17
Kenji führt mich zu einer Tür, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Die zu einem Raum gehört, in dem ich noch nie zuvor gewesen bin.
Von drinnen höre ich Stimmen.
Kenji klopft zweimal, bevor er die Tür öffnet. Lautes Stimmengewirr schlägt uns entgegen. In dem Raum, den wir betreten, stehen viele Menschen, die ich bislang höchstens kurz aus der Ferne gesehen habe und an deren Lächeln und Lachen ich niemals teilhaben durfte. Vor einem in die Wand eingelassenen Whiteboard und einem blinkenden Monitor sind Tische und Stühle für einzelne Personen aufgestellt wie in einem Klassenzimmer. Ich entdecke Castle in der Ecke. Er betrachtet so konzentriert etwas auf einem Klemmbrett, dass er uns nicht bemerkt, bis Kenji ihm einen Gruß zuruft.
Ein freudiges Lächeln tritt auf Castles Gesicht.
Die intensive Verbindung zwischen den beiden war mir schon aufgefallen, aber nun wird mir umso deutlicher bewusst, dass Castle eine spezielle Beziehung zu Kenji hat. Dass er so stolz und liebevoll und fürsorglich mit ihm umgeht, wie es für gewöhnlich nur Eltern mit ihren Kindern tun. Ich frage mich, wie und wo die Beziehung der beiden ihren Ursprung hat und wie sie sich gefunden haben. Und merke, wie wenig ich weiß über die Bewohner von Omega Point.
Ich schaue in die erwartungsvollen Gesichter von Männern und Frauen, jungen und älteren aus aller Herren Länder. Sie gehen miteinander um, als gehörten sie einer großen Familie an, und ich spüre einen seltsamen stechenden Schmerz an den Seiten, der Löcher in mich reißt, der mich innerlich aushöhlt.
Es kommt mir vor, als betrachte ich eine weit entfernte Szene durch eine Glasscheibe. Sehne mich danach, Teil davon zu sein, und weiß doch, dass das niemals passieren wird. Manchmal vergesse ich, dass es hier Menschen gibt, die trotz ihrer Lage immer noch täglich lächeln.
Sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben.
Ich schäme mich plötzlich, bin mir selbst peinlich. In dem hellen Licht wirken meine Gedanken trist und dunkel, und ich wünsche mir, auch noch optimistisch sein und daran glauben zu können, dass ich etwas machen kann aus meinem Leben. Dass es irgendwie, irgendwo, noch eine Chance für mich gibt.
Jemand pfeift.
»Okay, Leute«, ruft Kenji, der die Hände wie einen Trichter an den Mund hält. »Setzt euch bitte alle hin. Wir führen eine Schulung für diejenigen durch, die das noch nicht absolviert haben, und ihr müsstet jetzt alle ein bisschen zur Ruhe kommen.« Er lässt den Blick durch den Raum schweifen. »Gut. Sucht euch einfach irgendwo einen Platz. Lily – du musst nicht – na gut, das geht schon. In fünf Minuten legen wir los, ja?« Er hält die rechte Hand hoch, mit gespreizten Fingern. »Fünf Minuten.«
Ich setze mich rasch auf den nächsten Stuhl, ohne mich umzusehen. Betrachte eingehend die Holzstruktur des Tischs, während die anderen sich einen Platz suchen. Irgendwann wage ich einen verstohlenen Blick nach rechts. Hellblonde Haare, schneeweiße Haut; zwei klare blaue Augen blinzeln mir zu.
Brendan. Der elektrische Junge.
Er lächelt mich an. Grüßt mich lässig mit zwei Fingern.
Ich wende rasch wieder den Blick ab.
»Ach, hallo«, höre ich jemanden sagen. »Was machst du denn hier?«
Ich schaue nach links, sehe rotblonde Haare und eine schwarze Plastikbrille auf einer leicht schiefen Nase. Winston. Er war derjenige, der mir so viele Fragen gestellt hatte, als ich in Omega Point eintraf. Hatte sich als Psychologe vorgestellt. Er hatte auch meinen Anzug entworfen. Und die Handschuhe, die ich nun ruiniert hatte.
