41

Warners Kopf liegt auf meinem Schoß.

So friedlich und ruhig wirkt sein Gesicht, wie ich es noch nie gesehen habe, und ich strecke fast die Hand aus, um seine Haare glatt zu streichen, als mir bewusst wird, wie absurd das wäre.

Mörder auf meinem Schoß

Mörder auf meinem Schoß

Mörder auf meinem Schoß

Ich schaue nach rechts.

Adam hält Warners Beine und scheint sich ebenso unwohl zu fühlen wie ich.

»Haltet durch, Leute«, sagt Kenji, der den Panzer Richtung Omega Point steuert. »Ich weiß, dass die Lage unsäglich grotesk ist, aber ich hatte nicht grade viel Zeit, mir einen besseren Plan auszudenken.«

Er wirft einen Blick auf uns, aber wir bleiben stumm bis –

»Ich bin so froh, dass euch beiden nichts zugestoßen ist.« Ich spreche diese Worte, als hätten sie zu lange in meinem Mund festgesessen und müssten jetzt hinausgestoßen werden. Und erst in diesem Moment wird mir klar, wie groß meine Angst war, dass wir 3 nicht lebend zurückkehren würden. »So froh.«

Einen Moment lang herrscht Schweigen.

»Wie fühlst du dich?«, fragt Adam dann. »Wie geht’s deinem Arm? Alles gut?«

»Ja.« Ich bewege das Handgelenk und versuche nicht zusammenzuzucken. »Wäre vielleicht nicht schlecht, ihn eine Weile zu bandagieren. Aber im Wesentlichen ist alles okay. Die Handschuhe und dieses Schutzteil haben wirklich geholfen.« Ich bewege die Finger einzeln. Inspiziere meine Handschuhe. »Nichts kaputt.«

»Das war echt der Hammer«, sagt Kenji. »Du hast uns da eben alle gerettet.«

Ich schüttle den Kopf. »Kenji – was da in dem Haus passiert ist – es tut mir wirklich leid, ich –«

»Hey, lass uns jetzt nicht darüber reden, okay?«

»Was ist los?«, fragt Adam beunruhigt. »Was ist passiert?«

»Nichts«, sagt Kenji rasch.

Adam achtet nicht auf ihn, schaut nur mich an. »Was war los? Ist alles in Ordnung mit dir?«

»I-ich – h-habe –« Das Sprechen fällt mir schwer. »Was – mit Warners Va–«

Kenji flucht lautstark.

Ich verstumme sofort.

Mir wird heiß, als ich merke, was ich gesagt habe. Als mir wieder einfällt, was Adam gesagt hat, bevor wir aus dem Haus rannten. Er wird bleich, presst die Lippen zusammen und schaut aus dem winzigen Fenster rechts von ihm.

»Hör zu …« Kenji räuspert sich. »Wir müssen nicht darüber reden, okay? Es wäre mir sogar entschieden lieber, nicht darüber zu reden. Weil mir dieser Scheiß echt zu schräg ist, um –«

»Ich kann nicht verstehen, wie das überhaupt möglich ist«, flüstert Adam. Er blinzelt, starrt geradeaus, blinzelt wieder und wieder und »Ich denke immer wieder, es war ein Traum«, sagt er. »Ich denke immer wieder, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Aber andererseits«, er lacht bitter, »werde ich dieses Gesicht mein Leben lang nicht vergessen.«

»Bist du – bist du dem Obersten denn noch nie zuvor begegnet?«, frage ich zögernd. »Hast du noch nie ein Bild von ihm gesehen? Ist das bei der Armee denn nicht üblich?«

Adam schüttelt den Kopf.

Kenji sagt: »Anderson hat immer darauf geachtet, nicht gesehen zu werden. Er hatte irgendeine kranke Freude daran, diese unsichtbare Macht zu sein.«

»Aus Angst vor unbekannten Kräften?«

»So was in der Art, ja. Ich habe gehört, dass er glaubte, wenn die Leute sein Gesicht kennen würden – von Fotos oder öffentlichen Auftritten –, mache ihn das verwundbar. Menschlich. Und er fand immer Gefallen daran, den Menschen richtig Angst zu machen. Die höchste Macht und die größte Gefahr zu sein. Denn wie kann man etwas bekämpfen, das man nicht mal kennt? Wie kann man es dann überhaupt finden?«

»Deshalb war es vollkommen ungewöhnlich, dass er dort aufgetaucht ist«, denke ich laut.

