ein Werk geschaffen, würde ich es auch nicht gefährdet sehen wollen.
Kenji bleibt stehen.
Wir scheinen eine Art Sackgasse erreicht zu haben – vielleicht das Ende von Omega Point.
Kenji bringt einen Kartenschlüssel zum Vorschein und öffnet eine in der Wand verborgene Klappe. Scheint etwas einzugeben, zieht dann die Karte durch. Legt einen Schalter um.
Die Wand erwacht zum Leben.
Öffnet sich, bis ein Spalt entstanden ist. Kenji klettert hindurch, ich folge ihm. Drehe mich auf der anderen Seite noch einmal um, schaue zu, wie sich die Wand hinter mir schließt.
Ich stehe in einer riesigen Höhle, unterteilt in 3 Bereiche. Ein schmaler Gang verläuft zwischen quadratischen, verglasten Räumen mit schmalen Glastüren. Nichts ist dem Blick verborgen. Alle Räume sind hell erleuchtet, überall blinken Maschinen, und der gesamte Bereich scheint zu vibrieren vor Energie.
Ich zähle an die zwanzig dieser gläsernen Kabinen, zehn auf jeder Seite. Erkenne Leute, die ich aus dem Speisesaal kenne. Einige sind auf Maschinen geschnallt, Nadeln stecken in ihren Körpern, piepende Geräte vermitteln irgendwelche Informationen. Türen gleiten auf, schließen sich, öffnen sich wieder. Worte, Raunen, Schritte, Gesten; Gedanken scheinen durch die Luft zu schwirren.
Dies.
Dies ist der Ort, an dem sich alles abspielt.
Vor zwei Wochen – am Tag nach meiner Ankunft – sagte mir Castle, er habe inzwischen eine recht genaue Vorstellung davon, warum wir so sind, wie wir sind. Sagte, die jahrelange Forschung zahle sich inzwischen aus.
Forschung.
Ich sehe keuchende Menschen auf extrem schnellen Laufbändern. Eine Frau mit einem Gewehr in einem Raum voller Waffen. Ein Mann hält einen Gegenstand in der Hand, aus dem eine leuchtend blaue Flamme auflodert. Jemand steht in einem Raum voller Wasser, und überall an der Decke sind Seile gespannt, und in Regalen stehen Chemikalien und Gerätschaften, die ich nicht kenne, und mein Hirn schreit auf und meine Lunge fängt Feuer und das ist alles zu viel zu viel zu viel
Zu viele Maschinen, zu viele grelle Lichter, zu viele Menschen, die Notizen machen, reden, ständig auf Uhren schauen, und ich stolpere vorwärts, schaue zu genau hin und versuche doch, nichts zu sehen, und dann höre ich es. Ich sträube mich dagegen, aber trotz der dicken Glaswände ist es unüberhörbar.
Die grauenhaften dumpfen Laute menschlichen Leidens.
Es schlägt mir ins Gesicht. Schlägt mir in die Magengrube. Springt mir auf den Rücken, explodiert in meiner Haut, schlägt die Krallen in meinen Hals. Ich ersticke an Ungläubigkeit.
Adam.
Ich sehe ihn. Hier, in einem der gläsernen Räume. Mit nacktem Oberkörper. Auf eine Liege geschnallt, Arme und Beine fixiert, Sonden an den Schläfen, der Stirn, oberhalb der Brust, über Kabel mit einer Maschine verbunden. Er kneift die Augen zusammen, ballt die Fäuste, sein Gesicht ist angespannt, weil er nicht schreien will.
Ich verstehe nicht, was sie mit ihm machen.
Ich weiß nicht, was passiert, ich weiß nicht, warum es passiert, weshalb er an einer Maschine hängt, die blinkt und piept, und ich kann nicht mehr atmen und mich nicht mehr regen, und ich versuche mich zu erinnern an meine Stimme, meine Hände, meinen Kopf, meine Füße, und dann
zuckt er.
