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HAMBURG

In Hamburg hatte es sich mal wieder so richtig eingeregnet. Der Schnee war verschwunden, dafür goss es wie aus Eimern. Der Himmel war grau, ebenso wie die Straßen und Häuser. Alles schien ineinander überzugehen. Dazu wehte ein kalter Nordostwind, der bis unter die Haut ging. Sam und Juri waren noch am gleichen Tag zurück nach Hamburg gefahren und dort direkt vom Bahnhof zum Polizeipräsidium, um telefonisch ein paar Dinge zu klären.

Gemeinsam saßen sie unter der nackten Glühbirne in ihrem Büro, und während Juri das Aufnahmegerät abhörte, telefonierte Sam mit dem Bischofsamt in Freiburg, wo er einen freundlichen Sekretär erreichte. Dieser teilte ihm mit, dass man die Mönche aus dem Kloster in Günterstal auf mehrere Einrichtungen in ganz Deutschland verteilt habe. Wo genau sie untergebracht worden waren, könne er herausfinden, allerdings würde das einige Zeit in Anspruch nehmen. Über den ehemaligen Prior war der Mann jedoch im Bilde. Er war in ein Hospiz in der Nähe gebracht worden, weil er nach seinem Schlaganfall auf tägliche Pflege angewiesen war. Sam ließ sich die Nummer des Hospizes geben und wollte gerade wählen, als sein Handy klingelte. Er hörte zu, ohne ein Wort zu sagen. Dann legte er auf und steckte zitternd das Handy in seine Tasche. Er gab Juri ein paar Instruktionen, legte ihm die Nummer der Familie Ingelheim in Salzburg hin und eilte davon.

Er hatte gewusst, dass es ein Fehler gewesen war, sie mit nach Hamburg zu nehmen. Die ganze Fahrt über machte er sich bittere Vorwürfe.

Als Sam im Hotel ankam, sah ihn die Dame an der Rezeption eisig an, als wäre er ein Verbrecher. Sie rief den Manager, der Sam in den dritten Stock zu Lilys Zimmer begleitete.

»Es tut mir sehr leid, aber wir mussten heute Nacht die Polizei rufen. Als sie sie gesehen haben, haben sie Ihre Schwester direkt nach Ochsenzoll gebracht.«

»Ochsenzoll?«

»Na ja, in die Klapsmühle.«

Der Mann war nicht besonders taktvoll. Leichter Ärger stieg in Sam auf, als der Manager die Tür öffnete und Sam schlagartig das ganze Ausmaß des Vorfalls bewusst wurde.

»Sie werden verstehen, dass wir die Renovierung des Zimmers auf Ihre Rechnung setzen müssen«, sagte der Manager.

Von den Wänden starrten Sam verzerrte schwarze Fratzen an. Direkt über das Bett hatte Lily ein großes schwarzes Auge gemalt. In ihrer Vorstellung hatte es sie wahrscheinlich beobachtet.

»Wahrscheinlich war ihr Block voll«, meinte Sam trocken und begutachtete weitere Schäden im Zimmer.

»Finden Sie das etwa komisch?« Der Hotelmanager war sichtlich entrüstet und blieb dicht hinter Sam.

Auf dem Bett lag nur noch die nackte Matratze, auf der Teile eines Sternes zu erkennen waren, den Lily mit schwarzer Kohle gemalt hatte. Um das Bett herum standen etwa zwanzig weiße Kerzen. Wusste der Himmel, woher sie die hatte, aber einige davon waren umgefallen und wohl die Ursache für die großen Brandlöcher im Teppich. Offenbar hatte der Rauch die Sprinkleranlage ausgelöst, die den Teppich unter Wasser gesetzt hatte. Oder das Wasser kam aus der Badewanne, überlegte Sam, der inzwischen ins Bad gegangen war und sah, dass die Wanne bis zum Rand gefüllt war. Die gesamte Bettwäsche lag darin, und dunkle Haarsträhnen schwammen auf der Wasseroberfläche. Das Waschbecken war ebenfalls voller Haare, am Rand lag ein rosa Damenrasierer, daneben stand eine offene Dose Rasierschaum. Duschgel, Shampoo und Conditioner waren auf dem Boden ausgeschüttet worden und hatten die Fliesen in eine schmierige, glitschige Oberfläche verwandelt.

Beim Anblick der abgeschnittenen Haare bekam Sam eine Gänsehaut.

