KAPITEL 9
Büro. Papierkram. Haftnotizen. Ich machte die Tür
zu meinem Büro zu und öffnete eine neue Schachtel Zigaretten.
Rauchen kann die Spermien schädigen und die
Fruchtbarkeit verringern. Diese Warnhinweise gingen mir auf die
Nerven. Ich dachte daran, was Antonin Artaud über Rauschgift
geschrieben hatte: »Es spielt keine Rolle, welche Mittel man
einsetzt, um sich zugrunde zu richten: Das geht die Gesellschaft
nichts an.«
Ich warf einen kurzen Blick auf
die gelben Aufkleber, die auf den Aktenbündeln klebten. »11 Uhr:
Dumayet anrufen«, »Mittags: Dumayet« und wieder: »14 Uhr: Dumayet.
DRINGEND!« Nathalie Dumayet, Polizeidirektorin und
Abteilungsleiterin, war die Chefin aller Ermittlungsgruppen bei der
Pariser Mordkommission. Ich sah auf meine Armbanduhr: nicht einmal
15 Uhr. Zu früh, um mit dem Dragoner Tee zu trinken.
Ich zog meinen Regenmantel aus
und blätterte die Unterlagen durch. Ich fand darin nicht, was ich
mir erhoffte. Ich hörte die Mailbox meines Handys und meines
Telefons ab. Nichts. Ich rief Malaspey an.
»Du hast nicht zurückgerufen«,
rügte ich ihn. »Bist du bei den Zigeunern weitergekommen?«
»Ich komme gerade von der
Universität Nanterre. Ich habe mit einem Professor für Romani, der
Sprache der Roma, gesprochen. Du hattest recht. Die Sache mit den
Schuhen ist ein typisches Roma-Ritual. Laut dem Professor könnte
unser Täter dem Opfer die Schuhe ausgezogen haben, um zu
verhindern, dass er von dessen Geist verfolgt wird. Ein
Zigeuner-Trick.«
»Okay. Mach eine Recherche in
der Datenbank der Kripo. Notier dir alle Roma, die in letzter Zeit
im 94. Revier an bewaffneten Überfällen beteiligt waren.«
»Schon erledigt. Wir arbeiten
auch mit dem Hauptkommissariat in Créteil zusammen, um Näheres über
die lokalen ethnischen Minderheiten rauszukriegen.«
»Wo bist du jetzt?«
»Auf der Seine-Uferstraße. Ich
bin gleich in der Firma.«
Ich legte die Münze mit dem
Erzengel Michael auf die Akten.
»Schau bei mir vorbei, bevor du
mit deinem Protokoll beginnst. Ich hab was für dich.«
Ich legte auf und ließ Foucault
kommen. Während ich die Delikte der letzten Nacht durchging,
klopfte es an die Tür. Mein Gruppenleiter glich einem verschmitzten
Halbstarken. Lockiges Haar, schmale Schultern, in eine enge
Bomberjacke gezwängt, strahlendes Lächeln – Foucault war Roger
Daltrey, dem Sänger der Gruppe The Who, die am Woodstock-Festival
teilgenommen hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten.
Mein Stellvertreter legte
gleich in düsterem Ton los und wollte auf den Selbstmord von Luc
eingehen. Mit einer Handbewegung unterbrach ich ihn.
»Du musst mir helfen, bei einer
speziellen Sache.«
»Worum geht’s?«
»Ich will, dass du den Jungs
von Luc auf den Zahn fühlst. Mit was für Fällen sie sich zuletzt
beschäftigt haben.«
Er nickte, doch er blickte
skeptisch drein.
»Das wird heikel.«
»Lad sie zum Essen ein.
Spendier ihnen was zu trinken. Schleich dich in ihr Vertrauen
ein.«
»Schau mer mal.«
Doudou hatte mir gestern eine
Kostprobe des guten Willens von Lucs Team geliefert. Ich fuhr
fort:
»Hör zu. Niemand kennt Luc
besser als ich. Es muss einen äußeren Anlass für sein Tun geben.
