5

Kenji wartet an einem freien Tisch auf uns.

Zu Anfang hat James die Mahlzeiten immer mit uns eingenommen, aber inzwischen hat er sich mit den wenigen Kindern in Omega Point angefreundet und sitzt beim Essen lieber bei ihnen. Von uns dreien scheint er sich hier am wohlsten zu fühlen – und ich bin froh darüber, muss aber zugeben, dass er mir fehlt. Doch ich wage nicht, das auszusprechen; bin nicht sicher, ob ich wissen möchte, warum James nie mit Adam zusammen ist, sobald ich in der Nähe bin. Vielleicht haben die anderen Kinder ihm eingeredet, ich sei zu gefährlich. Ich meine, ich bin gefährlich, aber ich

Adam lässt sich auf der Bank nieder, und ich setze mich neben ihn. Kenji sitzt uns gegenüber. Adam und ich halten uns unter dem Tisch an der Hand, und ich genieße es, ihm nah zu sein. Ich habe meine Handschuhe noch an, aber auch diese Nähe genügt mir schon; in meinem Bauch erblühen Blumen, und die zarten Blütenblätter streicheln meine Nerven. Es ist unfassbar, wie Adam auf mich wirkt; welche Gefühle er erzeugt, welche Gedanken er auslöst. Als hätte man mir 3 Wünsche gewährt: Berühren, Schmecken, Fühlen. So wundersam. Ein verrücktes Glück, in Seidenpapier verpackt, mit Geschenkband geschmückt, in meinem Herzen versteckt.

Oft erscheint mir das wie ein Privileg, das ich gar nicht verdient habe.

Adam rutscht näher, so dass jetzt sein Bein meines berührt.

Ich schaue ihn an und sehe ein kleines, heimliches Lächeln, das so viel sagt; so vieles, das eher nicht an einen Frühstückstisch gehört. Ich versuche mir das Grinsen zu verkneifen und regelmäßig zu atmen. Konzentriere mich auf mein Essen. Hoffe, dass ich nicht rot werde.

Adam beugt sich zu mir, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. Ich spüre seinen Atem auf der Haut.

»Ihr seid unerträglich, wisst ihr das?«

Ich blicke erschrocken auf. Kenji starrt uns an. Deutet mit dem Löffel auf uns. »Was zum Teufel soll das? Füßelt ihr da unter dem Tisch oder was?«

Adam rückt ein bisschen von mir ab, aber nur ein paar Zentimeter, und seufzt gereizt. »Wenn’s dir nicht passt, kannst du dich gerne woanders hinsetzen.« Er weist mit dem Kopf auf die anderen Tische. »Keiner hat dich gezwungen, dich hier niederzulassen.«

Das ist Adams Art, nett zu Kenji zu sein. Bei der Armee waren die beiden Freunde. Aber Kenji scheint es immer wieder Spaß zu machen, Adam zu provozieren.

Ich frage mich, wie die beiden es schaffen, zusammen in einem Zimmer zu wohnen.

»Das ist Blödsinn, und das weißt du auch ganz genau«, versetzt Kenji. »Ich hab dir doch heute früh gesagt, dass ich mit euch zusammen frühstücken muss. Castle möchte, dass ich euch beim Eingewöhnen unterstütze.« Er schnaubt. Nickt mir zu. »Ich habe ja keine Ahnung, was du an dem Typen findest«, sagt er zu mir, »aber du solltest mal mit ihm zusammenleben. Der Mann ist höllisch launisch.«

»Ich bin überhaupt nicht launisch –«

»Schon gut, mein Freund.« Kenji legt den Löffel ab. »Und wie launisch du bist. Ständig hör ich ›Halt die Klappe, Kenji.‹ ›Schlaf endlich, Kenji.‹ ›Niemand will dich nackt sehen, Kenji.‹ Dabei weiß ich mit absoluter Sicherheit, dass es Tausende von Leuten gibt, die mich liebend gern nackt sehen würden –«

»Wie lange musst du hier sitzen?« Adam wendet den Blick ab, streicht sich mit der freien Hand über die Augen.

