Lina Lopez fütterte den Computer mit den letzten Kundendaten und schaltete ihn dann aus. Sie hinterließ den Schreibtisch in einem ordentlichen Zustand, damit keine ihrer Kolleginnen etwas zu meckern hatte. In einer Praxis, in der außer dem Arzt ausschließlich Frauen arbeiteten, wurde gerne und ausgiebig über jeden und alles gelästert. Jede wollte besser, schöner, sexier als die anderen sein. Die letzte Sprechstundenhilfe, die der Herr Doktor eingestellt hatte, hatte es jedoch allen gezeigt. Sie teilte inzwischen das Bett mit ihm und kommandierte alle in der Praxis herum. Lina hatte die Intrigen irgendwann so satt gehabt, dass sie sich einen neuen Job gesucht hatte. Leider nur für zwei Tage, sodass sie die andere Hälfte der Woche weiterhin hier arbeiten musste, um genug für ihre Miete und die Lebenshaltungskosten zu verdienen.
Sie zog sich ihren Mantel über die weiße Praxiskleidung und machte überall das Licht aus. Ein Schatten huschte vom Gang zum Sprechstundenzimmer. Am Anfang hatte sie immer nachgesehen, weil sie dachte, dass noch jemand in der Praxis war. Inzwischen wusste sie, dass da niemand war, und ließ den Schatten Schatten sein. Sie schloss die Praxistür hinter sich zu, pulte noch einen Kaugummi vom Praxisschild, den unverschämterweise jemand dort hingeklebt hatte, und ging durch das dunkle Treppenhaus zum Ausgang.
Morgen war ihr erster Tag in der neuen Praxis bei einem Hypnosetherapeuten. Das war sicherlich viel interessanter, als Herrn Doktor Herrmann dabei zuzusehen, wie er Spritzen in Gelenke jagte.
Sie ging durch die noble Hamburger Innenstadt, vorbei an Geschäften von Prada und Gucci, passierte eine Bäckerei, einen Knopfladen und einen Taschenladen, bis sie die U-Bahn-Station erreichte. Sie sah auf die Uhr: Ihre Bahn kam in einer Minute. Lina legte einen Sprint ein. Sie hatte keine Lust, auf die nächste Bahn warten zu müssen.
Als sie noch auf der Treppe war, hörte sie schon die Durchsage: »Zurückbleiben bitte!« Atemlos erreichte sie den letzten Waggon, sprang hinein und prallte gegen einen jungen Mann, der sie auffing, bevor die Türen direkt hinter ihr zuknallten und sich die U-Bahn in Bewegung setzte. Sie entschuldigte sich leise mit einem Lachen und setzte sich auf einen freien Platz am Wagenende, von wo aus sie alles überblicken konnte: die gelangweilten Gesichter der Pendler, die tagaus, tagein dieselbe Strecke zur selben Zeit fuhren. Manchmal war es, als ob man ein Déjà-vu hätte.
Der junge Mann, der sie aufgefangen hatte, versuchte, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen, aber er war so gar nicht ihr Typ, sodass sie in die andere Richtung sah. Lina hatte mit ihren achtundzwanzig Jahren einige längere Beziehungen geführt. Die längste hatte drei Jahre gehalten, aber seit einem Jahr war sie solo und eigentlich nur dabei, Typen abzuwimmeln. Sogar von Doktor Herrmanns Annäherungsversuchen war sie nicht verschont geblieben. Nachdem sie ihm gegenüber konsequent freundlich, aber auch nicht mehr geblieben war, hatte er irgendwann kapiert, dass er bei ihr nicht landen konnte, trotz seines Hauses auf Ibiza, seiner Eigentumswohnung in der Hamburger Innenstadt und des Hauses außerhalb der Stadt, mit denen er gerne prahlte. Wenn es bei ihr nicht »klick« machte, konnte ein Mann ihr die ganze Welt zu Füßen legen, es interessierte sie nicht. Lina war über einen Meter siebzig groß, schlank und eine exotische Schönheit mit olivfarbener Haut, bernsteinbraunen mandelförmigen Augen und schwarzem Haar, das ihr knapp über die Hüfte reichte. Ihre südländische Herkunft konnte sie wahrlich nicht abstreiten.
Endlich, nach diversen unterirdischen Stationen, fand die Bahn ihren Weg ins Freie, wie bei einer Geburt, aus der Dunkelheit ins Licht. Nach vier Jahren kannte Lina jedes Haus, jeden Baum, jeden Strauch, jede Straße an der Strecke, sogar der Anblick mancher Wohnungen war stets derselbe. Sie fragte sich, ob sie in zwanzig Jahren immer noch dieses Leben führen, immer noch täglich mit dieser U-Bahn fahren würde. Kein besonders reizvoller Gedanke.
»Nächste Station Hudtwalckerstraße«, ertönte es monoton über ihr aus einem Lautsprecher. Sie griff nach ihrer Tasche und stand auf. Der junge Mann grinste sie jetzt an, doch Lina hielt sich an einer Stange fest und sah demonstrativ in die andere Richtung. Endlich hielt die Bahn, und die Türen sprangen mit einem Zischen auf. Insgesamt drei Leute stiegen mit ihr aus. Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich, die immer schneller wurden. Dann hielt jemand sie an der Jacke fest. Lina drehte sich um. Der junge Mann stand immer noch grinsend vor ihr, und bevor sie ihn zusammenstauchen konnte, hielt er ihr ihre Handschuhe entgegen, die sie in der U-Bahn vergessen hatte. Sie bedankte sich, und der junge Mann rannte zurück zur Bahn.
Du hast Paranoia, sagte sie sich und trat den letzten Teil ihres Heimwegs an. Vor zwei Wochen, als sie noch bei ihrer Mutter gewohnt hatte, war sie an der Kreuzung nach links gegangen. Jetzt ging sie stolz geradeaus weiter, ihrer neuen kleinen Wohnung entgegen. Immerhin eine Änderung in meinem Leben, dachte sie und freute sich, dass sie auf diesem Weg noch nicht jeden Fleck auf dem Bürgersteig kannte.
Nach einem zwanzigminütigen Fußmarsch stand sie endlich in ihrer kleinen Einbauküche und goss sich zur Entspannung einen Tee auf. Sie konnte nicht genug davon bekommen, sich in ihrer kleinen Wohnung umzusehen. Sie bestand aus einem relativ großen Zimmer mit einer Kochecke, einem Bad und einem winzigen Flur, in dem man sich gerade mal um sich selbst drehen konnte. Mit den eigenen vier Wänden hatte sie sich auch ihren Traum von einem Himmelbett erfüllt. Sie mochte es, im Schlaf über, neben, hinter und vor sich von Stoff umgeben zu sein. Es gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit.
An den Wänden hingen Bilder von Engeln, auf dem Nachttisch stand ein blauer Glasengel, der eine Kerze hielt. Auf einer Kommode waren diverse Engel aus weißem Porzellan aufgereiht, und im Bad bestand fast die ganze Ausstattung aus Engelsmotiven. Die Badematte hatte die Form eines Engels mit einer Harfe, auf den Duschvorhang waren pausbäckige Engelchen auf Wolken gedruckt, und auf dem Zahnputzbecher waren zwei sich liebende Engel zu sehen. Lina mochte Engel, das war unverkennbar.