Etwas Unerklärliches, was ihm zugestoßen ist und nichts mit einer
Depression oder einer vorübergehenden Verstimmung zu tun
hat.«
»Zum Beispiel?«
»Keine Ahnung. Aber ich möchte
wissen, ob er nicht an einem besonderen Fall gearbeitet hat.«
»Okay. Ist das alles?«
»Nein. Stell sein Privatleben
auf den Kopf. Konten, Kredite, Steuerbescheide. Alles. Beschaff dir
seine Telefonrechnungen: Handy, Büro, zu Hause. Sämtliche Anrufe in
den letzten drei Monaten.«
»Bist du sicher?«
»Ich will sichergehen, dass Luc
kein Geheimnis hatte. Ein Doppelleben oder etwas in der Art.«
»Luc ein Doppelleben?«
Foucault hielt die Hände in den
Taschen seines Blousons und sah mich verblüfft an.
»Wende dich auch ans Zentrum
für psychologische Beurteilung der Kripo. Irgendwo muss es eine
Akte über Luc geben. Du gehst natürlich so diskret wie möglich
vor.«
»Und die Internen
Ermittler?«
»Du musst schneller sein als
sie, und halt mich auf dem Laufenden.«
Foucault verdrückte sich,
nachdem er immer skeptischer dreingeschaut hatte. Auch ich glaubte
nicht, dass diese Nachforschungen viel bringen würden. Wenn Luc
etwas zu verbergen hatte, dann hatte er selbst alle Spuren
verwischt. Nichts ist schlimmer, als einen Jäger zu jagen.
Die Tür ging nicht wieder zu:
Malaspey stand auf der Schwelle. Er war stämmig, trug Wollkleidung,
die dem arktischen Winter getrotzt hätte, und eine indische kleine
Umhängetasche. Zum Pferdeschwanz gebundenes graues Haar und eine
Pfeife im Mund vervollständigten das Bild. Er erinnerte eher an
einen Berufsschullehrer als an einen Kriminalpolizisten, der
bereits fünfzehn Jahre auf dem Buckel hatte.
»Sie wollen mich
sprechen?«
Die Pfeife bewirkte, dass er
die Hälfte der Wörter verschluckte. Ich zog eine Schublade auf,
nahm einen durchsichtigen Beutel heraus und steckte die Münze mit
dem Bildnis des Erzengel Michaels hinein.
»Sieh zu, was du darüber
herausfinden kannst«, sagte ich, während ich ihm den Beutel zuwarf.
»Wende dich an Experten für Münzen. Ich möchte die genaue Herkunft
der Münze wissen.«
Malaspey betrachtete den Beutel
von allen Seiten.
»Was ist das?«
»Genau das will ich wissen. Geh
zu den Fachleuten. Gras die Universitäten ab.«
»Na prima.«
Er steckte die Münze in die
Tasche und verschwand. Ich verbrachte noch eine Stunde damit, die
Dokumente in meinem Büro zu sichten. Nichts von Interesse. Um 17
Uhr stand ich von meinem Schreibtisch auf, um meine Vorgesetzte
aufzusuchen.
Ich klopfte. Man forderte mich
auf einzutreten. Gereinigte Luft, in der ein leichter Weihrauchduft
hing – was mich an mein eigenes Büro erinnerte.
Nathalie Dumayet war eine
knallharte Polizistin, was man ihr jedoch nicht ansah. Sie war um
die Vierzig, hatte einen blassen Teint und eine Model-Figur und
trug ihren Bubikopf immer zerzaust. Eine Schönheit, deren kantige
Schroffheit durch große grüne Augen, die einen sanftmütig
anblickten, abgemildert wurde. Immer schick, ja ausgesprochen
modisch. Sie stand auf italienische Marken, die man in der
Kripozentrale nicht gewohnt war.
So viel zu ihrem Äußeren. Im
Innern dagegen passte Dumayet bestens zur Kripo. Sie war hart,
zynisch und verbissen. Sie hatte zunächst sehr erfolgreich im
Dezernat für Terrorismusbekämpfung und dann im Rauschgiftdezernat
gearbeitet. Zwei Dinge waren bezeichnend für ihre Persönlichkeit.
Zum einen ihre Brille mit einem biegsamen, unzerbrechlichen
Gestell, das man in der Hand zusammendrücken konnte und das
sogleich wieder seine ursprüngliche Form annahm. Dumayet war
ähnlich: Ihre geschmeidige Art täuschte darüber hinweg, dass sie
nichts vergaß und ihr Ziel nie aus den Augen verlor.
