18
Wir sehen wie Obdachlose aus.
Das heißt wie Zivilisten.
Als wir aus dem Seminarraum in den Gang hinaustreten, tragen wir alle graue fadenscheinige oder halb zerlumpte Kleidung. Jeder legt noch letzte Hand an; Winston setzt seine Brille ab, verstaut sie in der Tasche, zieht den Reißverschluss seiner Jacke hoch bis zum Kinn. Ein Mädchen namens Lily schlingt sich einen dicken Schal um und setzt eine Kapuze auf. Und Kenji streift Handschuhe über und zupft seine Cargohose zurecht, um seine Pistole zu verbergen.
Brendan neben mir bringt ein schwarzes Beanie zum Vorschein, setzt es auf und schließt seine Jacke. Die dunkle Wollmütze lässt seine blauen Augen noch heller und leuchtender wirken. Er lächelt mich an, als er meinen Blick bemerkt. Dann wirft er mir alte Handschuhe zu, die zwei Nummern zu groß sind, und zieht die Schnürsenkel seiner Stiefel fester zu.
Ich hole tief Luft.
Versuche mich ausschließlich darauf zu konzentrieren, wo ich bin, was ich tue und was ich bald tun werde. Ich verbiete mir, an Adam zu denken, mir vorzustellen, was er gerade macht, mich zu fragen, ob es ihm besser geht und was er wohl empfindet. Ich flehe mich selbst an, mich nicht an diese letzten Momente mit ihm zu erinnern, an seine Berührungen, seine Umarmung, seine Lippen und Hände und seinen erregten Atem –
Doch ich scheitere.
Ich muss einfach daran denken, wie er mich immer zu schützen versucht hat, wie er dabei fast umgekommen ist. Immer hat er mich verteidigt, auf mich geachtet, ohne sich bewusst zu machen, dass ich selbst, immer ich die größte Bedrohung bin. Die schlimmste Gefahr. Er sieht mich zu positiv, stellt mich auf einen Sockel, was ich nicht verdient habe. Wahrscheinlich würde er nicht mal glauben, dass ich mir meiner Fähigkeiten inzwischen wohl bewusst bin. Dass ich weiß, wie sehr ich Menschen verletzen kann.
Doch ich weiß es.
Ich weiß, dass ich Castle entzweireißen könnte. Ich weiß, dass ich Kenji mit dem Kopf voran in die Wand rammen könnte. Ich weiß, dass ich den Boden unter unseren Füßen spalten könnte. Ich weiß, dass ich Menschen dazu bringen könnte, Schlimmes zu tun. Böses. Doch ich fühle mich deshalb nicht besser. Ich fühle mich nicht stark und mächtig.
Ich fühle mich abscheulich.
Aber ich muss jedenfalls nicht beschützt werden. Ich brauche niemanden, der sich Sorgen um mich macht oder Gefahr läuft, sich in mich zu verlieben. Ich bin unzuverlässig. Mir muss man aus dem Weg gehen. Es ist in Ordnung, dass die Leute sich vor mir fürchten.
Besser für sie.
»Hey.« Kenji tritt zu mir, nimmt mich am Ellbogen. »Startklar?«
Ich nicke. Lächle ein bisschen.
Meine Kleidung ist geliehen. Die Karte, die ich unter meinem Anzug um den Hals trage, ist nagelneu. Man hat mir heute eine gefälschte RR-Karte überreicht – eine Reestablishment-Registrierungskarte. Sie dokumentiert, dass ich hier im Sektor lebe und arbeite, dass ich auf überwachtem Gelände offiziell registriert bin. Jeder Bürger besitzt eine solche Karte. Ich hatte noch nie eine, weil man mich in eine Irrenanstalt gesteckt hatte; Leute wie ich brauchten so was nicht. Ich bin ohnehin ziemlich sicher, dass die glaubten, ich würde in der Anstalt sterben. Dann braucht man auch keinen Ausweis.
Aber die RR-Karte ist etwas ganz Besonderes.
Nicht jeder in Omega Point besitzt so etwas. Diese Karten sind offenbar extrem schwer zu fälschen. Es sind dünne Rechtecke, hergestellt aus einer seltenen Art von Titan. Ein Barcode und die Daten des Besitzers werden mit Laser eingraviert, und die Karte enthält eine Funktion, mit der man den Aufenthaltsort des Besitzers feststellen kann.
»In RR-Karten wird alles gespeichert«, hatte Castle mir erklärt. »Man braucht sie zum Betreten und Verlassen von Geländen und vom Arbeitsplatz. Der Lohn wird in RE-Dollars ausbezahlt – er basiert auf einem komplizierten Algorithmus, mit dem der Schwierigkeitsgrad der beruflichen Tätigkeit und die Anzahl der Arbeitsstunden berechnet wird, um den Wert der Arbeit zu bestimmen. Diese elektronische Währung wird wöchentlich ausgezahlt und automatisch auf einen Chip in der RR-Karte geladen. Man kann damit in den Versorgungszentren Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs kaufen. Wer seine RR-Karte verliert«, hatte Castle noch hinzugefügt, »büßt seine Lebensgrundlage, seine Einkünfte und seinen Status als offiziell registrierter Bürger ein. Falls Sie von Soldaten angehalten und nach Ihrem Ausweis gefragt werden, müssen Sie die RR-Karte vorzeigen. Tun Sie das nicht«, er hielt inne, »sind die Folgen sehr … unerfreulich. Wer seine Karte nicht bei sich trägt, wird als Gefahr für das Reestablishment betrachtet. Dieses Verhalten gilt als rechtswidrig, und damit wird man automatisch verdächtig. Wer die Karte nicht bei sich trägt, weil er vielleicht nur eine Weile nicht überprüfbar sein möchte, wird als Sympathisant der Rebellen erachtet. Als Bedrohung. Und mit Bedrohungen macht das Reestablishment kurzen Prozess. Deshalb«, Castle holte tief Luft, »dürfen und werden Sie Ihre RR-Karte niemals verlieren. Unsere gefälschten Karten enthalten weder den Peilsender noch den Geld-Chip, weil wir nicht über die notwendige Technologie verfügen und auch beides nicht brauchen. Aber! Das bedeutet nicht, dass die Karten nicht als Ersatz hundertprozentig funktionieren. Und für die normalen Bürger sind sie zwar gleichbedeutend mit lebenslanger Haft, aber in Omega Point stellen sie ein Privileg dar. Und so werden Sie bitte auch damit umgehen.«
Ein Privileg.
Ich habe vieles gelernt an diesem Vormittag – unter anderem, dass diese Karten nur an diejenigen ausgegeben werden, die außerhalb von Omega Point Missionen zu erfüllen haben. Die Leute, die sich an diesem Morgen zu dem Treffen einfanden, gelten als die Elite: die besten, stärksten, verlässlichsten. Mich dazu einzuladen war ein mutiger Schritt von Kenji. Mir ist jetzt bewusst, dass er mir damit sein Vertrauen ausgesprochen hat. Trotz allem, was vorgefallen ist, bedeutet er damit mir und allen anderen, dass ich hier willkommen bin. Was natürlich auch erklärt, weshalb Winston und Brendan so offen zu mir waren. Weil sie Vertrauen haben zu dem System von Omega Point. Und dass sie Kenji vertrauen, wenn er signalisiert, dass er mir vertraut.
Nun gehöre ich also dazu.
Und meine erste offizielle Handlung als Auserwählte?
Ich werde zur Diebin.