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Mit jemandem wie mir hatten sie noch nie zu tun.
Alle Verletzungen hier werden von den Heilerinnen behandelt. Sie können gebrochene Knochen und Schusswunden und kollabierte Lungen und übelste Schnittverletzungen heilen – das weiß ich, weil Adam in Omega Point auf einer Trage hereingeschleppt wurde, als wir eintrafen. Warner und seine Schergen hatten ihn übel zugerichtet, nachdem wir aus dem Stützpunkt geflüchtet waren, und ich hatte vermutet, sein Körper würde für immer schlimm vernarbt sein. Doch er sieht völlig unversehrt aus. Wie neu. Die Heilerinnen brauchten nur einen einzigen Tag, um ihn wiederherzustellen; es war wie Zauberei.
Doch für mich gibt es keine Zaubermedizin.
Keine Wunder.
Tana und Randa erklären mir, dass ich einen schweren Schock erlitten habe. Mein Körper hat sich komplett überfordert, und es ist erstaunlich, dass ich überlebt habe. Die beiden glauben auch, dass durch die lange Bewusstlosigkeit die psychischen Schäden eingedämmt wurden, doch da bin ich mir nicht so sicher. Es dauert vermutlich sehr lange, bis man so etwas verarbeitet hat. Ich war den größten Teil meines Lebens psychisch beschädigt. Aber zumindest lassen die körperlichen Schmerzen nach. Ich spüre nur noch ein stetiges Pochen, dass ich manchmal nicht mal mehr bemerke.
Da fällt mir etwas ein.
»Früher«, sage ich. »In Warners Folterkammer und dann bei der Stahltür – es ist nie – das ist nicht – ich habe mich noch nie verletzt –«
»Das hat Castle uns erzählt«, sagt Tana. »Aber es ist etwas anderes, durch eine Wand oder eine Tür zu brechen, als die Erde aufzureißen.« Sie lächelt scheu. »Wir sind ziemlich sicher, dass du diesmal viel mehr Kraft aufgewandt hast – wir haben es alle gespürt. Haben gedacht, irgendwo wäre was explodiert. Die Tunnel wären fast eingebrochen.«
»Nein.« Mein Magen fühlt sich an wie Stein.
»Ist aber nicht passiert«, beruhigt mich Randa. »Du hast rechtzeitig aufgehört.«
Mir stockt der Atem.
»Du konntest ja nicht wissen –«, beginnt Tana.
»Ich hätte beinahe jemanden getötet – hätte euch beinahe getötet –«
Tana schüttelt den Kopf. »Du verfügst über erstaunliche Kräfte. Du kannst nichts dafür. Du hast es doch nicht gewusst.«
»Ich hätte euch umbringen können … Oder Adam – ich hätte – « Ich blicke um mich. »Ist er hier? Ist Adam hier?«
Die Mädchen starren mich an. Werfen sich einen Blick zu.
Ich höre ein Räuspern und drehe hastig den Kopf in die Richtung.
Kenji tritt auf mich zu. Hebt die Hand zum Gruß, lächelt, doch das Lächeln erreicht seine Augen nicht. »Tut mir leid«, sagt er, »aber wir mussten ihn fernhalten.«
»Warum?«, frage ich. Fürchte mich vor der Antwort.
Kenji streicht sich die Haare aus den Augen. Überlegt. »Tja. Wo soll ich anfangen?« Er zählt an den Fingern ab. »Als er erfuhr, was passiert war, hat er zuerst versucht mich umzubringen, hat dann Castle attackiert, hat sich geweigert, die Krankenstation zu verlassen – nicht mal um zu essen oder zu schlafen –, und dann –«
»Bitte«, falle ich ihm ins Wort und schließe die Augen. »Lass es. Ich kann nicht.«
»Du hast gefragt.«
»Wo ist er?« Ich öffne die Augen wieder. »Geht es ihm so weit gut?«
Kenji reibt sich den Nacken. Schaut beiseite. »Er wird schon wieder.«
»Kann ich ihn sehen?«
Kenji seufzt. Fragt die Zwillinge: »Hey, können wir beide kurz unter vier Augen reden?«
»Na klar«, sagt Randa.
»Kein Problem«, sagt Tana.
»Wir lassen euch eine Weile alleine«, bekräftigen sie beide zugleich.
Und gehen raus.
Kenji nimmt sich einen der Stühle, die an der Wand stehen, und trägt ihn zu meinem Bett. Setzt sich. Legt den Knöchel des einen Beins aufs Knie des anderen und lehnt sich zurück. Verschränkt die Hände hinter dem Kopf und schaut mich an.
Ich lege mich so hin, dass ich ihn gut sehen kann. »Was ist?«
»Ihr müsst mal miteinander reden, du und Kent.«
»Oh.« Ich schlucke. »Ja. Ich weiß.«
»Ach ja?«
»Natürlich.«
»Gut.« Er nickt. Wendet den Blick ab. Tappt nervös mit dem Fuß auf den Boden.
