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Professor Klein, der leitende Arzt der Psychiatrischen Klinik Semmerling, war ein hochgewachsener, dünner Mann mit vollem grauen Haar und Nickelbrille. Er saß in einem dunkelbraunen Lederstuhl hinter einem großen Mahagonischreibtisch und sah Sam freundlich über einen Stapel grauer Pappordner hinweg an.

»Nun, Herr O’Connor, …«, er hüstelte etwas und steckte sich eine Tablette in den Mund, die er mit einem Schluck Wasser hinunterspülte. Sam rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her, während Professor Klein die Akten durchforstete.

»Ja, wo habe ich denn die Akte … ach ja, hier ist sie.«

Sam zwang sich, gelassen auszusehen, schlug die Beine übereinander, steckte die Hände in seine Hosentaschen und machte sich bereit für den nächsten Vortrag über Drogen und ihre Folgen. »Ihre Schwester hat große Fortschritte gemacht. Wir haben jetzt das Beruhigungsmittel Haldol abgesetzt. Sie ist ja, wie ich Ihnen schon sagte, in einer Therapiegruppe, in der sie lernen soll, ihre Gefühle auszudrücken und wieder Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu bekommen. Vor zwei Tagen gab es einen richtigen Durchbruch: Sie hat großes Interesse an der Maltherapie gezeigt. Sie hat richtig Talent. Ich denke, wenn ihr Zustand anhält, kann Lily bald wieder nach Hause. Wichtig ist dann, dass sie ihre Medikamente regelmäßig einnimmt und dass sie keiner Art von Stress oder anderweitigen Belastungen ausgesetzt wird. Das könnte zu einem sofortigen Rückfall führen.«

Sam war positiv überrascht und entspannte sich innerlich. »Kann ich sie sehen?«

»Aber natürlich.« Der Professor erhob sich, und Sam folgte ihm in einen langen Flur. An den Wänden hingen selbst gemalte Bilder – von Patienten, wie Sam vermutete.

»Ach, das hier ist übrigens von Lily.« Der Professor blieb vor einem in Orange-, Rot- und Gelbtönen gehaltenen Bild stehen. Erst auf den zweiten Blick konnte man ein Gesicht erkennen.

»Anfangs hat sie nur schwarze Fratzen gemalt. Eine sehr positive Veränderung also.«

Sie erreichten eine verglaste, grifflose Tür mit eingelassenem Gitternetz, die sich automatisch öffnete und hinter ihnen sofort wieder schloss. Sam kannte die ganze Prozedur bereits, wusste auch, dass er in zehn Minuten wieder draußen sein würde, und trotzdem hatte er plötzlich ein beklemmendes Gefühl in der Brust.

Der Gang führte einmal um den Block herum, sodass die Patienten im Kreis gehen konnten. Jetzt, kurz nach dem Mittagessen, waren die meisten glücklicherweise auf ihren Zimmern, und Sam musste nicht so tun, als wäre er unter geistig gesunden Menschen.

Der Professor blieb vor einer Zimmertür stehen, klopfte an und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Lily saß im Schneidersitz auf dem Bett und sah aus dem Fenster. Sie hatte eine graue Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt an, in dem sie noch dünner aussah, als sie ohnehin schon war. Sam schätzte, dass Lily mit ihren einsfünfundsechzig immer noch unter fünfzig Kilo wog. Ein perfektes Gewicht für einen Hollywoodstar, aber nicht für eine normale Frau. Ihre ehemals langen dunkelbraunen Haare waren auf Kinnlänge abgeschnitten, ihr Pony, kaum mehr als zwei Zentimeter lang, stand stoppelig nach oben. Wahrscheinlich hatte sie ihn selbst ohne Spiegel gekürzt. Aber auch das konnte ihrer natürlichen Schönheit nichts anhaben, fand Sam.

Als Lily ihren Bruder sah, sprang sie sofort auf und lief ihm in die Arme. Sie sagte nichts, und Sam spürte nur das leichte Zittern, das durch ihren Körper ging. Er sah den Professor an, der sofort verstand und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verließ.