Das zweite bezeichnende Detail
waren ihre Fingerknöchel, spitz und vorstehend und wie die feinen
Hämmerchen der Diamantenschleifer, die so hart sind, dass sie die
Edelsteine zertrümmern können.
»Darf ich Ihnen einen
Keemun-Tee anbieten?«, fragte sie im Aufstehen.
»Danke, nein.«
»Ich mach mir trotzdem
einen.«
Sie hantierte an einem
Wasserkessel und einer Teekanne. Ihre Handbewegungen waren gemessen
und feierlich wie die einer Hohepriesterin. Ihr Ritual hatte etwas
Antikes und Religiöses. Mir fiel das Gerücht ein, wonach Dumayet
Swingerclubs frequentierte. Wahr oder falsch? Gerüchten misstraute
ich grundsätzlich und diesem Gerücht ganz besonders.
»Sie dürfen rauchen, wenn Sie
wollen.«
Ich beugte mich vor, zog meine
Schachtel Camel aber nicht heraus. Ich konnte mich nicht
entspannen, denn die »dringende Einbestellung« verhieß nichts
Gutes.
»Ahnen Sie, weshalb ich Sie
hergebeten habe?«
»Nein.«
»Setzen Sie sich.«
Sie fuchtelte mit einer Tasse
vor mir:
»Wir sind alle erschüttert,
Durey.«
Ich setzte mich hin und
schwieg.
»Ein Polizist wie Luc, den
nichts umhauen konnte. Das ist ein Schock.«
»Haben Sie mir etwas
vorzuwerfen?«
Die brutale Direktheit meiner
Frage entlockte ihr ein Lächeln.
»Wie weit sind Sie im Fall
Perreux?«
Ich dachte an meinen Riecher,
der mich noch nie getrogen hatte. Aber es war noch zu früh, um zu
jubeln.
»Wir machen Fortschritte.
Vielleicht Roma.«
»Haben Sie Beweise?«
»Vermutungen.«
»Vorsicht, Durey. Keine
ethnischen Vorurteile!«
»Deshalb halt ich ja den Mund.
Lassen Sie mir etwas Zeit.«
Sie nickte gedankenverloren.
All dies war nur ein Vorspiel.
»Kennen Sie Coudenceau?«
»Philippe Coudenceau?«
»Interne Ermittlung,
Disziplinarabteilung. Offenbar arbeitete Soubeyras an einem
sensiblen Fall.«
»Was soll das heißen,
sensibel?«
»Ich weiß nichts Genaueres. Er
hat mich heute Morgen angerufen. Gerade hat er noch einmal
angerufen.«
Ich sagte nichts. Coudenceau
war einer jener Bluthunde, die erst dann zufrieden waren, wenn sie
einen Kollegen drankriegten. Ein Schreibtischhengst, dem es Spaß
machte, den Ermittlern an der Front das Rückgrat zu brechen und sie
zu demütigen.
»Er schreibt den Bericht über
Luc. Er führt eine Routineuntersuchung durch.«
»Wie immer.«
»Er hat gesagt, jemand von der
Kripo wäre bereits am Ball. Heute Nachmittag hat jemand bei Lucs
Bank angerufen. Er hatte keine allzu große Mühe, den Schnüffler zu
identifizieren.«
Foucault hatte keine Zeit
verloren. Aber Diskretion war seine Sache nicht. Sie sah mich an.
Blitzartig verhärteten sich ihre Augen zu Diamanten:
»Was suchen Sie, Durey?«
»Das Gleiche, was die Typen von
der Internen suchen. Was alle suchen. Ich will verstehen, warum Luc
das getan hat.«
»Für eine Depression gibt es
oft keine äußere Erklärung.«
»Nichts deutet darauf hin, dass
Luc depressiv war.« Ich sprach lauter. »Er hat zwei Kinder und eine
Frau, er hätte sie nie einfach so im Stich gelassen. Irgendetwas
muss ihn aus der Bahn geworfen haben!«
Dumayet griff nach ihrer Tasse
und schnaufte, ohne etwas darauf zu erwidern.