Der Hotelmanager folgte Sams Blick und sagte verächtlich: »Als man sie fand, saß sie nackt und kahl in der Ecke des Zimmers und wippte hin und her. Ich möchte ja nichts sagen, aber hätten Sie uns nicht vorher darüber informieren können, dass Ihre Schwester … na ja … krank ist?«

Sam ging nicht darauf ein und fragte: »Wohin, sagten Sie noch, hat man sie gebracht?«

»Nach Ochsenzoll.«

In der geschlossenen Abteilung in Ochsenzoll wollte man ihn nicht zu Lily lassen. Er durfte nur durch ein Fenster in der Tür in ihr Zimmer sehen. Dort lag sie auf dem Bett, wie ein gefällter Baum, festgebunden mit einem Gurt und offenbar ruhig gestellt mit Medikamenten. Es zerbrach ihm schier das Herz. Doktor Willfurth, der zuständige Arzt, klopfte ihm väterlich auf die Schulter. »Es ist nicht das erste Mal, stimmt’s?«

Sam wischte sich mit dem Handrücken eine Träne ab und drehte sich zu dem Arzt um, den er erst jetzt richtig wahrnahm. Er war relativ jung, höchstens vierzig, war etwa so groß wie Sam, hatte kurz geschnittenes braunes Haar und unauffällige graublaue Augen. Er hatte ein Klemmbrett unter dem Arm und betrachtete seine neue Patientin sorgenvoll durch das Fenster.

»Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie. Kommen Sie, wir gehen in mein Büro.«

Sam nickte stumm und sah an dem Arzt vorbei. Hinter Doktor Willfurth schlurfte eine Patientin den Gang entlang. Ihr Mund bewegte sich, als würde sie mit jemandem reden. Wie Sam diese Kliniken hasste.

Als sie in Doktor Willfurths Zimmer angekommen waren, bot der Arzt Sam einen Platz vor dem Schreibtisch an. »Erzählen Sie mir vom letzten Mal.«

Sam schilderte, wie er Lily vor gut zwei Monaten aus Thailand geholt hatte. Er ermittelte gerade in einem Fall in Frankfurt, als ihn ein Freund von Lily aus Thailand anrief und ihm erzählte, dass seine Schwester in einer psychiatrischen Klinik sei.

Lily war im Sommer 2007 zusammen mit Freunden nach Thailand geflogen. Sie hatte die Grafikschule in München geschmissen und sich entschieden, erst einmal eine Auszeit zu nehmen. Sie besuchten Tempel und Klöster, machten Wanderungen, genossen die Sonne und die Freundlichkeit der Thai. Lily schrieb begeisterte Postkarten an ihren Bruder. Alles schien in Ordnung. Dann erreichten sie eine kleine Insel, und dort begann es. Lily kaufte wahllos Schmuck, Schuhe und Klamotten, die sie anschließend verschenkte. Müll wie Plastikbecher, Steine, Papier, Draht, alles, was sie auf der Straße fand, sammelte sie und legte es auf die Veranda ihres Bungalows. Lilys Freunde sorgten sich langsam um sie. Dann begann Lily, mit Geistern zu reden und in klatschnassen Kleidern durch die Straßen zu gehen, und die Thai, die sich sehr vor Geistern fürchteten, liefen in Todesangst vor der seltsamen Europäerin davon. Lilys Freunde fuhren mit ihr in die nächste größere Stadt und brachten sie zu einem Arzt.

Als würde er neben sich stehen, hörte sich Sam selbst reden, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, was er da sagte. »Dann begann Lily mit Geistern zu reden …«

»Wie ging es weiter?«, unterbrach Doktor Willfurth seine Gedanken.

Sam überlegte einen Augenblick und nahm dann den Faden wieder auf: »Auf dem Flughafen in Bangkok hat sich dann alles etwas zugespitzt. Sie hat sich alle fünf Minuten umgezogen. Tuch an, Tuch aus, Hose an, Hose aus, Pulli an, Pulli aus. Dann hat sie sich mitten in der Abfertigungshalle auf den Fußboden gelegt und geschlafen. Kurz vor dem Start habe ich ihr Valium in den Saft getan, das mir der Arzt in der Klinik gegeben hatte. Da war sie erst einmal ruhig. Leider wurde sie nach fünf Stunden Flug wieder wach und wollte rauchen. Ich habe ihr die Zigaretten weggenommen. Da ist sie total ausgerastet. Hat ihre Tasche auf den Boden geworfen, geflucht, gegen den Vordersitz getreten, bis ich sie an den Stuhl gebunden habe und sie mich nur noch wüst beschimpfte. Sie können sich ja denken, wie die anderen Passagiere uns angestarrt haben.«

»Ein angenehmer Flug also.« Der Arzt sah Sam voller Mitleid an.

