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HAMBURG

Sam war gegen Mittag in Hamburg gelandet. Die Turbulenzen hatten ihm dieses Mal den Rest gegeben. Nach einer Viertelstunde war sein Frühstück bereits wieder in der kleinen Kotztüte der Lufthansa gelandet, und er hatte sich geschworen, in der nächsten Zeit kein Flugzeug mehr zu besteigen. Am Flughafen mietete er sich einen Wagen mit Navigationssystem und holte sich anschließend die Akte des ungelösten Mordfalles von 2006 vom zuständigen Revier ab. Bedauerlicherweise war der Beamte, der den Fall damals bearbeitet hatte, krankgeschrieben und nicht erreichbar.

Also überflog er die Eckdaten in der Akte. Das Hamburger Opfer hieß Irene Geiger. Dem Foto nach zu urteilen war sie eine ziemlich attraktive Frau Ende vierzig, Anfang fünfzig gewesen. Die Krähenfüße um die wachen grün-braunen Augen zeigten Sam, dass sie kein Botox- oder Liftingopfer gewesen war, sondern eine der wenigen Frauen, die in Würde hatte altern wollen. Nach drei gescheiterten Ehen hatte sie 2004 den erfolgreichen Immobilienmakler Helmut Geiger geheiratet. Und diesem, beschloss Sam, würde er als Erstes einen Besuch abstatten.

Er fuhr die Elbchaussee entlang, die direkt neben dem Fluss verlief. Sam staunte über die stattlichen Villen und Herrenhäuser, die in großzügige Gärten oder kleine Parkanlagen eingebettet waren, und war gespannt, in welchem dieser Häuser Irene Geiger gelebt hatte.

Sam musste nicht lange warten, bis ihm das Navigationssystem meldete, dass er das Ziel erreicht hatte. Er stand vor einer großen weißen Villa, die eine kleinere Ausführung des Weißen Hauses in Washington zu sein schien. Das Tor stand offen, und so fuhr er knirschend über die Kieselsteinauffahrt und hielt direkt vor der doppelflügeligen Eingangstüre.

Sam klingelte und wartete eine halbe Minute, bis er den goldenen Klingelknopf noch einmal drückte. Er fragte sich gerade, ob die Klingel überhaupt funktionierte, und wollte das Haus schon von der Hinterseite in Augenschein nehmen, als er hörte, wie jemand im Inneren Richtung Tür schlurfte. Ein Riegel wurde zur Seite geschoben, und dann sah er durch den Spalt ein milchig blaues Auge, das ihn von oben bis unten musterte.

»Was wollen Sie?«

»Ich bin von der Polizei. Mein Name ist Sam O’Connor, und ich bearbeite den Fall von Irene Geiger. Sind Sie Helmut Geiger?«

»Sind Sie hier, um mir zu sagen, dass Sie den Täter von Irene gefunden haben?«

»Nein. Ich habe lediglich ein paar Fragen an Sie.«

»Das ist doch schon über zwei Jahre her«, sagte der Mann leicht gereizt. »Ich habe damals alles gesagt, was es zu sagen gab.«

Wie Sam der Akte entnommen hatte, war Helmut Geiger zunächst der Hauptverdächtige gewesen, aber ein hieb- und stichfestes Alibi hatte ihn gerettet: Er war mit seiner Geliebten in der Schweiz gewesen.

»Es gibt einen neuen Fall, der Parallelen zum Mord an Irene Geiger aufweist.«

Jetzt wurde die Tür langsam weiter geöffnet, und Sam stand vor einem etwas verwahrlosten alten Mann in Hausmantel und Pantoffeln. Sam konnte sich schwer vorstellen, dass Irene Geiger diesen Mann geliebt hatte und dass dieser neben seiner schönen Ehefrau auch noch eine Geliebte gehabt hatte.

