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SALZBURG

Auf Anweisung von oberster Stelle wurde Sam O’Connor trotz seines Schwurs, in der nächsten Zeit kein fliegendes Objekt mehr zu betreten, noch am späten Nachmittag von Europol mit einem Privatflugzeug von Hamburg nach Salzburg geflogen. Direkt vom Flughafen aus fuhr er mit einem Beamten der Mordkommission Salzburg in die Wohnung von Frau Dileilah in der Salzburger Altstadt. Am Tatort wimmelte es nur so von Beamten, und Sam bedauerte es, dass er nicht als Erster hier gewesen war. Ein jungfräulicher Tatort offenbarte den letzten Blick des Täters auf sein Verbrechen. Nun aber waren sämtliche Spuren, die nicht offensichtlich waren, unbrauchbar.

»Sie liegt im Badezimmer.« Ein aschblonder bleicher Beamter, der sich Sam als Siegfried Reuter vorgestellt hatte, deutete auf den letzten Raum im hinteren Teil der Wohnung. Die Tür stand offen und reflektierte das Blitzlicht einer Kamera direkt in den dunklen Korridor hinaus.

»Wer hat sie gefunden?«, stellte Sam die obligatorische Frage.

»Eine Bekannte des Opfers – die Tote heißt übrigens Birgit Eschberger – hat vergeblich versucht, sie zu erreichen. Sie war besorgt und holte sich vom Hausmeister die Schlüssel. Das Übliche eben. Na ja, den Rest können Sie sich denken. Nachdem sie die Polizei alarmiert hatte, kam kein einziges Wort mehr über ihre Lippen. Sie hat am ganzen Körper gezittert, sodass der Arzt ihr erst einmal eine Beruhigungsspritze gegeben hat.«

Sam sah sich suchend um. »Wo ist sie jetzt?«

»In der Wohnung des Hausmeisters.«

Sam steuerte auf den hinteren Teil der Wohnung zu, doch der bleiche Reuter hielt ihn zurück. »Sehen Sie sich erst einmal das hier an.«

Er ging voran, und Sam folgte seinem breiten Rücken, der fast den ganzen Türrahmen ausfüllte, in ein anderes Zimmer.

Das Erste, was er sah, war ein umgeworfener runder Eichentisch. Um einen Stuhl, der in der Mitte des Raumes stand, lagen abgeschnittene Haare. Ein Bild, das er bereits von den Fotos vom Tatort in Rom kannte. Sam bückte sich zu den Haaren hinunter. Reuter reichte ihm schnell einen dünnen OP-Handschuh, und Sam streifte ihn sich über. Er strich mit einem behandschuhten Finger durch die grauen Haare, und tatsächlich blitzte, wie er insgeheim gehofft hatte, hier und da eine weiße kristalline Substanz hervor. Winzige Krümelchen, aber auf dem dunklen Holzboden dennoch eindeutig erkennbar: Salz.

»Geben Sie mir mal eine Tüte.«

Reuter reichte ihm eine kleine Plastiktüte, und Sam füllte sie mit dem Salz und anderen undefinierbaren Partikelchen, die zwischen den Haaren lagen. Er drehte sich zu Reuter um, der hinter ihm stand und ihm über die Schulter linste.

»Fürs Labor. Ich hoffe, ich bekomme schnellstmöglich das Ergebnis. Was sind das da für Karten?« Sam zeigte auf die farbenfrohen Bilderkarten, die hinter dem umgekippten Tisch verstreut auf dem Boden lagen.

»Wohl so eine Art Tarotkarten.«

Sam scannte systematisch das Zimmer. Die Wände waren hellblau gestrichen, und wo er auch hinsah, sah er Keramikfiguren. Sie standen überall. Blumenkinder, sich küssende Pärchen, Frauen mit Kränzen oder Hüten auf dem Kopf, kleine Katzen und Dalmatiner. Plötzlich blieb sein Blick an einem Buch hängen, das auf einem zweitürigen, hüfthohen Holzschränkchen stand, direkt zwischen zwei der liebreizenden Figürchen. Ein dunkelblaues kleines Buch. Er ging darauf zu und nahm es in die Hand. Auf dem Buchdeckel war in goldenen Lettern »Die Bibel« eingestanzt. Sam schlug sie auf und fand auf der Innenseite einen Eintrag, der ihn stutzen ließ.