Er ist wohl so eine Art Genie, aber ich weiß es nicht genau.
Im Moment kaut er an seinem Kuli und starrt mich an. Rückt mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht. Mir fällt wieder ein, dass er mir eine Frage gestellt hat.
»Ich weiß es selbst nicht«, antworte ich. »Kenji hat mich hergebracht, mir aber nichts erklärt.«
Das scheint Winston nicht zu überraschen. Er verdreht die Augen. »Er wieder mit seiner nervenden Geheimnistuerei. Keine Ahnung, weshalb er glaubt, es sei nötig, immer alles so spannend zu machen. Scheint sein Leben für einen Film zu halten oder so. Ewig dieses dramatische Getue. Absolut ätzend.«
Darauf weiß ich nichts zu antworten. Denke nur, dass Adam ihm wohl beipflichten würde, und dann denke ich wieder an Adam, und dann
»Ach, hör nicht auf den.« Englischer Akzent. Ich schaue wieder nach rechts. Brendan lächelt immer noch. »So früh morgens ist Winston immer unausstehlich.«
»Herr im Himmel, wie viel Uhr ist es eigentlich?«, fragt Winston. »Ich könnte einem Soldaten in die Eier treten, um an Kaffee zu kommen.«
»Selbst schuld, wenn du nie schläfst, Mann«, versetzt Brendan. »Du spinnst, wenn du meinst, du könntest mit drei Stunden Schlaf pro Nacht fit bleiben.«
Winston lässt den Kuli auf den Tisch fallen. Streicht sich müde durchs Haar. Setzt seine Brille ab und reibt sich das Gesicht. »Das liegt an den verfluchten Suchmannschaften. Jede verfluchte Nacht. Irgendwas braut sich da zusammen. Wieso sind so viele Soldaten unterwegs? Was zum Teufel treiben die da draußen? Und ich muss die ganze Zeit wach bleiben –«
»Was ist denn los?«, frage ich neugierig. Ich hatte noch nie Gelegenheit, an Informationen zu kommen. Castle hat mir immer nur gesagt, dass ich mich auf mein Training konzentrieren soll. Ansonsten bekam ich lediglich zu hören, dass die Zeit knapp sei und dass ich lernen müsse, bevor es zu spät ist. Jetzt frage ich mich, ob die Lage schlimmer ist, als ich vermutet hatte.
»Die Suchmannschaften?«, sagt Brendan und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ach so, na, wir schieben zu zweit Wache, in Schichten«, erklärt er. »Was meist kein Problem ist, Routinearbeit, nichts Dramatisches.«
»Aber in letzter Zeit verändert sich was«, wirft Winston ein. »Kommt mir vor, als würden sie jetzt tatsächlich nach uns suchen. Als wüssten sie, dass wir nicht nur eine verrückte Theorie sind. Und als wüssten sie wahrhaftig, wo sie uns finden können.« Er schüttelt den Kopf. »Aber das ist eigentlich ausgeschlossen.«
»Nee, ist es nicht«, widerspricht Brendan.
