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ROM

Pünktlich um vier landete die Lufthansa-Maschine 743 auf dem Aeroporto internazionale Leonardo da Vinci in Rom.

Peter Brenner, ehemals beim BKA tätig, leitete seit drei Jahren eine damals neu ins Leben gerufene Abteilung bei Europol, die sich ausschließlich mit grenzüberschreitenden Mordfällen befasste. Er wartete bereits ungeduldig mit einem Schild in der Hand, auf dem, mit grünem Marker geschrieben, »Sam O’Connor« stand. Peter Brenner war mindestens einen Meter neunzig groß, dünn und schmalschultrig mit einer rot leuchtenden hohen Stirn, die wie die Spitze eines Leuchtturms aus der Menge der wartenden Italiener ragte.

Direkt vor der Ankunftshalle stand eine schwarze Limousine. Ein Chauffeur hielt den beiden Beamten die hintere Wagentür auf, und Brenner wartete, bis Sam auf den beigefarbenen Ledersitzen durchgerutscht war, um neben ihm Platz zu nehmen.

Nachdem sich der schwere Wagen in Bewegung gesetzt und Sam es sich auf der Rückbank einigermaßen bequem gemacht hatte, zog Brenner auch schon eine Akte aus seiner ledernen Tasche hervor.

»Wie war der Flug?«

»Gut. Danke«, antwortete Sam knapp. Brenner gingen seine Flugangst und der damit für ihn verbundene psychische Stress nichts an.

»Hier, sehen Sie sich das an.« Sam nahm die Akte und öffnete sie. Auf die Innenseite der Mappe waren Fotos von einer Leiche und einem Tatort geheftet. Eine Hinrichtung, war Sams erster Eindruck.

»Die Polizei fand sie auf einem öffentlichen Platz mitten in Rom. Wie Sie sehen, war die Leiche nackt und halb verbrannt. Dass sie nicht ganz verbrannt ist, muss wohl an dem Regenschauer in der Nacht gelegen haben. Na ja, trotzdem konnte sie das auch nicht retten.«

»Wann war das?«

»Vor drei Monaten, im Oktober letzten Jahres.«

»Zeugen?«

»Keiner hat was gesehen oder gehört. Erst später haben Anwohner etwas gerochen und die Polizei verständigt.«

Sam hatte nichts anderes erwartet. Wie so oft hatte niemand etwas bemerkt.

»Ich habe die ViCLAS-Datenbank mit den Daten gefüttert und einen ähnlichen Fall aus dem Jahr 2006 in Hamburg gefunden. Auch hier wurde eine Frau verbrannt. Ob es sich um denselben Täter handelt, ist fraglich, aber wir beziehungsweise Sie sollten das überprüfen. Ich habe die Akte bereits angefordert. Sie steht Ihnen schnellstmöglich zur Verfügung.«

»Sie meinen, wir haben es mit einem Serientäter zu tun?«

»Ich will es zumindest ausschließen. Die Akte liegt auf dem zuständigen Revier für Sie bereit. Der Flug nach Hamburg geht morgen Vormittag.«

Sam war begeistert: zwei Flüge in zwei Tagen. Er sah wieder auf die Papiere auf seinem Schoß. Zwischen dem Mord in Hamburg und dem Fall hier in Rom lagen zwei Jahre. Sollte es sich tatsächlich um ein und denselben Täter handeln, konnte er davon ausgehen, auf weitere Fälle zu stoßen. Er rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte er.

»Wir treffen uns erst einmal mit dem zuständigen Beamten, der hier den Fall bearbeitet hat, dann entscheiden Sie, wie Sie weiter vorgehen wollen.«

Als die Limousine vor dem Gebäude der Polizia di Stato hielt, hatte Sam so gut wie gar nichts von der Stadt gesehen. Er wusste nur, dass er irgendwo in Rom war.

Wenn man an Rom und seine Architektur denkt, hat man alte Bauwerke mit dorischen Säulen und Steinfresken vor Augen. Das Gebäude der italienischen Staatspolizei hatte damit rein gar nichts zu tun. Es war ein ockerfarben gestrichener Neubau und versprühte so wenig architektonischen Charme wie ein Maulwurfshügel.