In diesem Moment tippte ihm der bleiche Reuter auf die Schulter. »Die Kollegen würden die Leiche demnächst gerne mitnehmen. Wenn Sie mir ins Bad folgen wollen?«

Obwohl Sam in seiner Laufbahn viele Tote gesehen hatte, verschlug es ihm bei diesem Anblick zunächst einmal die Sprache. Die rechte Hand war an der linken großen Zehe und die linke an der rechten großen Zehe festgebunden. Die wulstigen Knie ragten grotesk aus dem rot gefärbten Wasser der vollen Badewanne.

»Der Körper liegt seit mindestens zehn Stunden in der Wanne. Das kann man an der Runzelung der Oberhaut erkennen«, sagte Reuter und hielt sich die Hand vor Nase und Mund, um den einsetzenden Leichengeruch und den Gestank von Erbrochenem nicht einzuatmen. Ein Polizeibeamter hatte seinen Mageninhalt ins Waschbecken geleert.

»Danke, aber ich brauche keine Einführung in die Gesetze der Leichenverwesung, Herr Kollege. Wo ist der Kopf?«, fragte Sam.

»Eine gute Frage, den haben wir bisher noch nicht gefunden.«

»Na prima. Gibt es ein Foto von der Frau mit Kopf?«

»Im Schlafzimmer steht eines, ich werde es für Sie kopieren.«

Sam beugte sich über die Leiche. Die massigen Unterschenkel der Frau waren blaulila verfärbt und etwas deformiert.

»Was ist mit den Beinen passiert?«

»Ganz genau können wir das erst nach der Autopsie sagen, aber Sie haben recht, sie sehen komisch aus.« Siegfried Reuters Augen flogen von der Leiche zur Tür. Er war bemüht, nicht allzu lange den Anblick der verstümmelten Toten ertragen zu müssen.

»Ist das Ihre erste Leiche?«

»Die erste in dieser Form.«

»Hm, zu Ihrer Beruhigung, Reuter, man gewöhnt sich nie an solche Anblicke. Haben Sie die Flecken da gesehen?«

Sam zeigte mit seinem behandschuhten Finger auf zwei Abdrücke auf dem Brustkorb der Frau, die der sinkende Wasserstand nun freigab. Reuter näherte sich zögerlich der Leiche.

Plötzlich hatte Sam genug von dem überforderten Beamten. »Wo ist der Gerichtsmediziner?«, fragte er leicht gereizt, als hinter ihm eine helle Stimme ertönte.

»Schon zur Stelle.«

Sam drehte sich um und stand einer Matrone von Frau gegenüber, die die Zwillingsschwester des Opfers hätte sein können. In ihren fleischigen Fingern hielt sie einen schwarzen Koffer, den sie jetzt absetzte, um näher an die Leiche heranzutreten.

»Können Sie mir erklären, woher diese Flecken stammen?«

»Ich würde sagen, sieht nach Elektrodenabdrücken aus, verursacht von einem Defibrillator.«

»Danke.« Sam hatte genug gesehen. »Gibt es Zeugen? Hat jemand etwas gesehen oder gehört?«, wandte er sich wieder an Reuter, der wie eine Gipsfigur neben ihm stand und nun zum Leben erwachte.

»Es gibt nur sechs Parteien im Haus. Die Paare aus dem ersten Stock sind seit einer Woche gemeinsam im Urlaub. Der Herr, der neben Frau Eschberger wohnt, war die ganze Nacht bei seiner Freundin und kam erst vor einer Stunde nach Hause. Und die oben werden gerade befragt. Außerdem werden die Anwohner aus den Nachbarhäusern und die Angestellten aus den anliegenden Geschäften verhört, ob sie irgendetwas Auffälliges gesehen haben.«

»Wo wohnt der Hausmeister?« Sam hatte das Badezimmer inzwischen verlassen und war zur Wohnungstür gegangen. Nun stand er schon halb im lindgrünen Treppenhaus. Er musste seine Gedanken sammeln, die wie kleine Papierschnipsel in einer Windböe umherwirbelten, und dafür wollte er allein sein.

»Ein Haus weiter, Parterre unten links. Meinen Sie nicht, es wäre besser, wenn ich …« Weiter kam der Österreicher nicht, denn Sam war bereits, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinuntergeeilt. Unten trat er auf eine kopfsteingepflasterte Straße.