Kenji richtet sich auf. Greift wieder nach seinem Löffel und zeigt damit auf Adam. »Du solltest dich glücklich schätzen, dass ich mit dir zusammensitze. Meine Anwesenheit lässt dich gleich unendlich viel cooler wirken.«

Ich spüre, wie Adam erstarrt, und mische mich ein. »Hey, können wir jetzt mal das Thema wechseln?«

Kenji grunzt. Verdreht die Augen. Schaufelt sich etwas in den Mund.

Ich mache mir Sorgen.

Jetzt, da ich Adam so nahe bin, fallen mir die Müdigkeit in seinen Augen, die gerunzelte Stirn, die verspannten Schultern besonders deutlich auf. Und ich frage mich unwillkürlich, was er hier in dieser Unterwelt durchmacht. Was er mir verheimlicht. Ich drücke seine Hand, und er wendet sich mir zu.

»Bist du auch sicher, dass es dir gut geht?«, flüstere ich. Und es kommt mir vor, als frage ich ihn immer wieder dasselbe.

Seine Miene wird sofort weicher. Er sieht erschöpft, aber auch ein wenig belustigt aus. Seine Hand unter dem Tisch streicht über meinen Oberschenkel, und mir verschlägt es die Sprache. Er küsst mich leicht auf den Kopf, seine Lippen verharren einen Moment dort, und ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Erst danach merke ich, dass er meine Frage nicht beantwortet hat. Er wendet sich ab, starrt auf sein Essen. Nickt schließlich und sagt: »Ja, es geht mir gut.« Doch ich habe noch immer Mühe zu atmen, und seine Hand zeichnet Muster auf mein Bein.

»Ms Ferrars? Mr Kent?«

Als ich Castles Stimme höre, richte ich mich so ruckartig auf, dass ich mir die Hand am Tisch stoße. In Castles Nähe fühle ich mich immer ein bisschen wie ein Schulkind, das sich schlecht benimmt. Adam dagegen wirkt völlig ungerührt. Ich unterdrücke einen Schmerzenslaut und spüre, wie Adam wieder meine Hand ergreift. Er führt sie zu den Lippen und küsst jeden Knöchel einzeln, ohne dabei aufzublicken. Kenji verschluckt sich.

Ich schaue auf.

Castle ist am Tisch stehengeblieben, und Kenji erhebt sich, um sein Geschirr wegzubringen. Er klopft Castle freundschaftlich auf den Rücken, und der lächelt ihn herzlich an.

»Ich komm gleich wieder«, ruft Kenji über die Schulter und hält noch betont schwungvoll den Daumen hoch. »Und lasst die Kleider an, ja? Es sind Kinder anwesend.«

Ich zucke zusammen und schaue Adam an, doch der studiert nur eingehend sein Essen und schweigt.

Ich beschließe, für uns beide zu antworten. Setze ein munteres Lächeln auf. »Guten Morgen.«

Castle nickt, berührt das Revers seines Sakkos. Er wirkt ruhig und kraftvoll. Lächelt mich an. »Ich wollte nur mal kurz Hallo sagen. Freut mich, dass Sie Ihren Freundeskreis erweitern, Ms Ferrars.«

»Oh. Danke. Aber die Idee ist nicht von mir«, sage ich. »Sie haben mir aufgetragen, mit Kenji zusammenzusitzen.«

Castles Lächeln wirkt jetzt etwas angestrengter. »Ja. Gut. Freut mich, dass Sie meinen Rat beherzigen.«

Ich nicke, blicke wieder auf meinen Teller. Adam scheint nicht mal mehr zu atmen. Ich will wieder etwas sagen, als Castle mir zuvorkommt. »Hat Ms Ferrars Ihnen mitgeteilt, dass sie ab jetzt mit Kenji trainieren wird, Mr Kent? Ich hoffe, dass sie dabei schneller Fortschritte machen wird.«

Adam bleibt stumm.