»Es gibt noch etwas anderes«,
fuhr ich leiser fort. »Luc ist Katholik.«
»Wir sind alle
katholisch.«
»Nicht wie er. Nicht wie ich.
Wir gehen jeden Sonntag in die Kirche. Wir beten jeden Morgen. Es
widerspricht unserem Glauben, verstehen Sie? Luc hat mit seiner Tat
nicht nur dem Leben entsagt, sondern auch der ewigen Seligkeit. Ich
muss herausfinden, was ihn zu diesem Schritt bewogen hat. Aber ich
versichere Ihnen, dass es die laufenden Ermittlungen nicht
beeinträchtigen wird.«
Die Kommissarin trank einen
Schluck, wie ein Kätzchen.
»Wo waren Sie heute Morgen?«,
fragte sie, während sie behutsam die Tasse abstellte.
»Auf dem Lande«, sagte ich
zögernd, »Sachen überprüfen.«
»In Vernay?«
Ich steckte es schweigend weg.
Sie wandte ihren Blick auf das halboffene Oberlicht, das auf die
Seine ging. Es wurde bereits dunkel. Der Fluss schien aus
erstarrtem Beton zu bestehen.
»Levain-Pahut, Lucs Chef, hat
mich heute Mittag kontaktiert. Die Gendarmen von Chartres haben ihn
angerufen, nachdem sie einen Anruf erhalten hatten. Ein Arzt der
Städtischen Klinik war von einem Polizisten aus Paris aufgesucht
worden. Ein hochgewachsener Typ, der einen ziemlich erregten
Eindruck machte. Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Ich neigte mich unvermittelt
vor und hielt mich an der Kante des Schreibtischs fest:
»Luc ist mein bester Freund.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Ich will kapieren, was ihn zu dieser
Verzweiflungstat getrieben hat!«
»Nichts kann ihn uns
zurückgeben, Durey.«
»Er ist noch nicht tot.«
»Sie wissen genau, was ich
meine.«
»Es ist Ihnen also lieber, dass
diese Schnüffler von der Internen Ermittlung die Arbeit
machen?«
»Die kennen sich aus.«
»Sie wissen, wie man gegen
Polizisten ermittelt, die drogen- oder spielsüchtig sind oder sich
nebenbei als Zuhälter verdingen. Luc hatte ganze andere
Beweggründe!«
»Welche?«, fragte sie in
ironischem Ton.
»Ich weiß es nicht«, räumte ich
ein, während ich meinen Stuhl zurückschob. »Noch nicht. Aber es
muss einen triftigen Grund für diesen Selbstmordversuch geben.
Etwas ganz und gar Außergewöhnliches, das ich herausfinden
will.«
Sie drehte sich langsam auf
ihrem Stuhl. In einer sinnlichen Bewegung streckte sie die Beine
aus und legte ihre Pumps auf den Heizkörper.
»Es gibt keinen Mord, kein
Ermittlungsverfahren. All das hat mit unserem Dezernat nichts zu
tun. Und Sie sind nicht der richtige Mann am richtigen
Platz.«
»Luc ist für mich wie ein
Bruder.«
»Genau das ist der Punkt. Sie
sind gereizt und angespannt.«
»Soll ich vielleicht Urlaub
nehmen?«
Sie war mir noch nie so
gefühllos und gleichgültig vorgekommen.
»Zwei Tage. Achtundvierzig
Stunden lang lassen Sie alles Übrige liegen und sehen zu, was Sie
herausfinden können. Dann machen Sie mit Ihren alten Fällen
weiter.«
»Danke.«
Ich stand auf und ging zur Tür.
Als ich die Klinke herunterdrückte, sagte sie:
»Noch etwas, Durey. Sie sind
nicht der Einzige, der trauert. Auch ich habe Soubeyras gut
gekannt, als er bei uns war.«
Die Bemerkung stand für sich.
Aber unwillkürlich warf ich einen Blick über meine Schulter. Ein
weiteres Mal erhielt ich die Bestätigung, dass ich die Frauen nie
verstehen werde.
Nathalie Dumayet, die Frau, die
die Mordkommission mit eiserner Hand leitete, die Polizistin, die
von islamistischen Terroristen der GIA Geständnisse erzwungen und
den Ring afghanischer Heroinhändler zerschlagen hatte, weinte still
mit gesenktem Gesicht.