Die Straße war belebt. Touristen standen vor großen Schaufenstern, ein Fiaker kutschierte eine Familie durch die Gasse, und eine Gruppe Japaner bewunderte den Blick durch die Häuser auf die Festung Hohensalzburg. Ein Paar stritt sich in einem Hauseingang und versuchte zwar, möglichst unauffällig zu bleiben, zog aber die Blicke aller Passanten auf sich, als der Mann »Du bleede Gans!« brüllte und die Frau anfing, mit ihrer Louis-Vuitton-Tasche nach ihm zu schlagen.

Sam ging zum nächsten Hauseingang und stieß die angelehnte Tür auf. Der erste Blick fiel auf die rissigen, mit Schimmelflecken bedeckten Wände, der zweite auf eine Reihe alter Briefkästen. Die frische kalte Luft draußen hatte ihm gutgetan, hier drinnen schlugen ihm jetzt Moder und der Geruch nach altem Mann entgegen.

Die Wohnung des Hausmeisters war nicht schwer zu finden, denn im Parterre gab es nur eine einzige. Da die Klingel keinen Ton von sich gab, klopfte Sam mit der Faust gegen die Tür. Ein kleiner stämmiger Mann mit Halbglatze und in einem blauen Arbeitsoverall öffnete so schnell, als hätte er bereits dahinter gewartet.

»Na endlich. Sie sind doch von der Gendarmerie?«

Sam nickte, und der Mann ließ ihn ein, ohne weitere Fragen zu stellen.

Kalter Zigarettenrauch schlug Sam entgegen. Die Wohnung war dunkel und erinnerte an eine Höhle. Der Flur maß an die zwei Quadratmeter, wirkte jedoch noch kleiner durch die dunkel gemusterte Tapete im Stil der Siebzigerjahre. Auf dem Boden lag ein alter ausgeblichener Perserteppich, darüber ein weiterer Teppich, der wie ein Läufer in ein etwa zehn Quadratmeter großes Zimmer führte. Auch hier lagen diverse Teppiche übereinander. Der Hausmeister folgte Sams Blick auf die Teppiche und sagte: »Wegen der Feuchtigkeit, wissen’S.«

In der Ecke neben dem Fenster stand ein Fernseher mit einer altmodischen Antenne, und auf dem kleinen Cordsofa an der gegenüberliegenden Wand lag ein üppiges Rubens-Modell mittleren Alters. Sam fragte sich, ob es überhaupt schlanke Salzburgerinnen gab. Die Frau auf dem Sofa war gut gekleidet, mit Goldschmuck behangen, und sie hatte den kräftigen Unterarm über die Augen gelegt, sodass nur ihre roten Haare und ihr zitternder Mund zu sehen waren, aus dem in regelmäßigen Abständen wimmernde Töne kamen. »Das geht die ganze Zeit schon so. Hab ihr ein Bier angeboten, aber sie wollte keins«, meinte der Hausmeister.

»Wie heißt die Dame noch?«, fragte Sam.

»Frau Anneliese. Nachname weiß ich nicht. Die Gendarmerie hat sie mir hier hingepackt.«

Sam setzte sich auf den Couchtisch vor dem Sofa, beugte sich leicht nach vorne und sprach leise auf die Frau ein.

»Hören Sie, ich weiß, dass das, was Sie heute gesehen haben, ein Schock für Sie war. Trotzdem muss ich mit Ihnen reden. Ich brauche ein paar Informationen über Ihre Freundin, um zu verstehen, was da passiert ist. Und vor allem, warum.«

»Ich habe gewusst, dass es ein Fehler war, dort hinzugehen. Ich habe ihr noch davon abgeraten«, kam es über die schmalen Lippen.

Sam hatte sich darauf vorbereitet, länger auf sie einreden zu müssen, und war überrascht, dass die Frau so schnell die Sprache wiedergefunden hatte. »Wo ist sie hingegangen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, und Sam zuckte zusammen. Ein lautes Schluchzen folgte, das in einem Crescendo zu enden drohte.

»Okay, okay. Hören Sie, was hat Ihre Freundin gearbeitet? Hat sie von zu Hause aus gearbeitet? Wir haben so … so merkwürdige Karten, Tarotkarten, bei ihr gefunden.«

Das Heulen hörte abrupt auf, und Frau Anneliese sah ihn an.