Sein Körper bäumt sich auf, wehrt sich gegen den Schmerz, bis seine Fäuste auf die Liege schlagen, und er schreit angstvoll auf, und einen Moment lang bleibt die Welt stehen, alles wird langsam, Laute klingen gedämpft, Farben sind verwischt, und der Boden kippt seitwärts, und ich denke, oh, nun sterbe ich wohl. Ich falle tot um oder
ich töte die Person, die hierfür verantwortlich ist.
Das eine oder das andere.
Dann entdecke ich Castle. Castle steht in der Ecke von Adams Raum und sieht tatenlos zu, wie dieser 18-jährige Junge sich in Qualen windet. Castle schaut einfach nur zu, macht Notizen in seinem kleinen Buch, legt den Kopf schief, schürzt die Lippen. Beobachtet den Monitor an der piependen Maschine.
Der Gedanke ist so naheliegend, als er in meinem Kopf auftaucht. Ganz ruhig. Ganz einfach.
Absolut mühelos.
Ich werde Castle umbringen.
»Juliette – nein –«
Kenji umschlingt meine Taille, seine Arme fühlen sich wie Eisenklammern an, und ich glaube, ich schreie, ich glaube, ich benutze Worte, die ich noch nie zuvor in den Mund genommen habe, und Kenji befiehlt mir, mich zu beruhigen, er sagt: »Genau aus diesem Grund wollte ich dich nicht hierherbringen – du verstehst das nicht – es ist nicht so, wie es aussieht –«
Und ich beschließe, dass ich wohl auch Kenji umbringen sollte. Weil er ein Idiot ist.
»LASS MICH LOS –«
»Hör auf, mich zu treten –«
»Ich bring ihn um –«
»Sag das nicht, du kriegst ernsthaft Probleme –«
»LASS MICH LOS, KENJI, ICH SCHWÖRE DIR –«
»Ms Ferrars!«
Castle steht jetzt am Ende des Gangs, vor Adams Raum. Die Tür steht offen. Adam zuckt nicht mehr, aber er scheint ohnmächtig zu sein.
Weißglühende Wut.
Nur das kenne ich noch. Nur das kann ich noch fühlen, und nichts, nichts wird mich von diesem Gefühl abbringen. Die Welt erscheint mir in Schwarzweiß, und sie ist so leicht zu erobern und zu zerstören. Noch nie zuvor habe ich diese Wut empfunden. Sie ist so roh und machtvoll, dass sie schon wieder beruhigend ist, ein Gefühl, das endlich seinen Ort gefunden hat, das sich endlich bequem niederlassen kann in meinen Knochen.
Ich bin eine Gussform für flüssiges Metall; versengende Hitze durchströmt meinen Körper, und diese Energie umgibt meine Hände, stählt meine Fäuste mit solcher Kraft, dass sie mich zu verzehren scheint. Mir wird schwindlig von diesem inneren Ansturm.
Ich wäre zu allem imstande.
Zu allem.
Kenjis Arme geben mich frei. Ich muss nicht hinschauen, um zu wissen, dass er rückwärts taumelt. Angstvoll. Verwirrt. Verstört.
Es ist mir egal.
»Hier waren Sie also«, sage ich laut zu Castle und wundere mich über den klaren kalten Klang meiner Stimme. »Das tun Sie also.«
Castle kommt näher und scheint es auf dem Weg bereits zu bereuen. Er sieht besorgt und verblüfft aus über etwas, was er in meinem Gesicht sieht. Als er sprechen will, falle ich ihm ins Wort.
»Was machen Sie hier mit ihm?«, frage ich barsch. »Was haben Sie mit ihm gemacht, die ganze Zeit schon –«
»Ms Ferrars, bitte –«
»Er ist nicht Ihr Experiment!«, brülle ich. Die Ruhe ist verschwunden, meine Stimme kippt, und ich bin plötzlich wieder so zittrig, dass ich die Hände kaum ruhig halten kann. »Wenn Sie meinen, Sie könnten ihn zu Forschungszwecken benutzen –«
»Bitte, Ms Ferrars, Sie müssen sich unbedingt beruhigen –«
»Hören Sie auf!« Ich möchte mir nicht vorstellen, wie man Adam hier als Versuchstier behandelt, was man ihm angetan hat.
Die foltern ihn.