Er folgte dem alten Mann durch eine Diele in ein etwa hundert Quadratmeter großes Wohnzimmer mit einer Fensterfront, vor der dunkelgrüne Gardinen hingen. Ein Knopfdruck, und die Gardinen setzten sich wie von Geisterhand in Bewegung und gaben den Blick auf einen märchenhaften Garten mit großen Steinstatuen und einem Teich frei. An der stuckverzierten hellgrün bemalten Decke hing ein großer Kronleuchter mit goldenen Engeln und Trompeten. In einem dunklen Mahagoniregal standen Hunderte kleiner Flugzeug- und Schiffsmodelle, die Sam staunend betrachtete.

»Die Sammlung stammt von meinem Großvater väterlicherseits. Das hier ist die USS Langley, ein ehemaliger Kohletransporter der Marine, den die Amis 1920 zu ihrem ersten Flugzeugträger umgebaut haben. Hier die USS Lexington und die USS Saratoga, auch sie wurden umgebaut. Hier, sehen Sie den Unterschied zwischen den Rümpfen? Sie stammen von Schlachtkreuzern. Der einzige deutsche Flugzeugträger … na, wo ist er denn?« Der Kopf von Helmut Geiger verschwand im Regal auf der Suche nach seinem Flugzeugträger – die Gelegenheit, dachte Sam, den Mann in seinem Redefluss zu unterbrechen.

»Herr Geiger, könnten wir uns vielleicht setzen?«

»Ich frage mich, warum ein Amerikaner mit dem Fall betraut ist?«, fragte Helmut Geiger in das Regal hinein, ohne sich zu Sam umzudrehen.

»Mein Vater war Amerikaner, daher der Name.«

»Ah, da ist er ja.«

Endlich hatte Geiger das gesuchte Schiffchen gefunden und streckte es Sam entgegen.

»Die Graf Zeppelin, kam nie zum Einsatz. 262,5 Meter lang, 36,2 Meter breit und eine Wasserverdrängung von 33 550 Tonnen. 200 000 PS Turbinenantrieb, die eine Geschwindigkeit von 34 Knoten ermöglichten. 1 720 Mann Besatzung, 78 Geschütze und 43 Flugzeuge.«

Sam fühlte, wie Verzweiflung, gepaart mit leichter Wut, in ihm aufstieg. »Herr Geiger …«

»Kommen Sie mit in die Küche, ich wollte mir sowieso gerade einen Kaffee machen.« Geiger stellte das Modell sorgfältig zurück auf seinen Platz und schlurfte gefolgt von Sam in die Küche.

Sam war überrascht, dass ein vermögender Mann wie Geiger keine Hausangestellten hatte und den Kaffee selbst machte. Wahrscheinlich liefen die Geschäfte nicht gut, waren nicht die Immobilienpreise in den letzten Jahren rapide gesunken?

Nachdem Sam am Küchentisch Platz genommen hatte, holte er seinen Notizblock und einen Stift heraus und beobachtete Geiger, wie dieser nach altertümlicher Methode den Kaffee zubereitete und aus einem Wasserkessel heißes Wasser in einen Kaffeefilter goss. »Sind Sie wieder verheiratet?«, fragte er beiläufig.

»Ist das für den anderen Fall von Bedeutung?«

»Nein.«

»Na also. Was für Parallelen führen Sie denn zu mir?«

Geiger hatte zwei Tassen, Zucker und Milch auf den Tisch gestellt und sah Sam fragend an.

»Die Frau wurde auch angezündet. Ihre Frau hatte man ja an einen Baum gebunden, die andere an einen Laternenpfahl.«

»Mehr haben Sie nicht?« Geiger schenkte sich und Sam Kaffee aus einer alten roten Thermoskanne ein und gab drei Zuckerstücke in seine Tasse. Dann rührte er seinen Kaffee um.

»Deshalb bin ich hier, um eventuell mehr zu finden.«

»Tja, ich glaube, da kann ich Ihnen nicht helfen.«

»Warum sind Sie sich da so sicher? Wissen Sie, ich frage mich, warum Sie nach nur zwei Jahren Ehe mit Irene schon eine Affäre hatten.«

»Ist es ein Verbrechen, eine Affäre zu haben?«

Sam kam bei diesem Typen einfach nicht weiter, und er musste sich beherrschen, um nicht auf den Tisch zu hauen. Er hatte gehofft, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, doch das konnte er sich ganz offensichtlich abschminken. Geiger rührte immer noch in seinem Kaffee herum. Machte seine Anwesenheit den alten Mann doch etwas nervöser, als es auf den ersten Blick schien? Was gab es hier zu verbergen?