»Was denn noch?«, frage ich. »Verschweigst du mir etwas?«
Kenji hört mit dem nervösen Tappen auf, sieht mich aber nicht an. Legt die linke Hand an den Mund. Lässt sie wieder sinken. »Das war ein irrer Scheiß, den du da abgezogen hast.«
Ich schäme mich sofort. »Es tut mir leid, Kenji. Es tut mir so leid – ich wusste nicht – ich hätte nicht gedacht –«
Er wendet sich mir zu, und sein Blick geht mir durch Mark und Bein. Er betrachtet mich forschend. Versucht mich zu ergründen. Überlegt offenbar, ob er mir vertrauen kann. Ob die Gerüchte über das Monster in mir wahr sind.
»Ich habe so was noch nie zuvor getan«, höre ich mich flüstern. »Ich schwöre dir – ich wollte das nicht –«
»Bist du ganz sicher?«
»Was?«
»Das ist eine Frage, Juliette. Eine berechtigte Frage.« Ich habe Kenji noch nie so ernsthaft erlebt. »Ich habe dich nach Omega Point gebracht, weil es Castles Wunsch war. Weil er glaubte, dass wir dir helfen, dir einen sicheren Ort anbieten könnten. Um dich wegzubringen von den Arschlöchern, die dich für ihre Zwecke missbrauchen wollten. Aber seit du hier bist, hältst du dich aus allem raus. Du redest nicht mit den Leuten. Du kommst mit deinem Training nicht voran. Eigentlich tust du gar nichts.«
»Es tut mir leid, ich will –«
»Und Castle berichtet mir, dass er sich Sorgen macht wegen dir. Er meint, du kämst nicht zurecht, hättest es schwer, dich hier einzufügen. Die Leute haben wohl negative Sachen über dich gehört und sind nicht so offen dir gegenüber, wie sie es sein sollten. Ich sollte mich selbst in den Arsch treten dafür, aber du tust mir leid. Also sag ich Castle, ich sei bereit, dir zur Seite zu stehen. Stelle meine ganzen verdammten Terminpläne um, um dir mit deinen Problemen zu helfen. Weil ich dich für ein nettes Mädchen halte, das einfach falsch verstanden wird. Weil Castle der anständigste Mensch ist, dem ich je begegnet bin, und weil ich ihm behilflich sein möchte.«
Mein Herz pocht so heftig, dass ich mich frage, warum es nicht blutet.
»Deshalb bin ich jetzt am Überlegen«, fährt Kenji fort. Setzt sich aufrecht hin. Beugt sich vor. Stützt die Ellbogen auf die Knie. »Ich überlege, ob das alles wirklich Zufall ist. Ich meine, war es einfach ein irrer Zufall, dass ausgerechnet ich mit dir arbeiten soll? Ich als einer der wenigen Leute, die Zugang zum Labor haben? War es Zufall, dass es dir gelungen ist, mich zu zwingen, dir dort Zutritt zu verschaffen? Dass du versehentlich, zufällig, aus Unwissenheit dort die Faust so hart in den Boden rammst, dass die Wände ins Wanken geraten?« Er starrt mich prüfend an. »War es Zufall, dass alles dort zusammengebrochen wäre, wenn du nicht aufgehört hättest?«
Ich reiße entsetzt die Augen auf, glotze ihn an.
Er lehnt sich zurück. Blickt zu Boden. Drückt 2 Finger an die Lippen.
»Willst du wirklich hier sein?«, fragt er. »Oder versuchst du uns von innen heraus zu zerstören?«
»Was?«, keuche ich. »Nein –«
»Denn entweder weißt du genau, was du tust – und bist also hinterhältig und verschlagen –, oder du hast wirklich keine Ahnung von deinen Kräften und hast einfach ein Scheißpech. Ich bin mir noch nicht schlüssig.«
»Kenji, ich schwöre dir, niemals würde ich – n-niemals–«
Ich muss schlucken, um die Tränen herunterzuwürgen, die mich zu überwältigen drohen. Es ist so demütigend, dieses Gefühl, nicht zu wissen, wie man die eigene Unschuld beweisen kann. Mein ganzes Leben lang musste ich Menschen davon überzeugen, dass ich nicht gefährlich bin, dass ich niemanden verletzen wollte, dass ich all das nicht wollte. Dass ich nicht böse bin.
Aber es scheint mir nie zu gelingen.
»Es tut mir leid«, schluchze ich. Jetzt strömen die Tränen heraus, scheren sich nicht um mein Bemühen, sie zurückzuhalten. Ich bin so angewidert von mir selbst. Ich habe mich so sehr bemüht, anders, besser, gut zu sein. Aber ich habe es wieder geschafft, alles kaputt zu machen, und ich habe wieder alles verloren, und jetzt weiß ich nicht mal, wie ich Kenji klarmachen kann, dass er sich irrt.
Denn vielleicht hat er Recht.