»Ich hätte von Ihnen nicht so eine extreme Reaktion auf diese Räume erwartet«, sagt Castle jetzt in beiläufigem Tonfall. Er versucht gelassen zu wirken, beruhigend, zugleich überzeugend. Ich frage mich, was ich wohl gerade bei ihm hervorrufe. Ob er Angst vor mir hat. »Ich hatte gedacht, dass Sie die Wichtigkeit unserer Forschungen in Omega Point verstanden haben«, fährt er fort. »Wie sollen wir ohne Tests die Beschaffenheit unserer Kräfte verstehen lernen?«
»Sie tun ihm weh – Sie töten ihn! Was haben Sie mit ihm getan –«
»Nichts, an dem er nicht freiwillig teilgenommen hätte.« Castles Stimme klingt gepresst, seine Lippen werden schmal, und ich merke, dass er mit seiner Geduld am Ende ist. »Ms Ferrars, wenn Sie mir unterstellen wollen, dass ich Mr Kent für private Experimente missbrauche, würde ich vorschlagen, dass Sie sich zunächst einmal genauer mit der Sachlage befassen.« Die letzten Worte spricht er mit ungewohntem Nachdruck aus, und mir wird klar, dass ich Castle noch nie zuvor zornig erlebt habe.
»Ich weiß, dass Sie es hier nicht leicht haben«, spricht Castle weiter. »Ich weiß, dass es ungewohnt für Sie ist, sich als Teil einer Gruppe zu begreifen, und ich habe mich bemüht, Ihre Herkunft in Betracht zu ziehen – ich habe versucht, Ihnen bei der Eingewöhnung hier behilflich zu sein. Aber schauen Sie sich doch um!« Er weist auf die Menschen in den Glasräumen. »Wir sind alle gleich. Wir arbeiten alle zusammen! Ich habe Mr Kent nichts zugemutet, was ich nicht auch selbst durchlaufen hätte. Wir machen lediglich Tests, um herauszufinden, wie seine übernatürlichen Kräfte beschaffen sind. Solange wir ihn nicht getestet haben, können wir nicht genau bestimmen, wozu er fähig ist.« Seine Stimme wird tiefer. »Und wir können es uns nicht leisten, mehrere Jahre zu warten, bis er durch Zufall etwas herausfindet, das für unsere Sache jetzt, in diesem Augenblick nützlich sein könnte.«
Es ist so seltsam.
Diese Wut ist ein lebendiges Wesen.
Ich spüre, wie sie sich um meine Finger schlingt, als könne ich sie Castle ins Gesicht schleudern. Ich spüre, wie sie sich um mein Rückgrat windet, sich in meinem Magen verankert, in meine Beine, Arme, meinen Hals wächst. Sie erwürgt mich. Sie erwürgt mich, weil sie freigelassen werden muss. Nach außen dringen muss. Jetzt sofort.
»Sie«, ich spucke das Wort förmlich aus, »glauben Sie vielleicht, Sie seien besser als das Reestablishment, wenn Sie uns benutzen – mit uns experimentieren, damit wir Ihrer Sache dienen –«
»MS FERRARS!«, brüllt Castle. Seine Augen lodern, zu hell, und alle starren uns an. Castle hat die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, und ich spüre Kenjis Hand auf meinem Rücken, und dann merke ich, dass der Boden unter meinen Füßen zu beben beginnt. Die Glaswände erzittern, und inmitten von alldem steht Castle, starr vor Wut und Empörung, und mir fällt wieder ein, dass er enorm starke telekinetische Fähigkeiten hat.
Dass er nur mit seinem Geist Dinge bewegen kann.
Er hebt die rechte Hand, und die Glaswand neben mir beginnt zu zittern, droht zu zerspringen, und mir stockt der Atem.
»Sie wollen mich nicht gegen sich aufbringen.« Castles Stimme ist viel zu ruhig für den Ausdruck in seinen Augen. »Wenn Sie ein Problem mit meinen Methoden haben, können Sie mir Ihre Einwände gerne in sachlicherer Form vortragen. Aber ich werde nicht dulden, dass Sie in diesem Ton mit mir sprechen. Mein Engagement für die Zukunft unserer Welt mag Ihre Vorstellungskraft übersteigen, aber Sie sollten mir keinesfalls aus schierer Ahnungslosigkeit solche Vorhaltungen machen!« Er lässt die Hand sinken, und die Glaswand kommt gerade noch rechtzeitig zur Ruhe.