Brenner schob Sam an der Anmeldung vorbei, die Treppen nach oben, einen langen, nicht enden wollenden Flur entlang. Links und rechts gingen alle drei Meter Türen ab, die allesamt geschlossen waren. Kein Hinweis darauf, was sich dahinter verbarg. Die Wände waren weiß, und die Deckenbeleuchtung bestand aus Neonröhren. Wäre da nicht der graue Teppich gewesen, hätte man denken können, in einem Krankenhaus zu sein.

Der Flur machte einen Knick nach rechts und endete in einer Sackgasse vor einer weiteren nichtssagenden Tür. Brenner klopfte leise an.

Vor den beiden Männern stand plötzlich eine rassige blonde Italienerin, die eher auf die Titelseite des GQ-Männermagazins gepasst hätte als in ein kleines, stickiges Büro der italienischen Staatspolizei.

»Darf ich vorstellen, Nina Vigna von der Mordkommission, Sam O’Connor, unser Sachverständiger, Tatortanalytiker und Profiler.« Nina reichte Sam eine perfekt manikürte, schmale Hand, und Sam bemerkte zu seinem Erstaunen, dass ihr Händedruck wider Erwarten kräftig war. Nina nickte Brenner zur Begrüßung nur zu, offensichtlich hatten sie heute schon das Vergnügen gehabt, und bewegte ihre kurvige Figur auf einen abgenutzten Schreibtisch zu, hinter dem sie anmutig Platz nahm.

»Setzen Sie sich bitte, Signori.« Sie wies auf zwei Plastikstühle vor dem Schreibtisch und öffnete dann eine Akte.

»Allora, dieser Fall ist sehr difficile … ja, schwierig. Wir kommen nicht weiter. Es gab noch nie so etwas terrificante in Italia …«

»Wenn man von den Mafiamorden absieht, vielleicht«, warf Sam ein und erntete einen bitterbösen Blick aus Ninas tiefschwarzen Augen. Dann fuhr die Polizistin ungerührt fort.

»… was mich vermuten ließ, dass der Täter nicht von hier ist, und deshalb bat ich meinen Mann, bei Signore Brenner für mich anzurufen.« Sie lächelte Brenner an, und der lächelte zurück.

»Ja, richtig. Wir haben gestern miteinander telefoniert. Ich kenne Ihren Mann noch aus BKA-Zeiten.« Brenner zog ein Stofftaschentuch mit den Initialen P. B. aus seiner grauen Anzughose und wischte sich eine Schweißperle von der inzwischen nicht mehr leuchtend roten, sondern blassrosa mit bräunlichen Pigmentflecken gesprenkelten Stirn. Sam wunderte sich, dass Brenner schwitzte, denn warm war es weiß Gott nicht in dieser kleinen Abstellkammer.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mir zunächst einmal gerne den Tatort ansehen, Signora Vigna, und zwar ungefähr zu der Zeit, als der Täter das Opfer dort angezündet hat. Außerdem möchte ich die Wohnung des Opfers sehen.«

»Tut mir leid, aber die Wohnung ist wieder vermietet. Sie hatte keine Verwandten, außer einer Mutter in einem Heim. Die Piazza anzusehen ist kein Problem. Was halten Sie von einem Rendezvous heute Nacht um eins mit mir? Ich komme zu Ihnen ins Hotel.«

Sam schmunzelte, und Brenner, der sich gerade übers ganze Gesicht wischte, hielt sich sein Taschentuch vor den Mund und gab ein undefinierbares Geräusch von sich, das ein Hüsteln oder Glucksen sein konnte.

Nina Vigna sah von einem zum anderen.

»Ist mein Deutsch sehr schlecht?«

Wie aus einem Munde antworteten die beiden Männer: »Nein. Es ist hervorragend.«

Sie erhob sich von ihrem Stuhl, zog den Rock, der ihre schlanken Oberschenkel bedecken sollte, aber im Sitzen hochgerutscht war, wieder nach unten und schüttelte zuerst Brenner und dann Sam zum Abschied die Hand. Dabei sah sie ihnen nicht eine Sekunde zu lang in die Augen, und Sam verstand, dass sich diese Frau nur mit absolut kühler Professionalität ihre Kollegen vom Halse halten konnte. Zweifellos wusste sie genau, welchen Reiz sie auf das andere Geschlecht ausübte, und Sam war sich ziemlich sicher, dass sie immer bekam, was sie wollte. Er wandte sich Brenner zu, wies mit der Hand auf die Tür, um Brenner den Vortritt zu lassen, und verließ dann hinter ihm das kleine Büro der GQ-Kandidatin Nina Vigna.