»Die hat sie ab und zu gelegt. Als Einführung sozusagen. Aber eigentlich war sie ein Medium. Sie hat Leuten geholfen. Ja, das hat sie. O mein Gott, und dann endet sie so?« Abermals entstand eine lange Pause, dieses Mal verfiel sie jedoch nicht ins Schluchzen, sondern starrte auf die Wand hinter ihm, sodass Sam schon versucht war, sich umzudrehen und ihrem Blick zu folgen.

»War Ihre Freundin gläubig?«

»Jeden Sonntag ging sie in die Kirche. Manchmal auch unter der Woche.«

»War Ihre Freundin mal in Hamburg?«

»Nein, was sollte sie denn da? Sie ist nie verreist.«

»Sie können mir nicht zufällig sagen, woher sie die Bibel hatte, die auf ihrem Tisch lag?«

»Auf ihrem Tisch? Eigentlich hatte sie die Bibel immer unter dem Kopfkissen. Sie schlief auf ihr …«, jetzt schluchzte Frau Anneliese wieder, »… und ich habe ihr immer gesagt, sie soll nicht mit den Toten sprechen. Die Geister, die ich rief. So heißt es doch, oder? Und jetzt ist sie selber tot.«

Sam wusste, dass es sinnlos war, weiter in die Frau zu dringen. Sie stand unter Schock. Er würde zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal mit ihr reden müssen.

Sam hatte den Hausmeister von Frau Anneliese erlöst und dafür gesorgt, dass ein Psychologe die Frau betreute und sie nach Hause gebracht wurde. Er hatte sich ihre Telefonnummer notiert, denn er wollte sich noch nicht geschlagen geben mit der Antwort, sie dürfe ihm nichts sagen. Die Frau war vielleicht eine wichtige Zeugin, und es war nicht unwahrscheinlich, dass sie den Mörder sogar gesehen hatte. Doch Sam fehlte die Geduld im Umgang mit hysterischen Frauen, und so wollte er erst einmal einem entscheidenden Hinweis nachgehen. Der Bibel. Noch einmal betrat er Birgit Eschbergers Wohnung und begab sich direkt ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, die Gardinen zugezogen, die Kommode staubfrei. Ein Foto von Birgit Eschberger aus jungen Jahren – schlank, brünett und Arm in Arm mit einem Mann – stand immer noch hier. Ein aktuelles Foto konnte Sam nicht entdecken. Er ging einmal um das Bett herum, hob die Tagesdecke etwas an und tastete sich langsam unter der Decke zum Kopfkissen vor, bis er mit den Fingerkuppen gegen etwas Hartes stieß. Wie Frau Anneliese gesagt hatte, hatte Birgit Eschberger auf ihrer Bibel geschlafen. Sam setzte sich aufs Bett und öffnete das Buch. Und wie erwartet fand er in diesem Exemplar keinen Eintrag. In diesem Moment fing das Handy in seiner Tasche an zu vibrieren und ließ Sam erschrocken zusammenzucken.

»O’Connor, wie weit sind Sie?«, dröhnte die Stimme von Peter Brenner durchs Telefon.

»Sie hatten ein gutes Gespür, wir haben es tatsächlich mit einem Serientäter zu tun, der seit zwei oder sogar mehreren Jahren tötet. Auch der Mord in Salzburg geht auf sein Konto.«

»Schon irgendwelche Anhaltspunkte?«

»Ich denke, er kommt aus Hamburg. Das ist aber nur eine Vermutung, mehr kann ich noch nicht sagen.«

»Sehen Sie zu, dass Sie sich den Kerl greifen. Ich will Sie nicht weiter durch die Weltgeschichte fliegen lassen.«

Sam hob die rechte Augenbraue und klappte sein Handy zu. Die da oben hatten immer nur die Kosten im Kopf, nicht die Opfer, dachte er und schluckte seinen Ärger herunter.

Als er das Schlafzimmer verließ, trugen gerade zwei Männer stöhnend den schwarzen Plastiksack mit Birgit Eschbergers kopflosem Körper durch den engen Flur.

Für ihn stellte sich in diesem Moment nur eine Frage: Warum hatte der Täter die Frau geköpft und nicht wie die anderen verbrannt? Wieder einmal zeigte sich: Anders als Laien annahmen, handelten Serienmörder nicht immer nach dem gleichen Schema.