1990

Nachdem er die ersten drei Jahre im Kloster mindestens einmal am Tag am Fenster gestanden hatte, in der Hoffnung, der Wagen seines Vaters würde die Auffahrt herauffahren, um ihn abzuholen, war er sich inzwischen sicher, dass man ihn vergessen hatte. Sein kleines Kinderherz hatte aufgehört zu weinen, und er hatte gelernt, zu gehorchen und zu dienen. Vor zwei Jahren hatte er die letzten Hiebe mit dem Rohrstock bekommen, als er zum zehnten Mal versucht hatte abzuhauen. Inzwischen hatte er sich gefügt, besuchte vormittags die Schule direkt neben dem Kloster und feudelte nachmittags die Gänge des Hospizes oder fuhr die Halbtoten, wie er sie nannte, durch den Klostergarten.

Das Franziskanerinnenkloster hatte vor über hundert Jahren über eine eigene Schmiede, eine Bäckerei, eine Mühle, ein Konventsgebäude und diverse Verwaltungshäuser verfügt. Heute war ein Großteil der Gebäude verfallen, doch Lukas kannte die Ruinen wie seine Westentasche. Manchmal schlüpfte er nachts aus seinem Zimmer, setzte sich auf die jahrhundertealten Steinmauern und beobachtete den Sternenhimmel. Stundenlang saß er da und wartete auf eine Sternschnuppe. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, dass er sich etwas wünschen könne, wenn er eine Sternschnuppe sah, und dass dieser Wunsch ganz bestimmt in Erfüllung gehen würde. Er wusste nicht mehr, wie oft er sich gewünscht hatte, dass er wieder nach Hause durfte, aber eines wusste er ganz genau: Das mit den Sternschnuppen funktionierte nicht.

Auch heute Nachmittag putzte Lukas im Kloster. Er wischte gerade den Kreuzgang, als ein neuer Halbtoter eintraf, ein alter Priester. Eine Nonne schob den gebeugt in einem Rollstuhl sitzenden alten Mann an ihm vorbei, direkt in den Nordflügel.

Die fünfzehn Schwestern, die das Hospiz leiteten, hatten ihre Zellen im Südflügel hinter dem Arkadengang, in dessen Mitte ein kleiner Garten angelegt war, in dem ein plätschernder Brunnen stand. Noch vor hundert Jahren hatte dieser Flügel aus einem einzigen Dormitorium bestanden, einem Schlafsaal, der mit Heu ausgelegt gewesen war. Später hatte man das große Dormitorium durch Vorhänge oder Holzwände in einzelne Bettstellen unterteilt, und heute gab es dort viele kleine Einzelzimmer. Allerdings war gerade mal ein Drittel davon belegt. Im Nordflügel befand sich das Refektorium des Klosters, ein großer Speisesaal, wo es meist Suppe und Breispeisen für die zahnlosen Patienten gab. Außerdem lagen im Nordflügel ein paar kleine Zimmer, doch nur eines davon war bewohnt: von Lukas. Und dort wurde nun offensichtlich auch der alte Priester einquartiert. Komisch, dachte Lukas, denn normalerweise lagen die Patienten im Hospiz. In diesem Moment rief ihn eine Schwester und trug ihm auf, Bettwäsche zu holen.

Als Lukas mit der weißen Baumwollwäsche in der Hand an die Tür klopfte und eintrat, sah ihn der alte Mann an. Er trug eine weiße Tunika und darüber einen schwarzen Kapuzenmantel. Das Gesicht hatte nichts Freundliches an sich, die Mundwinkel waren nach unten gezogen, die schmalen, aufgesprungenen Lippen waren fast nicht zu sehen, und die Wangen, fahl und faltig, erinnerten an die hängenden Lefzen einer Bulldogge. Wenn er jetzt noch die schwarze Kapuze aufsetzt, sieht er aus wie der Sensenmann, dachte Lukas.

»Jetzt steh da nicht dumm herum, Junge, gib schon her.« Die Nonne riss ihm die Bettwäsche aus der Hand und machte sich daran, das Bett zu beziehen. »Was ist denn? Los, geh an die Arbeit. Abmarsch.«

Lukas verließ das Zimmer des Neuankömmlings, ging zurück zu seinem Eimer und dem Feudel, tauchte den Mob in das schmutzige Wasser und wischte weiter von links nach rechts, von rechts nach links. Ein klein wenig freute er sich, dass er nun nicht mehr allein war, sondern einen Nachbarn bekommen hatte.