Sam musste erst über einen schwarz gesprenkelten Haufen Schneematsch springen, der sich am Bordsteinrand auftürmte, um in das Taxi einsteigen zu können. Im Inneren war es warm und roch nach abgestandenem Schweiß, was in ihm eine leichte Übelkeit aufsteigen ließ. Er öffnete trotz der eisigen Kälte draußen das Fenster einen Spaltbreit und sah in die Augen des dunkelhäutigen Fahrers, der ihn im Rückspiegel beobachtete und darauf wartete, dass ihm sein Fahrgast das Ziel nannte.
»Zum Flughafen bitte.«
Der Taxifahrer gab Gas, und der Matsch spritzte unter den anfahrenden Reifen auf die parkenden Autos.
Durch den Spalt atmete Sam die frische Luft ein, holte sein Handy aus der Tasche und suchte unter den gespeicherten Nummern den Eintrag »privat Prof. Klein«. Er wählte, das Freizeichen ertönte, und eine tiefe angenehme Stimme meldete sich.
»Klein.«
»Professor, hier spricht Sam O’Connor.«
»Oh, Herr O’Connor.« Eine Pause entstand, und Sam brach vor Schreck der Schweiß aus.
»Nun, was soll ich sagen? Ihrer Schwester Lily geht es den Umständen entsprechend. Wie ich bereits bei der Einlieferung sagte: Schizophrenie ist eine weitverbreitete Krankheit. Die Ursachen können genetisch-biologischer und psychosozialer Natur sein, die in einem Wechselspiel zueinander stehen. Viren wie der Herpes simplex, ja sogar eine Influenza können Psychosen auslösen. Genauso wie Komplikationen bei der Geburt, Sauerstoffmangel, belastende Lebensereignisse wie ein Todesfall oder der Auszug aus dem Elternhaus – und Drogenkonsum. Wissen Sie, ob Ihre Schwester Drogen genommen hat? Hat sie zum Beispiel Haschisch geraucht?«
Sam fühlte sich ein wenig überrumpelt. Er hatte im Moment überhaupt keine Lust auf diese Art von Gespräch. »Ich weiß nicht, ob das jetzt der richtige …«
»Der Cannabiswirkstoff THC kann bei Menschen mit genetischer Disposition nach dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell durch nachteilige Beeinflussung der Transmittersysteme zum Beispiel im Hippocampus eine Schizophrenie auslösen. Aber es gibt auch Schizophrenie-Patienten, die häufig Ecstasy-Pillen oder andere chemische Drogen genommen haben. Hat Lily vielleicht Ecstasy genommen? Sie sind doch bei der Polizei, oder nicht?«
»Ich bin bei der Mordkommission, nicht bei der Drogenfahndung, Professor. Und ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, dass ich für unbestimmte Zeit beruflich unterwegs bin, Sie mich aber jederzeit unter meiner Handynummer erreichen können.«
»Ihre Schwester ist bei uns in den besten Händen. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr O’Connor.«
»Ich melde mich, sobald ich wieder in München bin.«
Er beendete das Gespräch und sah aus dem Fenster, ohne wirklich etwas wahrzunehmen.
Ja, natürlich hatte Lily Drogen genommen, wer hatte das nicht in den Neunzigerjahren, der Hochzeit der Drogen? Aber musste er das nun vor dem Taxifahrer besprechen? Musste er überhaupt irgendwelche Informationen über ihr Privatleben preisgeben, wenn die unumstößliche Diagnose sowieso »unheilbar« lautete? Er hasste es, wenn ihm der Professor jedes Mal wieder medizinische Vorträge hielt und ganz nebenbei fragte, ob Lily Drogen genommen hatte.
Sam lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. In ihm stiegen grauenvolle Bilder aus der Erinnerung auf. Lily spindeldürr, zusammengekauert unter dem Waschbecken sitzend. So hatte er sie vor zwei Monaten aus der Suratthani-Klinik in Thailand abgeholt.
Er machte die Augen wieder auf und holte seinen iPod mit den ewig verknoteten Kopfhörern heraus, entwirrte sie und wählte Pavarottis Una furtiva lagrima. Er drehte die Musik auf volle Lautstärke, um für einen Moment der Realität zu entfliehen.