Castle fährt unbeirrt fort. »Ich dachte mir, dass es auch für Sie interessant sein könnte, mit ihr zu arbeiten. Unter meiner Supervision allerdings.«

Adam fährt hoch. »Was meinen Sie damit?«

»Nun –« Castle zögert. Blickt zwischen uns hin und her. »Ich denke, es wäre interessant, Tests mit Ihnen beiden zu machen. Zusammen.«

Adam steht so abrupt vom Tisch auf, dass er sich beinahe stößt. »Unter keinen Umständen.«

»Mr Kent –«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage –«

»Das hat Ms Ferrars zu entscheiden –«

»Ich werde hier nicht darüber sprechen –«

Ich springe auch auf. Adam sieht aus, als wolle er etwas kurz und klein schlagen. Er hat die Fäuste geballt und die Augen verengt; seine Stirn ist angespannt, sein gesamter Körper angriffsbereit.

»Worum geht es überhaupt?«, frage ich.

Castle schüttelt den Kopf. Er spricht nicht mit mir, als er sagt: »Ich möchte nur feststellen, was passiert, wenn Ms Ferrars Sie berührt. Mehr nicht.«

»Sind Sie wahnsinnig –«

»Es geht doch um sie«, erwidert Castle betont ruhig. »Mit Ihren Ergebnissen hat das nichts zu tun –«

»Welche Ergebnisse?«, falle ich ihm ins Wort.

»Ich möchte ihr nur helfen, ihre Wirkung auf unbelebte Materie zu ergründen«, fährt Castle fort. »Bei Tieren und Menschen wissen wir jetzt Bescheid: Eine Berührung reicht aus. Pflanzen scheinen gar nicht auf sie zu reagieren. Aber alles andere? Das ist unklar. Sie weiß selbst noch nicht, wie sie damit richtig umzugehen hat, und ich will ihr dabei helfen. Nichts anderes tun wir«, betont Castle, »als Ms Ferrars zu helfen.«

Adam tritt näher zu mir. »Wozu brauchen Sie dann mich, wenn Sie Forschungen mit ihr und unbelebter Materie machen wollen?«

Einen kurzen Moment lang scheint Castle um eine Antwort verlegen zu sein. »Ich weiß es nicht genau«, sagt er dann. »Die einzigartige Qualität Ihrer Beziehung – das ist so faszinierend. Vor allem angesichts aller bisherigen Testergebnisse –«

»Wie sehen die denn aus?«, unterbreche ich ihn wieder.

»– ist es durchaus möglich«, spricht Castle weiter, »dass alles auf eine Art verknüpft ist, die wir noch nicht verstehen.«

Adam presst die Lippen zusammen. Er scheint nichts sagen zu wollen.

Castle wendet sich zu mir. »Was meinen Sie? Hätten Sie Interesse?«

»Interesse?« Ich schaue ihn an. »Ich weiß nicht mal, wovon Sie reden. Und ich möchte erst mal wissen, weshalb niemand meine Fragen beantwortet. Was haben Sie über Adam herausgefunden? Stimmt etwas nicht?« Ich blicke zwischen den beiden hin und her. Adam atmet hastig und versucht es zu verbergen; er ballt die Hände und löst sie wieder. »Bitte. Ich möchte erfahren, was hier vor sich geht.«

Castle runzelt die Stirn.

Betrachtet mich prüfend und sieht so verwirrt aus, als spräche ich ein unverständliches Idiom. »Mr Kent«, sagt er, ohne den Blick von mir zu wenden. »Muss ich das so verstehen, dass Sie Ms Ferrars noch nicht über die Entdeckung informiert haben?«

»Welche Entdeckung?« Mein Herz schlägt jetzt so schnell, dass es weh tut.

»Mr Kent –«

»Das geht Sie nichts an«, faucht Adam. Seine Stimme ist zu leise, zu ruhig, und seine Augen sind zu dunkel.

»Sie muss aber informiert werden –«

»Es ist doch noch gar nichts sicher!«

»Wir wissen genug.«

»Blödsinn. Wir haben noch nicht mal –«

»Das Einzige, was uns noch fehlt, ist der Test von Ihnen beiden zusammen –«

Adam tritt näher zu Castle, bleibt vor ihm stehen. »Vielleicht«, sagt er gefährlich ruhig, »ein andermal.«

Er wendet sich zum Gehen.

Ich berühre ihn am Arm. Er bleibt stehen. Fährt herum. Er ist dicht bei mir, und ich vergesse beinahe, dass wir unter Menschen sind. Sein Atem ist heiß und flach, und die Hitze seines Körpers bringt mein Blut zum Kochen und lässt es in meine Wangen steigen.