Ich weiß, dass ich wütend war. Dass ich Castle verletzen wollte. In diesem Augenblick wollte ich das tatsächlich. In diesem Zustand blinder Wut. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn Kenji mich nicht zurückgehalten hätte. Ich weiß es nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wozu ich fähig bin.
Wie oft, höre ich eine Stimme in meinem Kopf raunen, wie oft willst du dich noch dafür entschuldigen, dass du bist, wie du bist?
Ich höre Kenji seufzen. Höre, wie er sich bewegt. Ich wage es nicht aufzuschauen. Wische mir hektisch die Tränen vom Gesicht, flehe meine Augen an, mit dem Weinen aufzuhören.
»Ich musste dich fragen, Juliette.« Kenji hört sich betroffen an. »Es tut mir leid, dass du nun weinst, aber es tut mir nicht leid, dass ich dich gefragt habe. Es ist meine Aufgabe, hier unermüdlich für unsere Sicherheit zu sorgen – und das heißt, dass ich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen muss. Niemand weiß bis jetzt, wozu du fähig bist. Nicht einmal du selbst. Aber du tust so, als seien deine Fähigkeiten nichts Besonderes, und das ist nicht hilfreich. Du musst aufhören, so zu tun, als seist du nicht gefährlich.«
Ich schaue ruckartig auf. »Aber ich bin nicht – ich w-will niemanden verletzen –«
»Das spielt keine Rolle«, sagt Kenji und steht auf. »Gute Absichten sind ja schön, ändern aber nichts an den Tatsachen. Du bist gefährlich. Scheiße, und wie. Gefährlicher als ich und alle anderen hier.« Er zögert. »Wenn du hierbleiben willst, musst du lernen, deine Fähigkeiten zu beherrschen – und sie unter Verschluss zu halten. Du musst dich damit auseinandersetzen, wer du bist, und du musst Wege finden, damit zu leben. Wie wir anderen auch.«
Es klopft 3mal an der Tür.
Kenji starrt mich an. Abwartend.
»Okay«, flüstere ich.
»Und Kent und du, ihr müsst euer ganz persönliches Drama in den Griff kriegen, und zwar ab sofort«, fügt er hinzu, als Tana und Randa hereinkommen. »Ich habe weder Zeit noch Kraft und auch keinerlei Interesse, mich mit euren Problemen herumzuschlagen. Ich albere zwar manchmal mit dir herum, weil, nun ja«, er zuckt die Achseln, »die Welt da draußen vor die Hunde geht, und da ich vermutlich erschossen werde, bevor ich fünfundzwanzig bin, möchte ich zumindest vorher noch ein paar Mal was zu lachen haben. Aber deshalb bin ich noch lange nicht dein Clown oder dein Kindermädchen. Wenn es drauf ankommt, ist es mir scheißegal, ob Kent und du euer Zeug geregelt kriegt. Wir müssen uns hier unten um tausenderlei Dinge kümmern, und euer Liebesleben gehört ganz bestimmt nicht dazu.« Er hält inne. »Ist das klar?«
Ich nicke, traue meiner Stimme nicht.
»Du machst also mit?«, fragt er.
Ich nicke wieder.
»Ich will es von dir hören. Wenn du mitmachst, dann hundertprozentig. Dann ist Schluss mit dem Selbstmitleid. Dann kannst du auch nicht mehr den ganzen Tag im Trainingsraum hocken und heulen, weil du es nicht hinbekommst, ein Metallrohr in zwei Stücke zu zerlegen –«
»Woher weißt –«
»Machst du mit?«
»Ich mache mit«, sage ich ihm. »Hundertprozentig. Versprochen.«
Kenji holt tief Luft. Streicht sich durch die Haare. »Gut. Wir treffen uns morgen früh um sechs vor dem Trainingsraum.«
»Aber meine Hand –«
Er macht eine wegwerfende Geste. »Kein Ding. Das wird wieder gut. Du hast nicht mal was zertrümmert. Du hast dir die Knöchel lädiert, und dein Hirn ist ein bisschen ausgerastet, und du hast drei Tage geschlafen. So was ist für mich keine Verletzung. Sondern Urlaub.« Er überlegt. »Hast du eine Vorstellung davon, wann ich zum letzten Mal Urlaub hatte –«
»Aber wollen wir denn nicht trainieren?«, unterbreche ich ihn. »Mit einer bandagierten Hand geht das doch nicht, oder?«
»Vertrau mir.« Er legt den Kopf schief. »Das haut schon hin. Es wird … ein besonderes Training werden.«
Ich starre ihn an. Warte.
»Du darfst es als offizielles Willkommensritual in Omega Point betrachten«, sagt er.
»Aber –«
»Sechs Uhr, morgen früh.«
Ich öffne den Mund, um noch eine Frage zu stellen. Aber Kenji legt 1 Finger an die Lippen, grüßt mit 2 Fingern und geht rückwärts zur Tür, während Tana und Randa ihre Betten ansteuern.
Kenji nickt den beiden zu, macht dann kehrt und marschiert zur Tür raus.
6.00.