»Aber wie zum Teufel sollten sie uns entdeckt haben? Wir sind doch wie das Bermuda-Dreieck.«
»Scheinbar nicht.«
»Treibt mich jedenfalls in den Wahnsinn«, sagt Winston. »Es wimmelt von Soldaten, und sie sind viel zu nah. Wir sehen sie auf den Monitoren«, erklärt er, als er meinen fragenden Blick bemerkt. »Aber am allersonderbarsten«, fügt er leiser hinzu und beugt sich vor, »ist, dass Warner immer bei ihnen ist. Jede Nacht. Marschiert herum, gibt Befehle, die ich nicht hören kann. Und sein Arm ist immer noch verletzt. Er trägt ihn in einer Schlinge.«
»Warner?« Ich starre Winston an. »Ist bei den Soldaten? Kommt das sonst nicht vor?«
»Es ist ziemlich merkwürdig«, antwortet Brendan. »Er ist schließlich der OKR – Oberkommandeur und Regent – von Sektor 45. Normalerweise würde er diese Aufgabe an einen Oberst oder sogar nur an einen Leutnant delegieren. Er gehört eigentlich auf den Stützpunkt, zur Armee.« Brendan schüttelt den Kopf. »Ich finde das ziemlich idiotisch von ihm, so ein hohes Risiko einzugehen. Sich vom Stützpunkt zu entfernen. Wundert mich auch, dass er es sich erlauben kann, so oft weg zu sein.«
»Ganz genau«, sagt Winston und nickt. Er deutet mit dem Zeigefinger auf uns, sticht förmlich in die Luft. »Und man muss sich fragen, wer in seiner Abwesenheit das Kommando hat. Der Typ hat zu niemandem Vertrauen und delegiert normalerweise nicht. Und jetzt lässt er jede Nacht seinen Stützpunkt im Stich?« Winston schüttelt den Kopf. »Irgendwas passt da nicht. Da braut sich was zusammen.«
Ich fühle mich ängstlich und mutig zugleich, als ich frage: »Meinst du, er sucht nach jemandem etwas?«
»So ist es.« Winston atmet lautstark aus. Kratzt sich an der Nase. »Genau das glaube ich. Und ich würde verdammt gerne wissen, wonach.«
»Nach uns«, bemerkt Brendan. »Wonach denn sonst.«
Winston schaut zweifelnd. »Weiß nicht. Irgendwas ist anders. Nach uns suchen sie schon seit Jahren, aber so was ist noch nie vorgekommen. Sie haben noch nie so viele Leute für die Suche abkommandiert. Und sie waren uns noch nie so nah.«
»Wow«, flüstere ich. Meine eigenen Theorien zu äußern wage ich nicht. Ich will auch nicht zu ausführlich darüber nachdenken, nach wem wonach Warner wirklich sucht. Und ich wundere mich die ganze Zeit, dass diese beiden Männer so offen mit mir sprechen, als sei ich vertrauenswürdig, als gehöre ich zu den Eingeweihten.
Ich bleibe stumm.
»Tja«, sagt Winston und greift wieder nach seinem abgekauten Kuli. »Ziemlich irre. Jedenfalls: Wenn ich heute keinen anständigen Kaffee kriege, raste ich aus.«
Ich schaue mich um. Keine Spur von Kaffee oder Essen. »Frühstücken wir noch, bevor es losgeht?«
»Nee«, antwortet Winston. »Heute haben wir andere Essenszeiten. Aber wir haben die volle Auswahl, wenn wir zurückkommen. Das ist der einzige Lichtblick.«
»Von wo zurückkommen?«
»Draußen«, sagt Brendan und lehnt sich zurück. Deutet zur Decke. »Wir gehen raus.«
»Was?«, keuche ich aufgeregt. »Im Ernst?«
»So sieht’s aus.« Winston setzt seine Brille wieder auf. »Und du scheinst heute deine erste Einführung in unsere bevorstehenden Aufgaben zu kriegen.« Er weist mit dem Kopf nach vorne, wo Kenji eine riesige Kiste auf den Tisch hievt.
»Wie meinst du das?«, frage ich. »Was sind denn die Aufgaben?«
»Ach, das Übliche.« Winston zuckt mit den Schultern. Verschränkt die Hände hinter dem Kopf. »Schwerer Diebstahl. Bewaffneter Raubüberfall. So was in der Art.«
Ich fange an zu lachen, aber Brendan unterbricht mich. Legt mir wahrhaftig die Hand auf die Schulter, und mir wird mulmig. Ich frage mich, ob er noch recht bei Sinnen ist.
»Das ist kein Witz«, sagt Brendan. »Und ich hoffe, du kannst mit einer Schusswaffe umgehen.«