»Was hat Irene Geiger gemacht, außer dass sie mit Ihnen verheiratet war?«

»Wie meinen Sie das?« Geiger verlor ein bisschen von seiner Sicherheit. Endlich, dachte Sam. »Was hatte sie für Hobbys? Wen hat sie getroffen? Hatte sie vielleicht auch eine Affäre?«, fragte er weiter und beobachtete dabei sein Gegenüber wie ein Löwe, der seine Beute im Visier hat.

»Woher soll ich das wissen?«

»Sie hat doch hier mit Ihnen gemeinsam gelebt, oder etwa nicht?«

»Nur am Wochenende.«

Abrupt hörte Geiger auf, in seiner Tasse herumzurühren. Das war der Moment, in dem der Löwe lossprintete.

»Wie soll ich das verstehen? Wo war sie denn während der Woche?«

Sam konnte förmlich sehen, wie das Räderwerk in Geigers Kopf anfing zu arbeiten. »Sie hatte ihre eigene Wohnung. Sie wollte sich immer noch ein bisschen Freiheit erhalten. Am Wochenende hat sie dann hier den Luxus und mein Geld genossen«, fügte er schnippisch hinzu. Plötzlich zuckte Geiger zusammen und sah erschrocken zur Tür. Sam drehte sich um. Hinter ihm stand eine Frau in einem braun karierten Mantel von Burberry, einer schwarzen Hose und schwarzen Lackschuhen. Die ganze Küche roch plötzlich nicht mehr nach frischem Kaffee, sondern nach Haarspray. Sam schätzte sie auf Ende vierzig. Ihre blond gefärbten Haare waren kurz geschnitten und frisch toupiert.

»Besuch?« Sie sagte das so erstaunt, als gäbe es in diesem Haus sonst nie Besuch. Die Einkaufstüten, die sie in der Hand hielt, stellte sie neben den Küchenschrank auf den Fußboden und sah abwechselnd von Geiger zu Sam.

»Es geht um Irene. Sie prüfen den Fall noch einmal«, sagte Geiger schnell.

»Ach«, meinte die Frau sichtlich überrascht.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, fragte Sam höflich.

»Gina Geiger. Ich bin die neue Frau von Helmut«, fügte sie leiser hinzu.

Sam nickte nachdenklich, während Geigers Kaffeelöffel in die nächste Runde ging. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihm hier irgendetwas verheimlicht wurde. Dann erinnerte er sich an den Namen. Den Namen, den er in der Akte gelesen hatte.

»Warum ziehst du dir nicht etwas an? Ich werde den Besuch nach draußen begleiten, Helmut.« Gina Geiger war hinter den Stuhl ihres Mannes getreten und half ihm auf. Geiger erhob sich mürrisch und verließ schlurfend die Küche.

»Sind Sie Regina Sauer, seine Affäre von damals?« Sam ließ es jetzt darauf ankommen.

Die Frau sah ihn traurig an, dann sagte sie leise: »Ja. Ich habe noch heute ein schlechtes Gewissen. Sie war meine beste Freundin. Sie hatte alles kommen sehen.«

»Wie meinen Sie das, sie hatte alles kommen sehen?«

»Irene war etwas Besonderes. Sie …«

»Gina!« Geiger stand wieder in der Tür, immer noch in seinem Morgenmantel. Er hatte gelauscht. »Ich denke, ich begleite den Herrn nach draußen«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Gina Geiger verstummte und fing an, die Einkaufstüten auszupacken.

Sam erhob sich und wurde ohne ein weiteres Wort nach draußen eskortiert. Höflich, aber bestimmt.

Im Auto sah er sich die Akte erneut an. Regina Sauer war zum Zeitpunkt der Tat mit Helmut Geiger in der Schweiz gewesen. Sie kamen also beide persönlich für den Mord nicht infrage. Aber was hatte Gina Geiger damit gemeint, dass Irene etwas Besonderes war, und was hatte diese kommen sehen?