»Sammy! Ich habe dich vermisst. Wo warst du so lange?«, schluchzte Lily in seinen Pullover. »Wie lange lässt du mich noch hier drin?«

Nur seine Schwester nannte ihn bei seinem Kosenamen Sammy. Er nahm ihr tränennasses Gesicht in beide Hände und sah in zwei große dunkelbraune Augen.

»Ich kann dir nichts versprechen, aber ich denke …«, er grinste übers ganze Gesicht, »wie wär’s, wenn ich dich bald abholen komme?«

Lily fiel ihm wie ein kleines Mädchen um den Hals. »Meinst du das ehrlich?«

»Ja, du musst nur weiterhin das tun, was sie von dir hier verlangen. Sei schön artig, sei ein braves Mädchen, und dann bist du bald draußen.«

»Versprochen?« Lily sah ihm wie die Schlange Kaa im Dschungelbuch tief in die Augen, und Sam antwortete wie hypnotisiert: »Ver-spro-chen.«

Dann lachten sie beide, und es war wie in alten Zeiten. Doch ein Blick auf das vergitterte Fenster holte Sam schnell wieder in die Realität zurück, und sein Lächeln verschwand.

»Was ist los mit dir?« Lily war trotz ihrer Krankheit äußerst sensibel, besonders was ihren Bruder anging, und merkte sofort, dass ihn etwas bedrückte.

»Ich arbeite viel. Ein neuer Fall, weißt du. Bisschen kompliziert.«

Er setzte sich aufs Bett, Lily lehnte sich gegen ihn und strich ihm übers Haar. Wie immer forderte sie ihn so ohne Worte auf zu erzählen, an was er gerade arbeitete.

»Ein Serientäter, der zwei Morde auf die gleiche Art und Weise begangen hat. Plötzlich aber hat er seinen modus operandi beim dritten geändert. Warum tut er das?«

Sam wollte Lily die Einzelheiten ersparen, die Verbrennungen und dass Birgit Eschberger geköpft worden war. Eigentlich dachte er nur laut.

»Stell dir vor, du hast drei gleich große Röhren und drei Kugeln, die du durch die Röhren laufen lässt. Wenn eine nicht durchgeht, bedeutet das doch, dass sie vielleicht anders ist. Die Form stimmt nicht, vielleicht hat sie Dellen oder ist zu groß«, sagte Lily.

»Ja, das ist logisch.« Sam dachte kurz über die Worte von Lily nach und wechselte dann das Thema. »Ich habe das Bild draußen von dir gesehen.«

»Ja, gefällt es dir? Hier, schau mal.« Lily holte einen Block unter dem Bett hervor und zeigte ihm weitere Zeichnungen, die Sam überschwänglich lobte. Dann war es auch schon wieder Zeit zu gehen.

Wie die letzten Male begleitete Lily ihn noch bis an die große Glastür, und als diese sich wieder hinter Sam schloss, blieb sie stehen und winkte ihm nach, bis er schließlich hinter einer weiteren Tür verschwand.

Lily hatte mehrere Häuser der Nervenheilanstalt durchlaufen. Aus der geschlossenen Abteilung, in der die nicht mehr Zurechnungsfähigen untergebracht waren und die durch einen großen Sicherheitszaun mit Stacheldraht von den anderen Häusern abgetrennt war, war sie inzwischen in die offene Abteilung verlegt worden.

Als er auf den Hof trat, blickte sich Sam noch einmal zu dem grauen Gebäude mit seinen vergitterten Fenstern um und hoffte inständig, dass er sein Versprechen einhalten konnte, Lily bald hier herauszuholen.

Er setzte sich in seinen Wagen, sah sich noch einmal im Autoatlas die Strecke München – Hamburg an und platzierte ihn griffbereit auf dem Beifahrersitz. Dann schloss er seinen iPod an das Radio an, klickte die Oper Turandot an, und mit dem ersten Ton, der aus den Lautsprechern erklang, brach er vom Parkplatz der Anstalt in Richtung Norden auf.