Schmerzen wüten in meinen Knochen.

»Alles ist in Ordnung«, sagt er, aber ich kann ihn kaum hören, weil unser beider Herzschlag in meinen Ohren dröhnt. »Alles wird gut. Ich verspreche es dir.«

»Aber –«

»Ich verspreche es dir«, wiederholt er und packt meine Hand. »Ich schwöre es dir. Ich mache das alles wieder gut –«

»Was denn?« Ich träume. Ich sterbe. »Was machst du wieder gut?« In meinem Hirn zersplittert etwas, und etwas geschieht ohne Erlaubnis, und ich bin kopflos, verworren, völlig orientierungslos, gehe unter. »Adam, ich verstehe ni–«

»Im Ernst jetzt?« Kenji tritt wieder zu uns. »Hier wollt ihr es machen? Vor allen anderen? Aber diese Tische sind nicht so bequem, wie sie aussehen –«

Adam lässt mich los und kollidiert mit Kenjis Schulter, als er hinausstürmt.

»Lass das endlich bleiben

Das ist das Letzte, was ich von ihm höre, bevor er verschwunden ist.

Rette mich vor dir
cover.html
978-3-641-09306-8.html
978-3-641-09306-8-1.html
978-3-641-09306-8-2.html
978-3-641-09306-8-3.html
978-3-641-09306-8-4.html
978-3-641-09306-8-5.html
978-3-641-09306-8-6.html
978-3-641-09306-8-7.html
978-3-641-09306-8-8.html
978-3-641-09306-8-9.html
978-3-641-09306-8-10.html
978-3-641-09306-8-11.html
978-3-641-09306-8-12.html
978-3-641-09306-8-13.html
978-3-641-09306-8-14.html
978-3-641-09306-8-15.html
978-3-641-09306-8-16.html
978-3-641-09306-8-17.html
978-3-641-09306-8-18.html
978-3-641-09306-8-19.html
978-3-641-09306-8-20.html
978-3-641-09306-8-21.html
978-3-641-09306-8-22.html
978-3-641-09306-8-23.html
978-3-641-09306-8-24.html
978-3-641-09306-8-25.html
978-3-641-09306-8-26.html
978-3-641-09306-8-27.html
978-3-641-09306-8-28.html
978-3-641-09306-8-29.html
978-3-641-09306-8-30.html
978-3-641-09306-8-31.html
978-3-641-09306-8-32.html
978-3-641-09306-8-33.html
978-3-641-09306-8-34.html
978-3-641-09306-8-35.html
978-3-641-09306-8-36.html
978-3-641-09306-8-37.html
978-3-641-09306-8-38.html
978-3-641-09306-8-39.html
978-3-641-09306-8-40.html
978-3-641-09306-8-41.html
978-3-641-09306-8-42.html
978-3-641-09306-8-43.html
978-3-641-09306-8-44.html
978-3-641-09306-8-45.html
978-3-641-09306-8-46.html
978-3-641-09306-8-47.html
978-3-641-09306-8-48.html
978-3-641-09306-8-49.html
978-3-641-09306-8-50.html
978-3-641-09306-8-51.html
978-3-641-09306-8-52.html
978-3-641-09306-8-53.html
978-3-641-09306-8-54.html
978-3-641-09306-8-55.html
978-3-641-09306-8-56.html
978-3-641-09306-8-57.html
978-3-641-09306-8-58.html
978-3-641-09306-8-59.html
978-3-641-09306-8-60.html
978-3-641-09306-8-61.html
978-3-641-09306-8-62.html
978-3-641-09306-8-63.html
978-3-641-09306-8-64.html
978-3-641-09306-8-65.html
978-3-641-09306-8-66.html
978-3-641-09306-8-67.html
978-3-641-09306-8-68.html
978-3-641-09306-8-69.html
978-3-641-09306-8-70.html
978-3-641-09306-8-71.html
978-3-641-09306-8-72.html
978-3-641-09306-8-73.html
978-3-641-09306-8-74.html
978-3-641-09306-8-75.html
978-3-641-09306-8-76.html
978-3-641-09306-8-77.html
978-3-641-09306-8-78.html