Auf Bahnhöfen oder Flughäfen zu sitzen und zu warten war für Sam ein Gräuel. Warten war für ihn verlorene Zeit, die man anderweitig so viel sinnvoller hätte nutzen können. Er betrachtete die Menschen um sich herum, die wie er auf den Flug nach Rom warten mussten und sich auf die unterschiedlichste Weise die Zeit vertrieben. Sein Blick blieb am Hut eines älteren Mannes hängen, der mit dem Rücken zu ihm saß und ihn an einen guten alten Freund erinnerte. Vor vier Jahren hatte er mit seinem etwa fünfzehn Jahre älteren französischen Kollegen Phillippe Argault an einem Fall gearbeitet, der international Schlagzeilen gemacht hatte. Sie hatten fast ein Jahr gebraucht, um einen Pädophilen zu stellen, der Kinder vor laufender Kamera wie Vieh ausgeweidet hatte. Ihm auf die Schliche zu kommen war deshalb so schwierig gewesen, weil die Kinder aus deutschen Kliniken entführt, die kleinen Leichen aber in Frankreich gefunden worden waren. Der Mann hatte wie viele andere Verbrecher die offenen Grenzen der Europäischen Union für sich genutzt. Deshalb hatte man in den Neunzigerjahren Europol gegründet und war dort für jeden mehrsprachigen Beamten dankbar. Sam sprach vier Sprachen fließend, Englisch, Spanisch, Deutsch und Französisch, und gehörte zu den drei ersten deutschen Tatortanalytikern, die 1995 vom Dezernat 11 des Münchner Polizeipräsidiums nach Wien zur Ausbildung geschickt worden waren. Inzwischen wurde er als Sachverständiger europaweit gerne bei ungelösten Fällen hinzugezogen.
Er überlegte, wie lange er nicht mehr mit Argault gesprochen hatte. Waren es zwei oder sogar drei Monate? Sam hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, aber er war als Einzelgänger nun einmal miserabel, wenn es darum ging, Kontakte zu pflegen.
Er sah auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zum Abflug. Er suchte in der Kontaktliste seines Handys den Namen Argault.
»Allô?«, meldete sich eine raue Stimme.
»Phillippe, hier ist Sam.«
»Oh, schön von dir zu hören. Ich meine, persönlich.« Phillippe lachte. »Mon Dieu, dein Ruf eilt dir mal wieder voraus.«
»Wusste nicht, dass die Geschichte schon zu dir durchgedrungen ist.« Sam atmete lautlos aus.
»Du weißt doch, die Welt ist klein, und schlechte Nachrichten verbreiten sich schneller als der Schiss einer Möwe, der aus zwanzig Metern auf deinem Haupt landet. Aber du bist ja bekannt dafür, dass du auf Kriegsfuß mit der katholischen Kirche stehst.« Ein heiseres Lachen, abgelöst von einem rollenden Husten, drang an Sams Ohr. Er wartete, bis Argault sich beruhigt hatte, und wechselte schnell das Thema. Er war nicht stolz darauf, dass er sich, wenn man ihn besonders reizte, manchmal nicht unter Kontrolle hatte, und wollte darüber jetzt nicht sprechen. Seine Strafe hatte er bereits erhalten. Sie hatten ihn von dem Fall abgezogen – was ihn allerdings nicht sonderlich störte –, und damit war für ihn die Sache erledigt.
»Ich bin auf einen neuen Fall angesetzt worden. Aber wie sieht es mit dir aus? An was arbeitest du zurzeit?«
»Ich bin in Rente gegangen.«
Argault ist gerade mal Ende fünfzig, schoss es Sam durch den Kopf. »Ist es dafür nicht etwas zu früh?«
»Man kann sich nie früh genug mehr seiner Frau und seinen Rosenbeeten widmen. Ich habe fast vierzig Jahre für die französische Mordkommission gearbeitet. Jetzt ist mein Privatleben dran. Du solltest dir auch etwas fürs Herz suchen, Sam. L’amour ist wichtig für die Seele, sie hält dich jung und am Leben.«
»Ihr Franzosen und die Liebe!« Sam lachte, denn Argault war ein unverbesserlicher Romantiker. Er hatte seine Frau vor dreißig Jahren kennengelernt und vergötterte sie heute noch wie damals. Das kannte Sam aus seinem schnelllebigen Umfeld nicht. In seinem Bekanntenkreis heiratete kaum noch einer, Beziehungen hielten maximal drei Jahre, dann war der erste Flash vorbei, und man suchte sich was Neues. »Phillippe, ich muss los. Grüß Claudette von mir.«
Die Durchsage, dass die Maschine nach Rom zum Einsteigen bereit war, knisterte durch die Lautsprecher und ließ Sam spüren, dass er einen ziemlich nervösen Magen hatte.
Dann schaltete er sein Handy aus, setzte seine Sonnenbrille auf und stieg in das Flugzeug nach Rom.