»Ganz genau.«

»Aber du hast deinen Vater doch für tot gehalten«, sage ich zu Adam. »Oder nicht?«

»Nur damit ihr es wisst«, wirft Kenji ein. »Ich bin immer noch für die Wir-müssen-nicht-darüber-reden-Option. Ihr wisst schon. Möchte das nur klarstellen.«

»Das dachte ich ja auch«, antwortet Adam, den Blick noch immer starr geradeaus gerichtet. »Das hatte man mir gesagt.«

»Wer denn?«, fragt Kenji. Zuckt dann zusammen. »Scheiße. Na gut. Nicht zu ändern. Okay, ich bin neugierig.«

Adam zuckt die Achseln. »Ich fange allmählich an, alles zu begreifen. Alles, was mir unklar gewesen ist. Das ganze Chaos. Nach dem Tod meiner Mutter war mein Vater nie zuhause, außer wenn er betrunken war und jemanden verprügeln wollte. Wahrscheinlich hat er da schon ein ganz anderes Leben geführt und hat James und mich deshalb ständig allein gelassen.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn«, wendet Kenji ein. »Ich meine, dass dein Vater ein Arsch war, schon, aber der Rest. Denn wenn du und Warner Brüder seid, und du bist achtzehn und Warner ist neunzehn, und Anderson war immer mit Warners Mutter verheiratet –«

»Meine Eltern waren nie verheiratet«, sagt Adam, und seine Augen weiten sich, als würde ihm schlagartig etwas bewusst.

»Du bist ein uneheliches Kind?«, sagt Kenji angewidert. »Ich meine – entschuldige, das hat nichts mit dir zu tun –, aber die Vorstellung, wie Anderson irgendeine leidenschaftliche Affäre hat. Das ist voll eklig.«

Adam erstarrt. »Großer Gott«, flüstert er.

»Aber wieso sollte man überhaupt eine Affäre haben?«, fährt Kenji fort. »Ich hab diesen Scheiß nie verstehen können. Wenn es einem nicht gut geht, soll man sich trennen. Nicht betrügen. Hab ich Recht?« Er gluckst. »Natürlich hab ich Recht. Man muss kein Genie sein, um darauf zu kommen. Ich meine«, er zögert, »ich nehme an, dass es eine Affäre war.« Kenji schaut konzentriert geradeaus, kann Adams Miene nicht sehen. »Vielleicht war es auch keine Liebesaffäre, sondern einfach nur so eine Arschloch-Nummer –« Er unterbricht sich. »Scheiße. Seht ihr, deshalb spreche ich lieber nicht mit Leuten über ihre privaten Probleme –«

»Es war Liebe«, erwidert Adam leise. »Ich weiß nicht, warum er meine Mutter nicht geheiratet hat. Aber er hat sie geliebt. James und ich waren ihm völlig egal. Aber nach ihr war er verrückt. An den wenigen Tagen, die er jeden Monat zuhause war, musste ich immer in meinem Zimmer bleiben und ganz still sein.« Er verstummt einen Moment, fährt dann fort. »Ich musste an meine eigene Tür klopfen und um Erlaubnis bitten, bevor ich rauskommen durfte, sogar wenn ich auf die Toilette musste. Und wenn meine Mutter mich rausgelassen hat, war er immer sauer. Er wollte mich nach Möglichkeit gar nicht sehen. Mom musste mir heimlich mein Essen bringen, damit er sich nicht darüber aufregte, dass sie mir zu viel zu essen gab und selbst nicht genug aß.« Er schüttelt den Kopf. »Und als James auf die Welt kam, wurde alles noch schlimmer.«

Adam blinzelt so heftig, als könnte er nichts mehr sehen.

»Und als sie starb«, sagt er und atmet tief ein, »als sie starb, gab er mir die Schuld an ihrem Tod. Behauptete, ich sei schuld daran, dass sie krank wurde und starb. Ich hätte zu viel gebraucht, sie hätte nicht genug gegessen, wäre krank geworden, weil es zu anstrengend für sie war, sich um uns zu kümmern, weil sie uns zu viel Essen gegeben hätte und alles andere auch. Mir und James.« Er runzelt die Stirn. »Und ich habe ihm so lange geglaubt. Ich dachte, deshalb wäre er so oft weg gewesen. Dass das die Strafe gewesen wäre, die ich verdient hätte.«

Ich bin so erschüttert, dass ich nichts sagen kann.

»Und dann … Ich meine, er ist ohnehin so gut wie nie da gewesen«, fährt Adam fort, »und ein Arschloch war er immer schon. Aber nach dem Tod meiner Mutter … drehte er regelrecht durch. Kam nur vorbei, um sich volllaufen zu lassen. Zwang mich dazu, mich vor ihn zu stellen, damit er mich mit leeren Flaschen bewerfen konnte. Und wenn ich zuckte – wenn ich zusammenzuckte –«

Adam schluckt mühsam.