»So kann man es ausdrücken.« Sam schluckte. »Am Flughafen in München wurden wir von der Polizei erwartet. Da ich aber selbst Polizist bin, war es mir gestattet worden, sie selbst in die Klinik nach Semmerling zu bringen. Dort kam sie zur Ruhe. Ihr Arzt war ganz begeistert von ihren Fortschritten und hat mir vor ein paar Tagen erlaubt, sie aus der Klinik abzuholen.«

»Und warum sind Sie jetzt in Hamburg?«

»Ich arbeite gerade an einem Fall. Der Hauptverdächtige lebt hier in Hamburg. Und ich konnte Lily ja schlecht allein in München lassen.«

Sam sah mit leerem Blick vor sich hin. Er hatte es total vermasselt. Warum war er nur so naiv gewesen und hatte geglaubt, dass wieder alles von selbst in Ordnung kommen würde?

»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Damit konnte keiner rechnen. Keiner von uns kann in ihren Kopf hineinsehen. Und solche plötzlichen Rückfälle sind nicht ungewöhnlich. Wir behalten sie erst einmal hier. Hier in der Klinik ist sie unter ständiger Beobachtung, sie wird sich in diesem Zustand nichts antun können. Und in ein paar Tagen sieht alles vielleicht schon wieder ganz anders aus.«

Sam nickte wortlos. Dann verabschiedete er sich und trat auf den Gang hinaus. Dort geisterte noch immer die Patientin von vorher herum. Plötzlich drehte sie wie eine aufgezogene Puppe mit einem Ruck ihren Kopf zu Sam, sah ihm direkt in die Augen und öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Sam wich zurück und stolperte rückwärts gegen die Wand. Er hatte das Gefühl, in eine Fratze aus einem Horrorfilm zu schauen.

Die Beine angewinkelt, die Arme schlaff neben den Körper gelegt und den Kopf nach hinten an die Wand gelehnt, saß Sam etwas später in seinem Hotelzimmer auf dem Bett und beobachtete, wie die Regentropfen am Fenster herunterrollten. Manche Tropfen vereinten sich mit anderen. Dann wurden die Rinnsale dicker und schneller, jagten anderen nach, bis sie zusammen mit den anderen Tropfen die Pfütze auf dem Fenstersims erreichten. Ein besonders dicker Tropfen klatschte an die Scheibe, rann herunter und verschwand ebenfalls in der Pfütze. Im Nichts. Nichts war mehr übrig, dachte Sam trostlos. Sein Vater war tot, seine Mutter existierte für ihn nicht mehr, und Lily war in der Klapsmühle. Dieses Mal wohl für immer. Und Freunde? Freunde hatte er früher, an der Uni, gehabt. Doch dann fing er an zu arbeiten, stieg auf, und auf einmal hatte er nur noch Feinde und Neider um sich herum, und die sogenannten Freunde wurden immer weniger. Doch, einen Freund hatte er. Noch. Sam wählte die Nummer in der Schweiz und hoffte, dass er mit Argault reden konnte. Vielleicht besiegte er den Krebs doch, und sie würden wieder wie früher stundenlang Opern hören. Alles sollte sein wie früher. Als sich nach dem zehnten Klingeln keiner meldete, legte er auf.

Auf seinem Nachttisch lagen sein iPod und ein zusammengefalteter Zettel, den er sich im Büro schnell noch in die Tasche gesteckt hatte. Sam wählte die Nummer darauf, und schon nach dem zweiten Klingeln meldete sich eine Frauenstimme: »Hospiz zum Weg ins Licht, Schwester Angela.«

Sam stellte sich kurz vor und fragte nach Pater Paul. Doch Schwester Angela war erst seit etwa drei Jahren im Hospiz und konnte ihm keine Auskunft geben. Zumindest gab es dort heute keinen Pater Paul, das konnte sie ihm versichern. Sie bat ihn, später noch einmal anzurufen, wenn Schwester Maria Dienst hatte, sie sei seit Jahrzehnten im Hospiz und könne ihm sicherlich weiterhelfen.

Sam legte auf, stöpselte sich die Kopfhörer seines iPod in die Ohren und ließ sich von Plácido Domingo in die Welt der Oper entführen. Nur einen Moment, dachte Sam. Nichts denken, nichts fühlen. Doch um an nichts zu denken, hätte man ihn wohl bewusstlos schlagen müssen. Er konnte einfach nicht abschalten. Nach der ersten Arie zog er die Ohrstöpsel wieder aus den Ohren und ging ins Bad. Als er sich gerade Wasser ins Gesicht spritzte, klopfte es.

