Den Morgen wollte Sam mit seiner Schwester Lily verbringen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er sie in den letzten beiden Tagen so lange allein gelassen hatte, aber er durfte die Ermittlungen nicht vernachlässigen. Seine Arbeit hatte nun mal Priorität, und beim nächsten Gespräch mit Peter Brenner musste er etwas mehr haben als nur einen Verdacht.
Nach dem Frühstück sah sich Sam in Lilys Zimmer ihre Zeichnungen an. Sie hatte in den letzten beiden Tagen viel gemalt, um sich die Zeit im Hotel zu vertreiben. Sam ging den Block durch und sah ein schwarzes Gesicht nach dem anderen. Schwarze halbe Gesichter, schwarze große Augen, schwarze aufgerissene Münder. Sam war irritiert, und ihm wurde plötzlich heiß und kalt zur gleichen Zeit. Es war kein einziges farbenfrohes Bild dabei. Hatte Lily ihre Medikamente genommen? Bekam sie etwa einen Rückfall? Er ging unter dem Vorwand, sich die Hände waschen zu wollen, in ihr Badezimmer, schloss die Tür hinter sich und durchsuchte vorsichtig ihr Reisenecessaire, bis er eine angebrochene Packung Tabletten fand. Er zählte sie und rechnete nach. Es kam hin, sie schien ihre Medikamente jeden Tag zu nehmen. Er atmete erleichtert aus. Dann wusch er sich die Hände und plätscherte dabei demonstrativ laut mit dem Wasser.
Als er aus dem Bad kam, fragte Lily ihn: »Sammy, glaubst du, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht?«
Wieder dieses Thema, dachte Sam. Der Tod, der Lily stets zu beschäftigen schien. Sie konnte stundenlang über Friedhöfe gehen und sich die Grabsteine mit den Geburts- und Todesdaten ansehen. Und sie war fest davon überzeugt, dass es eine Bedeutung hatte, wenn jemand am gleichen Tag starb, an dem er geboren worden war. Sam dagegen machte sich weniger Gedanken über den Tod und glaubte, anders als seine Schwester, nicht an Wiedergeburt oder etwas Ähnliches. Er sagte nüchtern: »Ich glaube, danach ist alles vorbei, Lily. Der Tod ist das Ende.«
»Ich glaube, es ist erst der Anfang, Sammy«, entgegnete Lily müde.
Seitdem er den Pfarrer verhört hatte, schwirrte Sam eine Frage im Kopf herum, wie eine Fliege, die in einem Glas gefangen war und den Weg nach draußen suchte.
»Lily … ich würde dich gerne etwas fragen.«
Lily lag zusammengerollt auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen. »Hm?«
»Hast du mal bei einer spiritistischen Sitzung mitgemacht, also … mit Geistern gesprochen oder es versucht?«
Lily öffnete leicht die Augen, sah Sam einen Augenblick an und schloss sie wieder.
»Können wir später darüber reden, Sammy?« Lily war kaum noch zu hören, so leise sprach sie.
»Ja, klar«, erwiderte Sam und bemühte sich, nicht allzu enttäuscht zu klingen.
»Ich bin so müde, ich glaube, ich schlaf noch ein Stündchen«, murmelte sie in das Kissen..
Es war, als hätte man bei Lily den Stecker herausgezogen. Erst war sie munter, fast aufgedreht, und von einer Minute auf die andere baute sie ab und schlief plötzlich ein. Sam glaubte, dass das von den starken Tabletten kam, die Lily gegen ihre Psychosen nahm. Ob sie sie wohl wirklich den Rest ihres Lebens nehmen musste, wie Professor Klein gesagt hatte? In seinem tiefsten Inneren zweifelte Sam noch immer an der Diagnose des Arztes, dass Lily unheilbar krank war. Aber vielleicht sträubte er sich auch nur einmal wieder, etwas zu akzeptieren, was er nicht ändern konnte. Er fegte die unangenehmen Gedanken beiseite und fragte betont munter: »Wollen wir heute Abend nicht mal essen gehen?« Vielleicht würde es Lily ganz guttun, mal aus dem Hotelzimmer zu kommen und unter Leute zu gehen.
Schläfrig erwiderte Lily: »Ich fühle mich zurzeit nicht so wohl unter Menschen, bitte versteh das, Sammy. Aber das soll dich nicht abhalten, essen zu gehen. Und wenn was ist, ich hab ja deine Handynummer.«
»Na schön, Schwesterchen, ich fahre schnell ins Präsidium, check die Lage und bin bald wieder da, okay?«
Lily antwortete mit einem Lächeln, ohne die Augen zu öffnen. Wie immer küsste Sam sie zum Abschied auf die Stirn und schloss dann leise die Tür hinter sich. Noch auf dem Flur wählte er die Nummer von Professor Klein, erreichte aber nur dessen Mailbox. Als er auflegte, stellte er fest, dass er, während er telefoniert hatte, einen Anruf von Juri verpasst hatte. Auf dem Weg ins Präsidium versuchte Sam, ihn zu erreichen, doch nun sprang auch bei seinem neuen Assistenten nur die Mailbox an. Es schien irgendwie nicht sein Tag zu sein.
Als Sam das Büro betrat, schaltete er das Licht an, denn in seine kleine Kammer drang nur spärlich Tageslicht. Er zog gerade seinen Ledermantel aus, als sein Handy klingelte. »Ja. Sam O’Connor hier.«
»Ich hab vorher schon versucht, dich zu erreichen, aber da war besetzt. Ich bin schon auf dem Weg zu dir. Ich hab vielleicht was gefunden, was uns weiterbringt. Bis gleich«, tönte Juris aufgeregte Stimme an sein Ohr.
»Okay«, sagte Sam, »da bin ich ja mal gespannt.« Dann legte er auf und ging zu dem kleinen Heizofen, den man ihm gnädigerweise zur Verfügung gestellt hatte. Er drehte ihn voll auf. Sparen war ja gut, aber nicht auf seine Kosten.
Wenige Minuten später war Juri bei ihm.
»Ich habe in ViCLAS mal nach Kirchen, verschwundenen Frauen und Bränden gesucht. Brände gab es an die Tausend, hier ist die Liste.«
»Ja, die habe ich auch schon, aber die ist so lang, dass ich gar nicht weiß, ob es Sinn macht, sie systematisch durchzusehen.«
»Aber guck mal hier, wenn man ›Kirche‹ und ›verschwundene Frauen‹ eingibt, spuckt der Rechner das hier aus.«
Sam sah sich den Computerausdruck an, zog die Augenbraue hoch und sagte: »Das ist ja interessant.«