»Schiere Ahnungslosigkeit?« Ich atme jetzt wieder, zu schnell. »Sie meinen, weil ich nicht begreifen kann, warum Sie Menschen – diesem – diesem hier aussetzen –«, ich weise auf die Räume um uns herum, »sei ich ahnungslos?«
»Hey, Juliette, er meint –«, beginnt Kenji.
»Schaffen Sie sie hier weg«, sagt Castle. »Bringen Sie sie in ihren Trainingsraum.« Er wirft Kenji einen unfrohen Blick zu. »Wir beide – müssen das später besprechen. Was haben Sie sich dabei gedacht, sie hierherzubringen? Sie kann das noch nicht verkraften – sie kommt doch noch nicht mal mit sich selbst zurecht –«
Er hat Recht.
Ich kann das nicht verkraften. Ich höre nur noch das Piepen, das Kreischen der Maschinen in meinem Kopf. Sehe nur noch Adams reglosen Körper auf der Liege. Kann nur noch daran denken, was er durchlitten hat, was er aushalten musste, damit man versteht, wie er beschaffen ist. Und mir wird bewusst, dass einzig und allein ich daran Schuld habe.
Es ist meine Schuld, dass Adam hier ist. Dass er in Gefahr ist, dass Warner ihn umbringen und Castle ihn testen will, und wenn ich nicht wäre, dann würde Adam noch mit James in ihrem Unterschlupf wohnen und wäre beschützt und unversehrt und unberührt von dem Chaos, das ich in sein Leben gebracht habe.
Wegen mir ist er in Omega Point. Hätte er mich nie berührt, wäre es zu alldem nie gekommen. Er wäre gesund und kräftig und müsste nicht leiden, müsste sich nicht verstecken, wäre nicht in einer unterirdischen Welt eingesperrt. Würde seine Tage nicht festgeschnallt auf einer Liege zubringen müssen.
Es ist alles meine Schuld es ist alles meine Schuld es ist alles meine Schuld es ist alles meine Schuld es ist alles meine Schuld
Etwas in mir zerspringt.
Es ist, als sei ich vollgestopft mit trockenen Zweigen, und sowie ich meine Muskeln anspanne, zerbricht mein Körper. Und sofort findet all die Schuld, Wut, Frustration, Aggression in mir unaufhaltsam ihren Weg nach draußen. Eine fremde Kraft durchströmt mich, und ich denke nicht mehr, ich muss etwas tun, ich muss etwas berühren, und ich beuge die Finger und die Knie und ziehe den Arm zurück und
ramme
die
Faust
tief
in
den
Boden.
Die Erde bricht auf, und die Wucht erschüttert meinen Körper, vibriert in meinen Knochen, bis mein Kopf sich dreht und mein Herz ein Pendel ist, das gegen meine Rippen schlägt. Alles vor meinen Augen verschwimmt, und ich muss 100mal blinzeln, bis ich den Spalt vor meinen Füßen sehe, einen schmalen Riss im Boden. Plötzlich gerät alles aus dem Gleichgewicht. Der Erdboden ächzt unter unserem Gewicht, und die Glaswände erbeben, und die Maschinen schlingern, und das Wasser in den Behältern schlägt Wellen, und die Menschen –
Die Menschen.
Die Menschen sind vor Schreck und Grauen erstarrt, und die Angst auf ihren Gesichtern zerschmettert mich.
Ich taumle rückwärts, presse die Faust an die Brust, sage mir, dass ich kein Monster bin, dass ich kein Monster sein muss, dass ich niemanden verletzen will niemanden verletzen will niemanden verletzen will
aber es nützt nichts.
Denn es ist eine Lüge.
Denn das ist geschehen, als ich helfen wollte.
Ich blicke um mich.
Auf den Boden.
Auf die Folgen meiner Tat
Und zum ersten Mal begreife ich, dass ich die Kraft habe, alles zu zerstören.