Sam trocknete sich schnell ab und öffnete die Tür. Vor ihm stand Juri mit einer großen braunen Tüte auf dem Arm.

»Abendessen! Dachte, du hast vielleicht Hunger.« Er schwenkte die Tüte vor Sams Gesicht und trat ein. »Nachdem du so fluchtartig das Büro verlassen hast, dachte ich, ich sehe mal nach dir. Ach ja, für morgen haben wir einen Termin bei einem Geschichtsprofessor. Der kann uns sicher was über Folter und diese Wasserprobe erzählen. Und dann hat noch mal der Typ aus dem Bischofsamt in Freiburg angerufen und mir erzählt, dass zwei von den Mönchen noch am Leben sind.«

Sam sah ihn erwartungsvoll an.

»Freu dich nicht zu früh. Der eine hat Alzheimer, und der andere liegt im Sterben.« Juri öffnete die weißen Styroporbehälter und reichte Sam eine weiße Plastikgabel. Der unverkennbare Duft von chinesischem Essen zog durch das kleine Zimmer.

»Hast du schon in dem Hospiz angerufen?«, fragte ihn Juri mit vollem Mund.

»Ja, aber ohne Erfolg. Ich versuche es später noch einmal. Hast du die Familie Ingelheim in Salzburg erreicht?«

»Ja. Frau Ingelheim war erst nicht sehr gesprächig. Erst als ich ihr versicherte, dass wir über die spiritistische Sitzung in ihrem Haus im Bilde seien, bestätigte sie, dass Pater Dominik der einzige Mann gewesen ist. Der Rest waren alles Frauen.« Juri schob sich eine weitere Gabel mit Reis und Schweinefleisch in den Mund und fragte etwas undeutlich: »Was war denn vorhin los?«

Sam sah kurz auf und zögerte. Dann erzählte er von Argault und dem Krebs, ohne Juri dabei anzusehen. Er log nicht gerne, aber er wollte einem Arbeitskollegen keine so persönlichen Dinge erzählen. Ganz abgesehen davon, wusste man nie, ob die Geschichte mit Lily nicht irgendwie gegen ihn verwendet werden konnte.

Nach dem Essen wählte Sam noch einmal die Nummer von dem Hospiz. Dieses Mal hatte er mehr Glück, denn nun hatte er Schwester Maria am Apparat.

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie mit leiser Stimme, nachdem Sam sich vorgestellt hatte.

»Ich hätte gerne ein paar Informationen über Pater Paul.«

»Ach, guter Mann, der ist doch schon lange tot. Er ist vor zwölf oder dreizehn Jahren gestorben.«

Sam sah zu Juri hinüber und zeigte mit dem Daumen nach unten. Noch eine Sackgasse. Aber hatten sie tatsächlich erwartet, dass ein alter Mann, der bereits einen Schlaganfall gehabt hatte, nach so vielen Jahren noch am Leben war?

»Wie ist er denn gestorben?«

»Hm … Lassen Sie mich kurz nachdenken … er bekam einen Herzanfall. Wir konnten ihm nicht mehr helfen.«

»Und wann genau war das?«

»Oh, das weiß ich nicht auswendig. Warten Sie einen Moment, ich sehe in den Akten nach.« Er hörte, wie sie den Hörer zur Seite legte und sich ihre Schritte entfernten. Nach einer Weile kam sie zurück.

»Hören Sie? Pater Paul ist in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober 1995 gestorben.«

»Wie lange war er bei Ihnen im Hospiz?«

»Ungefähr fünf Jahre. Er kam 1990. Eine lange Zeit, wenn man bedenkt, wie kurz viele andere hier sind, bis sie heim zu Gott gehen.«

»In der Tat. Ist in der Zeit, in der er bei Ihnen war, irgendetwas Ungewöhnliches passiert? Ist vielleicht eine Frau verschwunden?«

»Also, hören Sie mal! Was unterstellen Sie da einem Mann Gottes! Ganz abgesehen davon, konnte er sich kaum bewegen. Er saß im Rollstuhl.«

»Vielen Dank, Schwester Maria, Sie waren mir eine große Hilfe.« Sam legte auf.

Am anderen Ende der Leitung stand die Nonne noch einen Moment nachdenklich am Telefon, bevor auch sie auflegte. Ihr war gerade eingefallen, dass damals tatsächlich etwas Ungewöhnliches passiert war. Aber vielleicht war das gar nicht wichtig, und der Polizist hatte ja auch nur nach Pater Paul gefragt.