»Das war alles«, sagt er dann, noch leiser. »Er kam nach Hause, betrank sich, verprügelte mich. Ich war vierzehn, als er nicht mehr auftauchte.« Adam dreht die Handflächen nach oben, starrt darauf. »Er hat jeden Monat Geld geschickt, damit wir durchkamen, und dann –« Er verstummt. »Zwei Jahre später bekam ich einen Brief von unserer neuen Regierung, in dem stand, dass mein Vater tot sei. Ich dachte mir, er sei wahrscheinlich besoffen vor ein Auto gelaufen oder ins Meer gestürzt oder so was. War mir auch egal. Ich war froh, dass er tot war, aber ich musste deshalb mit der Schule aufhören. Hab mich dann zur Armee gemeldet, weil ich kein Geld mehr hatte und James versorgen musste und wusste, dass ich keinen anderen Job finden würde.«

Adam schüttelt wieder den Kopf. »Er hat uns nichts hinterlassen, nicht einen einzigen Cent, und nun sitze ich hier in diesem Panzer und flüchte vor einem Weltkrieg, den mein eigener Vater angezettelt hat«, er lacht, und es klingt blechern, »und der andere nichtsnutzige Mensch auf diesem Planeten liegt auf meinem Schoß.« Adam fängt jetzt richtig an zu lachen, rauft sich die Haare. »Und der ist mein Bruder. Blutsverwandt. Mein Vater führte ein Doppelleben, von dem ich nichts wusste, und anstatt tot zu sein, wie er es sein sollte, kriege ich von ihm auch noch einen Bruder, der mich in einem Schlachthaus beinahe zu Tode foltert –« Er streicht sich zittrig übers Gesicht, die Fassade bricht zusammen, er verliert die Fassung, seine Hände zittern jetzt so heftig, dass er sie zu Fäusten ballt, an die Stirn drückt und murmelt: »Er muss sterben.«

Und mir stockt der Atem, als Adam sagt:

»Mein Vater. Ich muss ihn töten.«

Rette mich vor dir
cover.html
978-3-641-09306-8.html
978-3-641-09306-8-1.html
978-3-641-09306-8-2.html
978-3-641-09306-8-3.html
978-3-641-09306-8-4.html
978-3-641-09306-8-5.html
978-3-641-09306-8-6.html
978-3-641-09306-8-7.html
978-3-641-09306-8-8.html
978-3-641-09306-8-9.html
978-3-641-09306-8-10.html
978-3-641-09306-8-11.html
978-3-641-09306-8-12.html
978-3-641-09306-8-13.html
978-3-641-09306-8-14.html
978-3-641-09306-8-15.html
978-3-641-09306-8-16.html
978-3-641-09306-8-17.html
978-3-641-09306-8-18.html
978-3-641-09306-8-19.html
978-3-641-09306-8-20.html
978-3-641-09306-8-21.html
978-3-641-09306-8-22.html
978-3-641-09306-8-23.html
978-3-641-09306-8-24.html
978-3-641-09306-8-25.html
978-3-641-09306-8-26.html
978-3-641-09306-8-27.html
978-3-641-09306-8-28.html
978-3-641-09306-8-29.html
978-3-641-09306-8-30.html
978-3-641-09306-8-31.html
978-3-641-09306-8-32.html
978-3-641-09306-8-33.html
978-3-641-09306-8-34.html
978-3-641-09306-8-35.html
978-3-641-09306-8-36.html
978-3-641-09306-8-37.html
978-3-641-09306-8-38.html
978-3-641-09306-8-39.html
978-3-641-09306-8-40.html
978-3-641-09306-8-41.html
978-3-641-09306-8-42.html
978-3-641-09306-8-43.html
978-3-641-09306-8-44.html
978-3-641-09306-8-45.html
978-3-641-09306-8-46.html
978-3-641-09306-8-47.html
978-3-641-09306-8-48.html
978-3-641-09306-8-49.html
978-3-641-09306-8-50.html
978-3-641-09306-8-51.html
978-3-641-09306-8-52.html
978-3-641-09306-8-53.html
978-3-641-09306-8-54.html
978-3-641-09306-8-55.html
978-3-641-09306-8-56.html
978-3-641-09306-8-57.html
978-3-641-09306-8-58.html
978-3-641-09306-8-59.html
978-3-641-09306-8-60.html
978-3-641-09306-8-61.html
978-3-641-09306-8-62.html
978-3-641-09306-8-63.html
978-3-641-09306-8-64.html
978-3-641-09306-8-65.html
978-3-641-09306-8-66.html
978-3-641-09306-8-67.html
978-3-641-09306-8-68.html
978-3-641-09306-8-69.html
978-3-641-09306-8-70.html
978-3-641-09306-8-71.html
978-3-641-09306-8-72.html
978-3-641-09306-8-73.html
978-3-641-09306-8-74.html
978-3-641-09306-8-75.html
978-3-641-09306-8-76.html
978-3-641-09306-8-77.html
978-3-641-09306-8-78.html